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Erwiderung auf die Replik von Gita Neumann zu meinem Aufsatz über „Sterbehilfe: Bundestag contra Bundesverfassungsgericht“
von Norbert Groeben
Ich finde es ausgesprochen misslich, wenn innerhalb einer liberal-humanistischen Position Kontroversen mit einem aggressiven Ton aufgemacht werden, der im Zweifel dieser Position schadet und der nicht-liberalen Dynamik einer sich christlich nennenden Mehrheitsfraktion nützt. Denn Gita Neumann stimmt im Bemühen darum, die Autonomie des rational Sterbewilligen am Lebensende zu schützen, völlig mit mir überein.[1] Unterschiede gibt es lediglich in Bezug auf den Weg zu diesem übereinstimmenden Ziel – Unterschiede, die durch überpointierte, z.T. verzerrende Darstellung unnötig dramatisiert werden. Ich möchte daher einige dieser Verzerrungen korrigieren und in einen Vorschlag zur Güte überführen:
Es ist nicht korrekt, dass ich (wie z.B. in der Schweiz realisiert) jegliche gesetzliche Regelung zur Sterbehilfe (in der BRD) ablehne. Im Gegenteil: Ich gehe davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil das Recht und die Pflicht des Staates, die Bürger*innen vor einem irrationalen sog. Affekt-Suizid zu schützen, explizit konstatiert hat.
Dementsprechend habe ich in meinem Aufsatz sogar präzise Vorschläge dazu gemacht, nämlich z.B. Nachweis der Konstanz eines Suizidwunsches für das Lebensende durch eine jährlich erneuerte Sterbeverfügung oder eine hausärztliche Attestierung.
Allerdings reicht ein solcher Nachweis als Indikator dafür, dass ein Suizid-Entschluss wohlüberlegt und als freie Willensentscheidung zu akzeptieren ist, völlig aus. Alles über diesen formalen Indikator Hinausgehende würde dem BVerfG-Urteil zuwiderlaufen, das ausdrücklich eine inhaltliche Bewertung nach allgemeinen Wertmaßstäben etc. als unzulässig erklärt hat.
Die Einführung einer Beratungspflicht als Voraussetzung für einen ärztlich-assistierten Suizid bedeutet nun aber, psychologisch unausweichlich, für Suizidwillige die rechtfertigende Darlegung ihrer Motive, sei es innerhalb oder außerhalb von allgemeinen Wertmaßstäben. Das stimmt m.E. nicht mit dem vom Bundesverfassungsgericht festgehaltenen Recht auf Autonomie als nicht zu be- und hinterfragende subjektiv-individuelle Lebensbewertung überein.
Da alle drei vorliegenden Gesetzentwürfe diese Beratungspflicht vorsehen, habe ich an dieser Stelle ein Unterlaufen des BVerfG-Urteils konstatiert. Das schließt keineswegs die differenzierende Bewertung aus, dass z.B. der Entwurf, weiterhin von einem Strafrechts-Paragraphen auszugehen (Castelucci et al.), dem Bundesverfassungsgericht eindeutig widerspricht – was ich auch (a fortiori) zum Ausdruck gebracht habe.
Dass meine Beispiele von prominenten Suiziden im Buch Sterbenswille ohne ärztliche Assistenz realisiert wurden, ist kein Wunder; sie fanden vor jeder Legalisierung von Sterbehilfe statt. Die Beispielgebung diente auch in erster Linie dazu, die möglichen Varianten eines rationalen Suizids außerhalb von letalen Krankheitszuständen deutlich zu machen (also jenseits des Leidens- auch den Bilanz-, Präventiv- und Symbiose-Suizid).
Diese Beispiele widersprechen daher auch nicht meiner Position, dass in Zukunft rationale Suizide mit ärztlicher Assistenz realisiert werden (sollten). Denn nur diese Assistenz garantiert ein friedliches Lebensende, während die Alternativen ohne solchen ärztlichen Beistand (Erhängen, zu Tode stürzen etc.) berechtigterweise ‚Brutal-Suizide‘ genannt worden sind.
Es geht also zentral darum, für den ärztlich-assistierten Suizid ein Gleichgewicht von staatlicher Schutzfunktion und individueller Autonomie am Lebensende zu erreichen. Wenn man über den Nachweis eines konstanten, wohlüberlegten Suizidwunsches hinaus noch zusätzlich eine Beratungspflicht für alle einführt, sehe ich darin ein Übergewicht der Schutzfunktion, wie sie dem Sinn und Buchstaben des BVerfG-Urteils nicht entspricht.
Das schließt selbstverständlich nicht Beratungsangebote möglichst umfangreicher und diversifizierter Art aus. Im Gegenteil, sie sollten zur Suizidprävention (genauso wie die palliative Versorgung) ausgebaut werden, auf dass die Rationalität von Suizid-Entscheidungen auch als gesellschaftliches Phänomen substanziell gestützt wird.
Deshalb mein Konsensvorschlag: Arbeiten wir doch gemeinsam daran, dass im (liberalen) Entwurf von Helling-Plahr et al. die Eingangsbestimmung des § 4 (1) uneingeschränkt gilt und bestehen bleibt (nämlich „das Recht, sich zu Fragen der Suizidhilfe beraten zu lassen“) – und nicht im§ 6 (3) de facto zu einer Pflicht transformiert wird („Der Arzt hat sich durch Vorlage der Bescheinigung nach § 4 Absatz 7 nachweisen zu lassen, dass sich die suizidwillige Person höchstens 8 Wochen zuvor in einer Beratungsstelle hat beraten lassen.“)
Das wäre möglich durch folgende Umformulierung des § 6 Absatz 3: „Der Arzt hat sich vom freien Willen zum Suizid zu überzeugen, zum Beispiel durch eine jährlich erneuerte Patientenverfügung (einschließlich der Präferenz für einen Suizid am Lebensende) oder ein entsprechendes hausärztliches Attest; hilfsweise, wenn ein solcher Nachweis nicht vorliegt, durch eine Bescheinigung über eine Beratung nach § 4 (7), die nicht mehr als zwei Monate zurückliegt.“
Eine solche Regelung würde ein Gleichgewicht zwischen staatlicher Schutzfunktion und individueller Autonomie realisieren, indem die Beratungspflicht auf diejenigen beschränkt wird, die sich ersichtlich noch nicht eingehend (genug) mit dem Problem eines selbstbestimmten Lebensendes auseinandersetzt haben und daher in der Tat einer eingehenderen Beratung bedürfen.
Wie wär‘s: Versuchen wir gemeinsam, den Entwurf von Helling-Plahr et al. in diese Richtung noch zu verbessern?
Anmerkungen
[1] Vgl. dazu Gita Neumann: Suizidhilfe-Gesetzentwürfe im Bundestag – eine differenzierte Bewertung. Replik zu Norbert Groeben und einer pauschalen Ablehnung. In: humanismus aktuell. Online unter https://humanismus-aktuell.de/suizidhilfe-gesetzentwuerfe-im-bundestag-replik/ sowie den dieser Replik vorausgegangenen Aufsatz des Autors: Sterbehilfe: Bundestag contra Bundesverfassungsgericht! Wie der Bundestag nach dem besten Weg sucht, das Urteil des BVerfG zu unterlaufen. In: humanismus aktuell. Online unter https://humanismus-aktuell.de/sterbehilfe-bundestag-contra-bundesverfassungsgericht/ (Zugriff: 28.09.2022).
Der Debattenbeitrag ist auch als zitierfähiges PDF verfügbar.
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