Suizidhilfe-Gesetzentwürfe im Bundestag – eine differenzierte Bewertung

 

 

 

 

 

 

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Suizidhilfe-Gesetzentwürfe im Bundestag – eine differenzierte Bewertung

Replik zu Norbert Groeben und einer pauschalen Ablehnung

von Gita Neumann

Die Meinung ist selbstverständlich legitim, es bedürfte nach der bahnbrechenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 26. Februar 2020 nunmehr keiner gesetzlichen Regelung der Hilfe zur Selbsttötung. Zumal dieses Recht nun vor allem durch spezialisierte Vereine gewährleistet sei. Deren Mitglieder könnten die entsprechende Leistung nach Beantragung ja in Anspruch nehmen – für einen mittleren bis hohen vierstelligen Euro-Betrag bei aufwändigem, wochen- bis monatelangem Prozedere inklusive rechtlicher Begleitung, obligatorischen Gesprächen, ärztlicher Konsultation und verschiedenen Dokumentationsverpflichtungen[1]. Die Grundposition, dass der Staat sich da nicht mit Regularien einzumischen habe, wird von Norbert Groeben geteilt. Sein Aufsatz trägt den bezeichnenden Titel „Sterbehilfe: Bundestag contra Bundesverfassungsgericht!“[2]

Groeben erhebt darin den Vorwurf, alle drei im Bundestag vorgelegten Gesetzentwürfe seien per se entwürdigend, autonomiefeindlich und damit verfassungswidrig. Dies wird auch von den betroffenen Sterbehilfevereinen betont im weitgehenden Einklang mit den meisten – wenn auch nicht allen – Vertretern der säkularen „Szene“.

Welche innere Unstimmigkeit, Haltung, Voraussetzung und auch eindeutige Falschdarstellung verbergen sich hinter der Schwäche, nur eine pauschalisierte statt einer differenzierten Betrachtung vorzunehmen? Dieser Frage soll hier nachgegangen werden. Sie ist über eine Replik zu Groeben hinaus von übergeordnetem Interesse.

Denn jeder gesetzliche Regelungsbedarf zur Suizidhilfe wird etwa im „Berliner Appell 2022“[3] von den Sterbehilfeorganisationen zusammen mit der Giordano Bruno Stiftung (gbs) sowie vom Zentralrat der Konfessionsfreien[4] als entmündigend-paternalistisch abgelehnt. Der Humanistische Verband Deutschlands schließt sich dem ausdrücklich nicht an, sondern vertritt im säkularen Spektrum eine eigenständige Position, die als moderat gilt.[5] In diesem Sinne räumt zunächst auch Norbert Groeben ein, es ließe sich aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts durchaus eine „Gesetzgebung ableiten, durch die das Recht ‚des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen‘ (BVerfG 2020a, I., 1.b), gewährleistet wird.“[6] Aber wie bereits sein Aufsatztitel anzeigt, vermag er einen solchen Anspruch bei keinem der Entwürfe im laufenden Gesetzgebungsverfahren zu erkennen.

Er legt dabei an alle gleichermaßen ein einziges von ihm strikt abgelehntes Kriterium zugrunde, nämlich den angeblichen Zwang zu entwürdigenden Beratungsgesprächen. Von diesen nimmt er völlig unbegründet zudem an, ein Weg darüber stünde nur schwerkranken Suizidwilligen zur Verfügung, um sie über noch bestehende Behandlungsmöglichkeiten aufzuklären. Groeben zieht daraus den Fehlschluss, ausgerechnet die von ihm als Ideal angesehenen sogenannten Bilanzsuizide würden dabei außen vor gelassen. Sein Spezifikum ist zudem, bei den Entwürfen überhaupt nicht zwischen einem schikanösen, realistisch drohenden neuen Strafrechtsparagrafen 217 und einem liberalen Rechtsrahmen zur ärztlichen Suizidhilfe unterscheiden zu können oder zu wollen.

Groebens zentrales Anliegen: Verteidigung rationaler Suizide

Der Autor denkt vorrangig an Suizidenten mit Prominenten- beziehungsweise höherem Bildungs- und Sozialstatus – er verweist ausschließlich auf dementsprechende reale Fallbeispiele in seinem Buch Sterbenswille.[7] Darin habe er, neben dem von schwerer Krankheit ausgehenden Leidens-Suizid, „die Varianten eines Präventiv-, Bilanz- und Symbiose-Suizids expliziert“.[8] Alle dort aufgeführten Persönlichkeiten sind nach reflektierter und rationaler Bilanzziehung fest zum Freitod entschlossen gewesen. In diesen Fällen dürfte Suizidwilligen laut Groeben keinesfalls ein staatlich verordnetes Beratungsgespräch zugemutet werden. Ein solches vermag er sich nur als entwürdigend durch eine aufgenötigte Rechtfertigungs- und erzwungene Begründungspflicht vorzustellen.

Beim – in seinem Beitrag fiktiv vorgestellten – Beispiel für einen Symbiose-Suizid hat sich der Autor in die Höhen gefühlvoller Romantik verstiegen: „Wenn etwa eine Frau mit ihrem unheilbar erkrankten Mann gemeinsam in den Tod gehen will, manifestiert sich darin in der Regel eine lebenslange Gemeinsamkeit, die auch im Sterben nicht verloren gehen soll. Sie haben zum Beispiel nie ihren Hochzeitstag gefeiert, sondern nur den Jahrestag jener Entscheidung zu einer gemeinsamen Wohnung …auf der Burgruine, die sich in den letzten 50 Jahren überhaupt nicht verändert hat, das ist der Vorteil von Ruinen, dass sie in ihrem Verfallszustand bewahrt werden …. Dort hat sie ihm, mit dem schweifenden Blick über die sanften Hügel ihrer gemeinsamen Wahlheimat, vor zehn Jahren zum ersten Mal erklärt, dass sie im Falle eines Falles ohne ihn nicht weiterleben möchte, nicht weiterleben kann …“[9]

Konfusion bei verpflichtenden Beratungen

Eins wird an diesem „symbiotischen Sterbenswunsch“ tatsächlich deutlich: Wie stark in gesetzlich vorgesehenen Beratungsstellen verinnerlicht werden muss, dass die Nachfrage nach Suizidhilfe nicht nach allgemeinen Wertvorstellungen oder objektiver Vernünftigkeit bewertet werden darf. Denn das widerspräche der eindeutigen Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts von der generellen Unzulässigkeit, freitodwilligen Personen eine überzeugende Begründung oder Rechtfertigung abzuverlangen. Dabei wäre hilfesuchenden Klient*innen mit Suizidgedanken oder bereits ausgereiftem Sterbewillen die Sorge grundsätzlich zu nehmen, sich unfreiwillig offenbaren zu müssen.

Für den von Katrin Helling-Plahr et al. initiierten liberalen Gesetzentwurf[10] vermag Groeben das dort betonte Prinzip der Freiwilligkeit zunächst sogar anzuerkennen, denn darin hieße es „in § 4 (1))“, wie er einräumt: „Jeder […] hat das Recht, sich zu Fragen der Suizidhilfe beraten zu lassen.“ Es handelt sich dabei um das Gegenmodell zu dem ebenfalls vorliegenden Gesetzentwurf von Lars Castellucci und Kerstin Kappert-Gonther et al., die einen neuen Verbotsparagrafem 217 StGB zur Suizidhilfe einführen wollen.

Stattdessen sollen gemäß Helling-Plahr et al. die Klient*innen in Beratungsstellen beim eventuell noch anstehenden Prozess einer autonomen Entscheidungsfindung unterstützt oder auf Wunsch einfach nur sachgerecht über bestehende Freitodhilfen aufgeklärt werden. Ein nicht selten vorkommendes Schwanken zwischen Lebenswille und Todeswunsch wäre im humanistischen Sinn von vertrauenswürdigen Gesprächspartnern zu begleiten. Das heißt, mit einem flächendeckenden, von allen betroffenen Bürger*innen kostenfrei nutzbaren Netz von Anlaufstellen könnte endlich der herrschende Gegensatz zwischen Suizidhilfe und -prävention überwunden werden. Eine Verpflichtung zur Beratung gäbe es dann, wenn jemand schon fest entschlossen ist, Hilfe zum Suizid zu beanspruchen und zur Vorlage beim verschreibenden Arzt einen entsprechenden Beratungsschein benötigt. Dieser könnte, um jeden Rechtfertigungsdruck zu vermeiden, bei Bedarf in einer verfassungskonformen Beratungspraxis schon fertig auf dem Tisch liegen. So wäre von Anfang an ein respektvolles und völlig ergebnisoffenes Gespräch zu führen, in entsprechenden Fällen eine Information etwa über Schuldner- oder Suchthilfeangebote zu vermitteln oder einfach nur zuzuhören, was die Klient*innen mitteilen möchten.

Doch das wiederum hält Groeben für gar nicht denkbar, sondern vielmehr für skandalös, wie die alte Dame mit Wunsch nach Hilfe zum SymbioseSuizid sich vor staatlich verordneten, bohrenden Fragestellungen zu fürchten habe, wo das alles doch viel „zu persönlich, zu intim sei.“[11] Allerdings würden ja auch die in Groebens Buch mit anschaulichen Biografien versehenen  Freitode (etwa Hannelore Kohls Suizid durch Einnahme ihrer krankheitsbedingt zur Verfügung gestandenen Schlaf- und Schmerzmittel oder Gunter Sachs‘ „Präventivsuizid“ durch Erschießen mit seiner eigenen Waffe) überhaupt keiner Beratungspflicht unterliegen. Denn bekanntlich ist nicht der Suizid selbst, sondern ausschließlich der zu regelnde Zugang zur (geschäftsmäßigen bzw. ärztlichen) Hilfe und zu tödlichen Medikamenten,[12] vor allem zu Natrium-Pentobarbital, Gegenstand der Gesetzentwürfe. Das heißt: Ein Suizidwilliger kann jedes Gesprächsangebot selbstverständlich ausschlagen, müsste dann aber ziemlich sicher davon ausgehen, dass ein Dritter ihm keine Hilfe zu seiner Selbsttötung gewährt.

Regelung zur Absicherung von Suizidhilfe contra neuer 217 StGB

Die vom Autor in einem Atemzug pauschal verurteilten Gesetzesvorschläge weichen hinsichtlich liberaler Regularien oder paternalistisch-strenger Strafrechtsnormen sehr stark voneinander ab. Groeben nennt, Stand Sommer 2022, die drei vorliegenden Gesetzentwürfe „von überfraktionellen MdB-Gruppierungen (Castellucci et al.; Helling-Plahr et al.; Künast et al.)“.[13] Dabei bedeutet der von Lars Castellucci zusammen mit Kirsten Kapper-Gonther et al. vorgeschlagene erneuerte Paragraf 217 StGB, jeden (!) Suizidwilligen dem Generalverdacht mangelnder Freiwillens- und Reflexionsfähigkeit auszusetzen. Nur für diesen, den bei weitem restriktivsten und höchst wahrscheinlich erneut verfassungswidrigen Gesetzentwurf, erweist sich die Bewertung von Groeben als zutreffend. Er bezieht jedoch gleichermaßen auf alle drei, dass sie „de facto – wieder – das Recht auf einen selbstbestimmten Tod erheblich einschränken. Letztlich sucht der Bundestag auf diese Weise“, so seine These, „nur nach dem besten Weg, wie sich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts unterlaufen lässt.“[14]

Dies kann zumindest dem Entwurf von Katrin Helling-Plahr et al. nicht unterstellt werden. Dieser sieht im Übrigen keinerlei Sanktionen vor (auch keine Ordnungswidrigkeiten, Werbeverbote oder Einschränkungen für Suizidhilfevereine vor wie etwa der Entwurf von Renate Künast et al.) und gilt zurecht als der liberalste. Er wird auch als sozialliberaler Entwurf bezeichnet. Der FDP-Abgeordneten Helling-Plahr, rechtspolitische Sprecherin ihrer Fraktion, haben sich als Initiatoren Helge Lindh (SPD) und Dr. Petra Sitte (Linke) angeschlossen. Ihr Ziel formulieren die Initiator*innen in der Gesetzesbegründung folgendermaßen:

„Der vorliegende Gesetzentwurf soll das Recht auf einen selbstbestimmten Tod legislativ absichern … um Menschen, die ernstlich sterben
möchten und diesen Wunsch frei und eigenverantwortlich im Vollbesitz ihrer
geistigen Kräfte gebildet haben, ebenso wie Personen, die zur Hilfe bereit sind, einen klaren Rechtsrahmen zu bieten. Der Entwurf formuliert deshalb Voraussetzungen, damit sich Menschen zukünftig einer Begleitung bis zum Lebensende sicher sein können und auch Zugang zu Medikamenten zur Selbsttötung erhalten.“ [15]

Spannung zwischen Sterbehilfevereinen und gesetzlicher Regelung

Mit der Auffassung, jegliche Pflichtberatung als gesetzliche Voraussetzung, um ein tödlich wirkendes Medikament zu erhalten, sei nicht verfassungskonform und daher abzulehnen, steht Groeben nicht allein.[16] Dabei hat er unterschwellig wohl die Vorstellung, dass wohlmöglich die Suizidenten mit rationalem Sterbewunsch demnächst selbst sanktioniert würden, wenn sie bestimmte Sorgfaltskriterien nicht einhielten. Die Konfusion besteht in einem verbreiteten Kurzschluss, dass nämlich jede Selbsttötung, also auch wenn sie ohne fremde Hilfe auskommt, einer staatlichen Regelungswut anheimfallen würde.

Andererseits weist der Autor ausdrücklich darauf hin: „Zugleich hat das Bundesverfassungsgericht allerdings festgehalten, dass es das Recht und die Pflicht des Staates ist, das Leben seiner Bürger*innen zu schützen. Im Zusammenhang mit dem selbstbestimmten Sterben kann man darunter den Schutz vor Fehlentscheidungen (z.B. einem sog. Affekt-Suizid) verstehen.“[17] Wie nun aber ohne obligatorisches Beratungs- bzw. Informationsgespräch bestimmbar sein soll, ob der Suizidwunsch überhaupt wohlüberlegt und dauerhaft ist, bleibt ein umstrittenes Spannungsfeld.[18] Jedenfalls wird es bei einer legalen Hilfe zur Selbsttötung immer um die Grundvoraussetzung der Freiverantwortlichkeit gehen. Und diese liegt beim Suizidwilligen nach deutscher Rechtsprechung vor, wenn er die natürliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit für seinen Selbsttötungsentschluss besitzt, seine Entscheidung frei von Willensmängeln ist, sein Entschluss wohlerwogen und von einer inneren Festigkeit getragen ist.

Seine nach eigener Auffassung „unideologische Analyse der auf Autonomie ausgerichteten Stabilität von Sterbenswillen“, führt Groeben zur Konsequenz, dass der Gesetzgeber „in diametraler Abkehr von dem bisherigen Misstrauen als (ersten) Königsweg eine vertrauensvolle Kooperation mit Sterbehilfevereinen etablieren sollte.“[19] Diese wären durch ihre eigenen Sorgfaltskriterien – wozu ja durchaus teils strenge Verpflichtungen zu (Vor-) Gesprächen, Beratungen, Dokumentationen zählen! (G.N.) – am sichersten in der Lage, „die gebotene Schutzfunktion des Staates im institutionellen Rahmen zu erfüllen.“[20] Nach eigenen Angaben der in Deutschland einschlägigen Organisationen Dignitas, DGHS und Verein Sterbehilfe haben sie im vergangenen Jahr zusammengenommen rund 350 Selbsttötungen ermöglicht bzw. begleitet – in der Regel mit monatelangen Wartezeiten.[21] Wäre Groeben zufolge dieses doch relativ beschränkte Kontingent hinreichend für den von ihm ausersehenen Personenkreis? Sollten breite Bevölkerungsgruppen dafür ohne leicht zugängliche Beratungsstellen bleiben, die sie dabei unterstützen, Suizidhilfe von Ärzt*innen zu erlangen, ohne dass diese mit den Vereinen zusammenarbeiten müssen?

Groebens Verkennung der Gefahr eines „psychiatrisierten“ Suizidhilfeverbots

Der Wert der Groebenschen Freitoderzählungen mit ausführlichen Biographien liegt zweifellos darin, den Respekt vor diesen erhöht und die Aufmerksamkeit darauf gelenkt zu haben, dass es ernsthaft bilanzierter Suizide überhaupt gibt. Denn tatsächlich wird dieses Faktum beharrlich negiert oder marginalisiert von den zahlreichen Bundestagsabgeordneten[22], die sich lieber an die sehr besorgte Gegenposition des Nationalen Suizidpräventions-Programms[23] halten. Demzufolge werden die jährlich knapp 10.000 registrierten Suizide (die Dunkelziffer ist höher) und die zehn bis zwanzig Mal so vielen Versuche dazu in aller Regel (die Rede ist meist von ca. 90 %) durch Menschen begangen, die aufgrund ihrer Vulnerabilität, vorübergehenden Krisensituation oder psychischen Störung hochgradig gefährdet und unbedingt zu schützen seien.

Als Hauptvertreterin dieser Haltung gilt im Bundestag – neben Lars Castellucci, dem religionspolitischen Sprecher der SPD – die Psychiaterin und gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen, Kirsten Kappert-Gonther. Beide stehen für ein – ansonsten mehrheitlich uniongestützten – Suizidhilfeverbot in einem neuen, nur leicht geänderten Strafrechtsparagrafen 217 StGB. Der Entwurf konnte bisher die weit größte Anzahl von Mitzeichner*innen hinter sich versammeln, darunter fünf Minister*innen der Ampelkoalition. Er enthält in einem § 217a StGB zudem ein „Werbeverbot“ für Hilfen zur Selbsttötung.[24] Kappert-Gonther weist dabei auf die derzeit aktiven Sterbehilfevereine hin.

Ausnahmen von der Strafbarkeit in einem § 217 StGB Absatz 2 sollen für ärztliche Suizidhelfer nur gewährt werden, wenn der Suizident sich vorher über Monate lang eines unzumutbaren „Hürdenlaufs“ unterzogen hat, darunter Beratungsgespräche und langwierige Karenzzeiten. Wird die darin auch vorgegebene „Verfallsfrist“ überschritten, muss die Suche nach Mediziner*innen mit psychiatrischer Qualifikation von neuem losgehen. Denn im Fokus dieser Neueinführung eines § 217 StGB steht „zur Absicherung wirklicher Autonomie“[25], dass jeder (!) Suizidwillige zunächst wenigstens zwei psychiatrische Untersuchungen absolviert haben muss. Somit wäre die Entscheidung von einer Fachärzt*innengruppe abhängig, welche durchgängig eine rationale Verantwortlichkeit von Suiziden*innen in Frage stellt. Aber statt dieser verfassungswidrigen Zumutung entschieden entgegenzutreten, bleibt ihr paternalistische Zwangscharakter von Groeben unerklärlicherweise ignoriert – um ihn vorzugsweise verpflichtenden Beratungen in allen Entwürfen zuzuschreiben.

Das De-facto-Verbot der Suizidhilfe wird prominent unterstützt von Prof. Barbara Schneider,[26] Chefärztin einer Psychiatrieabteilung. Freiwillensfähige Bilanzsuizide, mit denen in der Regel Sterbehilfevereine zu tun haben, dürften ihr allenfalls als extrem seltene Ausnahme bekannt sein. Sie sieht als Leiterin des nationalen Suizidpräventions-Programms dessen Agenda torpediert durch eine gesetzlich ausdrücklich ermöglichte (da geregelte) Hilfe zur Selbsttötung. In diesem Sinne ist es auch für Kappert-Gonther absolut vorrangig, Suizidprävention, Palliativ- und Hospizversorgung zu fördern, statt einer „Normalisierung“ von Suizidoptionen Vorschub zu leisten.[27] Mit diesem Ziel wird die Notwendigkeit eines neuen Strafrechtsparagrafen 217 begründet, der zurzeit beste Aussichten hat, wieder eingeführt zu werden.

Helge Lindt (SPD), federführender Mitinitiator des sozialliberalen Gegenentwurfs, rief in einer Bundestagsrede ins Bewusstsein, dass das Bundesverfassungsgericht 2020 genau den jetzt wieder im § 217, Absatz 1 StGB vorgelegten Text für verfassungswidrig erklärte hatte. Ganz im Sinne von Groeben versuchte Lindt zudem seinen Kolleg*innen deutlich zu machen, „dass wir nicht über Motive zu richten haben und nicht fremddefinierte Kategorien entscheidend sein dürfen. Vor allem aber stelle ich folgende Frage: Was für ein Menschenbild und Gesellschaftsbild haben wir? Es ist doch nicht so, dass wir uns in einem Verrechnungsverhältnis bewegen von Palliativmedizin, von Hospizbewegung, von Prävention und assistiertem Suizid.“[28]

Doch Groeben sieht die neu drohende Strafbarkeit nicht als schlimmste Gefahr für die Autonomie an, der unbedingt begegnen werden muss – gegebenenfalls durch Kompromisse bei einem alternativen Gesetzentwurf.

Groebens Verwirrungen durch Oberflächlichkeit  

Auch dass Menschen mit einer psychischen Störung oder depressiven „Grundtraurigkeit“ nicht von der Suizidhilfe ausgeschlossen werden dürfen, wie aus säkular-humanistischer und liberaler Sicht oft eingefordert, erkennt Groeben offenbar nicht als Problem an.

Ihm geht es ausschließlich um ein positives Bild vom rationalen Suizidentschluss. Um paternalistische Abwehrversuche gegen diese zu entkräften, greift er auf empirische Ergebnisse zurück. Untersuchungen zur Motivation von Suizidwilligen hätten gezeigt, „dass bei ihnen die Autonomie an erster und zentraler Stelle steht – z.B. in den zwei Jahrzehnten Erfahrung mit Sterbehilfe in Oregon“. Aus dem Modell Oregon ließe sich im Gegensatz zu den drei Gesetzentwürfe „ein positives Bild von Menschen mit Suizidwunsch herleiten: Idealtypisch handelt es dabei nämlich um Personen, für die eine Entscheidung zum rationalen Suizid zu den persönlichkeitszentralen Werthaltungen gehört.“[29] Dass die ärztlich erlaubte Suizidhilfe dabei im USA-Bundesstaat Oregon nur auf sterbenskranke (Palliativ-)Patienten mit (voraussichtlich) nur wenigen und maximal sechs Monate Lebenszeit beschränkt ist,[30] lässt er unberücksichtigt.

Dabei geht Groeben, was die Wirkungskraft seiner Überzeugung schmälert, von weiteren Fehlannahmen aus. Verwirrend ist, dass er die bestehende Beschränkung auf schwere Erkrankungen, das heißt die Voraussetzung bei der gelobten Oregon-Regelung, nun den drei deutschen Gesetzentwürfen fälschlicherweise unterstellt – um sie dort fundamental zu kritisieren. Groeben nimmt Anstoß daran, dass in allen Vorlagen „übereinstimmend eine Beratungspflicht mit Aufklärung über medizinische Behandlungsalternativen vorgesehen ist“, obwohl diese doch bei Bilanzsuiziden überhaupt keine Rolle spielen würden. Und folgert dann, die Gesetzentwürfe würden „also im Widerspruch zum BVerG-Urteil doch nur von der bestimmten Situation, nämlich einer (schweren) Krankheit ausgehen.“[31]

Als Belege dafür führt er jeweils aus: Im Entwurf von Helling-Plahr et al. umfasst deren Pflichtberatung „nicht zuletzt ‚Handlungsalternativen zum Suizid‘, das sind auch potenziell ‚in Betracht kommende alternative therapeutische Maßnahmen und pflegerische oder palliativmedizinische Möglichkeiten‘ (§ 4 (2), 2.). Im Entwurf von Künast et al. ist explizit von einer ‚gegenwärtigen medizinischen Notlage‘ die Rede (§ 3 (1)). Bei Castellucci et al. wird vergleichbar als notwendiger Bestandteil des Beratungsgesprächs die Aufklärung über ‚Möglichkeiten der medizinischen Behandlung und Alternativen zur Selbsttötung‘ angeführt (§ 217 (2), 3b).“[32] Groebens zieht daraus letztendlich seine Schlussfolgerung: „Durch die primäre Fokussierung auf die Schutzfunktion sind also die Möglichkeiten eines rationalen Suizids außerhalb von Krankheitssituationen praktisch völlig aus dem Blickfeld geraten.“[33]

Dies ist mitnichten der Fall. Dass Groeben in den Entwürfen mit bemerkenswerter Oberflächlichkeit sehr selektiv das herausgelesen hat, was er darin finden wollte, zeigt am eklatantesten seine Falschdarstellung des Entwurfs von Renate Künast et al.[34] Zwar wird dort tatsächlich im § 3 ausschließlich auf „Sterbewillige in medizinischer Notlage“ eingegangen, aber nur als besonders zu regelnder Ausnahmesituation! Der nachfolgende § 4 beschreibt unter der Überschrift „Allgemeine Voraussetzungen“ die Maßgaben für alle anderen (!) Sterbewilligen, „die eine von freiem Willen getragene feste Entscheidung … getroffen haben, aus dem Leben zu scheiden.“ Dieser – natürlich auch die rationalen Bilanzsuizide betreffende – Paragraf wird von Groeben im Entwurf von Künast et al. schlicht überlesen bzw. völlig ausgeblendet.

Beharrliches Einfordern verfassungsrechtlicher Grundsätze

Bei einigermaßen sorgfältiger Kenntnisnahme der drei von ihm verworfenen Gesetzentwürfe hätte es kaum zu seiner Fehlbehauptung kommen können, sie würden nur für die Bereitstellung tödlicher Medikamente bei schwerer unheilbarer Krankheit gelten, nicht aber für die von ihm vorgestellten Bilanzsuizide. Vielmehr beherzigen alle drei (entweder aus verfassungsgerichtlichem Zwang durch das Urteil oder aus eigener Überzeugung) den an Eindeutigkeit und Klarheit nicht zu überbietenden Grundsatz des Bundesverfassungsgerichts. Dieser besagt, wie von Groeben so vehement eingefordert und wie folgt zitiert: Die Ermöglichung der Hilfe zum Suizid „ist nicht auf bestimmte Situationen wie schwere oder unheilbare Krankheitszustände oder bestimmte Lebens- und Krankheitsphasen beschränkt. Es besteht in jeder Phase menschlicher Existenz.“[35]

Groebens Einsatz für einen vorrangigen Autonomieanspruch gegenüber einer staatliche Schutzfunktion – zumal er diese nicht völlig in Abrede stellt – ist von anerkennenswerter Stärke und unbedingter Bedeutung. Demgegenüber mag abgesehen werden können von den etlichen Irrungen und Wirrungen. (Letztere finden sich in teils ähnlicher, teils identischer Weise auch bei anderen Akteuren, welche keinen der im Bundestag eingebrachten Gesetzentwürfe für verfassungskonform halten und sich auch einer politischen Kompromissfindungen entziehen.)

In der Tat bleibt es dringend notwendig, wie der Autor nicht müde wird, immer wieder auf diesen verfassungsrechtlich so entscheidenden Grundsatz zu verweisen: „Die Entscheidung des Einzelnen, dem eigenen Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, entzieht sich einer Bewertung anhand allgemeiner Wertvorstellungen, religiöser Gebote, gesellschaftlicher Leitbilder für den Umgang mit Leben und Tod oder Überlegungen objektiver Vernünftigkeit.“[36] Das Hauptanliegen von Groeben besteht darin, dass das „Ausmaß der Autonomie durch den je subjektiven Wertehorizont des Lebenssinns bestimmt (ist), der vom Sterbewilligen definiert wird und nicht von außen, d.h. von Dritten, be- und damit entwertet werden darf.“[37]

Dafür gebührt ihm unbedingte Anerkennung. Doch vielleicht klingt Groebens hoher Anspruch auch zu idealistisch angesichts vieler verzweifelter Menschen, denen schlichtweg ihre prekäre Lebenssituation etwa durch Armut, Krise oder Vereinsamung zur unerträglichen Last geworden ist. Wenn sie Selbsttötungsabsichten haben, muss ihnen dazu ärztliche Hilfe jedenfalls ebenso gut ermöglicht werden wie derzeit den Mitgliedern von Sterbehilfevereinen – und zwar durch sozialliberale gesetzliche Rahmenbedingungen.

 

Anmerkungen

[1] Siehe https://www.patientenverfuegung.de/sterbehilfevereine-auf-dem-vormarsch-was-sie-bieten/ mit Recherche- und Interviewmaterial der Autorin Dr. Heike Haarhoff in  background.tagesspiegel.de/gesundheit vom 10. September 2021 (Letzter Zugriff hier und bei allen Onlinequellen: 08.09.2022).

[2] Norbert Groeben, Sterbehilfe: Bundestag contra Bundesverfassungsgericht!

Beitrag online unter https://humanismus-aktuell.de/sterbehilfe-bundestag-contra-bundesverfassungsgericht.

[3] Vgl. https://hpd.de/artikel/berliner-appell-2022-20262.

[4] Pressemitteilung des Zentralrats der Konfessionsfreien: https://konfessionsfrei.de/pressemitteilung-suizidhilfe.

[5] Die Differenz wird detailliert dargestellt im Titelthema der MIZ (Materialien und Informationen zur Zeit) 2/22 über Positionierungen zur Suizidhilfe in der säkularen „Szene“. In der zusammenfassenden Einleitung heißt es: Während die anderen einschlägigen Organisationen „alle Gesetzesvorlagen kritisch sehen, spricht sich die Bundesbeauftragte für Medizinethik des Humanistischen Verbands Deutschland (HVD), Gita Neumann, für die Annahme des ‚sozialliberalen Vorschlags‘ um die Abgeordnete Helling-Plahr aus, um so die Wiedereinführung eines Paragrafen 217 StGB zu verhindern. Zudem erkennt sie in dem Beratungskonzept auch Chancen, die starren Fronten zwischen Suizidprävention und Suizidhilfe aufzubrechen.“ Siehe https://hpd.de/artikel/miz-222-erschienen-selbstbestimmung-am-ende-des-lebens-20628.

[6] Groeben, Bundestag contra Bundesverfassungsgericht, a.a.O.

[7] Norbert Groeben, Sterbenswille: Verteidigung des rationalen Suizids und Sterbebeistands. Leidens-, Präventiv-, Bilanz-, Symbiose-Suizid. wbg Academic, Darmstadt 2021.

[8] Erläuterungen des Autors in seinem Beitrag: Ein Präventiv-Suizid liegt „idealtypisch vor, wenn eine Person bei beginnendem Persönlichkeitszerfall (z.B. aufgrund einer Demenz) durch den Suizid den völligen Identitätsverlust vermeiden will.“ Im Fall des Bilanz-Suizids „sieht die Person ihren Lebenslauf als vollendet an und verspürt keine Energie mehr, das Leben fortzusetzen“. Beim Symbiose-Suizid „ist der häufigste Fall sicherlich, dass eine Person aufgrund von Leiden stirbt oder Suizid begehen will und der/die Partner/in ohne diese (geliebte) Person im Weiterleben keinen Sinn mehr sieht“. Groeben, Bundestag contra Bundesverfassungsgericht, a.a.O.

[9] Groeben, ebd.

[10] Katrin Helling-Plahr et al: https://dserver.bundestag.de/btd/20/023/2002332.pdf.

[11] Groeben, Bundestag contra Bundesverfassungsgericht, a.a.O.

[12] Zum Suizid taugliche Medikamente bleiben ohne eine entsprechende Sondergesetzgebung zur Suizidhilfe nicht ohne Restrisiko verschreibbar. Siehe: https://hpd.de/artikel/suizidmittel-sind-weiterhin-nicht-risikofrei-verschreibbar-20288.

[13] Groeben, Bundestag contra Bundesverfassungsgericht, a.a.O.

[14] Groeben, ebd., er meint dabei eben auch die beiden Gegenentwürfe zu einem neuen § 217 im Strafgesetzbuch, wozu neben dem von Helling-Plahr et al. als dritter Vorschlag der von Renate Künast et al. zählt.

[15] Katrin Helling-Plahr, Helge Lindh, Petra Sitte et al: https://dserver.bundestag.de/btd/20/023/2002332.pdf.

[16] Siehe Fußnoten 3 und 4. zur entschiedenen Ablehnung durch die Sterbehilfevereine im Einklang mit der gbs und dem Zentralrat der Konfessionsfreien. Zudem bezieht – neben anderen Jurist*innen – Jaqueline Neumann vom (der gbs nahestehenden) Institut für Weltanschauungsrecht diese Bewertung ausdrücklich auch auf den Entwurf von Helling-Plahr et al.: Auch dieser sähe „eine Beratungspflicht vor. Eine solche ist abzulehnen, da sie auf eine unzulässige Begründungs- und Rechtfertigungspflicht für den Suizidentschluss hinausliefe.“ Siehe https://weltanschauungsrecht.de/meldung/neumann-njoz202114-suizidhilfe.

[17] Groeben, Bundestag contra Bundesverfassungsgericht, a.a.O.

[18] Ausführlich über die Kontroverse um die Beratungspflicht: https://hpd.de/artikel/beratungspflicht-im-zentrum-20272.

[19] Groeben, Bundestag contra Bundesverfassungsgericht, a.a.O.

[20] Ebd.

[21] Siehe Fußnote 1 und https://hpd.de/artikel/forderungen-fuer-humane-suizidhilfe-im-haus-bundespressekonferenz-vorgestellt-20134.

[22] Siehe Video vom 06.07.2022: https://www.youtube.com/watch?v=F6fPHJgsJtQ mit einem Ausschnitt aus einer diesjährigen Debatte zu einem neuen Suizidhilfegesetz.

[23] Das Nationale Suizidpräventionsprogramm (NaSPro) versteht sich als bundesweit agierendes Netzwerk für Austausch und Wissensvermittlung zu Suizid, Suizidalität und Suizidprävention. Es wird getragen von Fachleuten aus vielen gesellschaftlichen Bereichen und von mehr als 90 Institutionen, Organisationen und Verbänden unterstützt. Siehe https://www.suizidpraevention.de/.

[24] Lars Castellucci et al., Entwurf für einen neuen § 217 StGB: https://dserver.bundestag.de/btd/20/009/2000904.pdf. Siehe dort auch die Liste der Unterstützer*innen.

[25] Siehe Rede von Kirsten Kappert-Gonther vom 24.06.2022 in der Orientierungsdebatte „Sterbehilfe“ im dt. Bundestag https://www.gruene-bundestag.de/parlament/bundestagsreden/sterbehilfe-4.

[26] Interview mit Barbara Schneider in der Tagessschau vom 24.06.2022: https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/bundestag-sterbehilfe-125.html.

[27] Siehe Rede von Kirsten Kappert-Gonther (Fußnote 25).

[28] Helge Lindt in erster Lesung zu einer Neuregelung der Suizidhilfe: https://www.helge-lindh.de/2022/06/24/1-lesung-zur-gesetzlichen-neuregelung-der-sterbehilfe-pressemitteilung

[29] Groeben, Bundestag contra Bundesverfassungsgericht, a.a.O.

[30] Die entsprechenden Oregon-Gesetzgebung ist nachzulesen in: Bernd Hecker und Roger Kusch, Handbuch der Sterbehilfe, Schriftenreihe des Vereins Sterbehilfe, Band 10, 1. Auflage 2020, S. 56 ff.

[31] Groeben, Bundestag contra Bundesverfassungsgericht, a.a.O.

[32] Ebd.

[33] Ebd.

[34] Renate Künast et al: https://dserver.bundestag.de/btd/20/022/2002293.pdf.

[35] BVerfG 2020a, I, a), bb).

[36] BVerG, ebd.

[37] Groeben, Bundestag contra Bundesverfassungsgericht, a.a.O.

 

Der Aufsatz ist auch als zitierfähiges PDF verfügbar.

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