Warum die Debatte über Covid 19 so schwierig ist…

… und welche Missverständnisse auszuräumen sind, damit sie sinnvoll führbar bleibt

Fernando Zhiminaicela | Pixabay

 

 

 

 

 

 

  1. Für eine rationale humanistische Debatte

Die Debatte über Covid 19 findet in einem komplexen Spannungsfeld statt, dessen einzelne Elemente sich aber durchaus unterscheiden und näher bestimmen lassen. Dass dies immer wieder unterlassen bzw. vernachlässigt wird, führt immer wieder zu irrationalen, im strengen Sinne leerlaufenden Debatten – die aber durchaus vermeidbar wären, wenn sich die jeweils streitenden Parteien zumindest darüber verständigen könnten, was zwischen ihnen im Streit steht.

1.1 Zur epidemiologischen Debatte

Da ist zunächst die im engeren Sinne epidemiologische Debatte, was die empirischen Befunde über Auftreten, Verbreitung, Wirkungsweise und Therapiemöglichkeiten von Covid-19-Erkrankungen sind und wie sie zu beurteilen sind. Diese Debatte kann wirklich sinnvoll nur von der kleinen Gruppe der sich speziell mit dieser Epidemie befassten Forscher*innen geführt werden. Wer nicht zu dieser Gruppe gehört, kann eigentlich nur mehr oder minder intelligente Fragen an diese ‚aktiven Forscher*innen‘ stellen, hat aber nicht die konkreten Voraussetzungen dafür, begründete oder zumindest ernsthaft vertretbare Antworten darauf zu formulieren. Das fällt allen denjenigen, welche in irgendwie ‚benachbarten‘ Gebieten forschen, zwar sicherlich leichter – aber diese Nähe qualifiziert sie noch nicht als ernsthafte Teilnehmer*innen an dieser Debatte darüber, was Covid 19 ist und wie es sich (dynamisch) entwickelt bzw. als Krankheit „funktioniert“.

Dieses Prinzip der Beteiligung an der konkreten Forschung als Voraussetzung einer ernsthaften Debattenteilnahme ist offenbar schwierig zu akzeptieren – denn es steht im Widerspruch zu einem Prinzip, das in der allgemeinen Öffentlichkeit ebenso wie in der ‚wissenschaftstheoretischen‘ Debatte immer wieder ohne Debatte oder auch weiteres Nachdenken als in geradezu evidenter Weise gegeben vorausgesetzt wird. Aber das hat sich in der konkreten Debatte in und über wirkliche Wissenschaften eben als falsch herausgestellt: Nicht nur können Biologen oder Chemiker als solche nichts Relevantes zu physikalischen Grundsatzdebatten beitragen (und umgekehrt – jedenfalls, sobald es wirklich um chemische oder biologische Fragen geht), die von Philosoph*innen vorangetriebenen Versuche, eine ‚Einheitswissenschaft‘ zu etablieren (wie dies klassisch im ‚Wiener Kreis‘ versucht worden ist), sind klar als gescheitert zu bilanzieren. Und mit der Ausdifferenzierung der Arbeitsteilung in der wissenschaftlichen Forschung ist dann eben auch noch klar geworden, dass immer nur ein kleiner Kreis von ‚Spezialist*innen‘ über Ergebnisse kompetent urteilen kann, wie sie jeweils an der ‚vordersten Front‘ der empirisch-experimentellen Forschung gewonnen werden. Sicherlich werden diese Ergebnisse noch weiter aufgearbeitet, bis sie schließlich auch in Hand- und Lehrbüchern der jeweiligen Wissenschaften dargestellt werden können, aber das erweitert den Kreis derjenigen nicht substanziell, welche sie in ihrer Spezifik ‚wirklich beurteilen‘ können. Aber das hebt ihre Rückbindung an das Urteil ihrer ‚Entdecker*innen‘, als welche dann diejenigen Spezialist*innen gelten, die in den wissenschaftlichen Debatten die schlussendlich erfolgreichen Theorien und Erklärungen vertreten haben, keineswegs auf. Und in der laufenden Debatte um eine noch neue Erscheinung, deren Auftreten und ‚Gesetzmäßigkeiten‘ eben erst erforscht werden, stehen derartige ‚ausgereifte Vermittlungsformen‘ eben noch nicht zur Verfügung.

Stattdessen muss in geeigneter Weise der Diskurs der konkret Forschenden organisiert werden – als klassisches Beispiel lässt sich hier inzwischen das IPCC anführen –, um den jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis zu artikulieren und für weitere Debatten gesichert zur Verfügung zu haben. Und es macht keinerlei Sinn, diese verbindliche Artikulation von Forschungsergebnissen durch andere Diskussionsforen als solche in Zweifel zu ziehen – sondern diese Art von Zweifeln und Debatten können (und sollten) zwar nicht als solche verboten werden, sie sind aber schlicht irrational.

1.2 Zur epidemiepolitischen Debatte

Auf diesen jeweiligen Stand der Debatte an der „vordersten Frontlinie“ der Forschung muss sich die epidemiepolitische Diskussion selbstverständlich zurückbeziehen – als deren zugespitzten Sonderfall wir wohl die Pandemiepolitik betrachten und behandeln sollten. Indem diese zusätzliche politische Gesichtspunkte einbringt – etwa über die Zumutbarkeit und Durchsetzung hygienischer und präventiver Maßnahmen (von der Kontaktvermeidung über das Maskentragen bis zum Testen und zur Impfung) oder über die aufbringbaren Kosten geeigneter staatlicher Maßnahmen – kann sie Grundlage dafür schaffen, dass eine wirklich sachgerechte (und nicht bloß ‚mechanische‘) Umsetzung des epidemiologischen Erkenntnisstandes gelingen kann, wie er sich mit der Epidemie/mit der Pandemie entwickelt. Und zu diesen Fragen geben rein epidemiologische Argumentationen allein eben keine ausreichenden Antworten. Die Umsetzung der epidemiologischen Erkenntnisse in organisiertes Handeln staatlicher, öffentlicher oder auch privater Handlungsträger wirft vielmehr immer auch allgemeiner politische Fragen auf – von den Grenzen eines bloßen Verwaltungshandelns in einem demokratischen Staat über die Problematik einer Mobilisierung gesellschaftlicher Selbstkontrolle in der Dimension breiterer Massen bis hin etwa zur Zulässigkeit nationaler Grenzregimes angesichts einer sich global verbreitenden Pandemie.

Für diese epidemiepolitische Diskussion lassen sich m.E. global vier Grundsätze begründen, denen alle vernünftig und recht denkenden Menschen sich anzuschließen gehalten sind:

Erstens sind epidemiepolitische Entscheidungen immer als komplexe Abwägungen durchzuführen, die sich auf eine konkrete Lage bzw. die in Bezug darauf real diagnostizierte Situation in einem näher zu bestimmenden Bereich beziehen: Derartige Entscheidungen qualifiziert zu treffen, setzt daher zum einen eine verlässliche Diagnose der realen Lage durch eine aktuelle Situationsbestimmung voraus, die explizit formuliert und in Bezug auf nachvollziehbare Erhebungen bzw. Messungen begründet werden muss – und zum anderen eine verlässliche Bestimmung der verfügbaren Ressourcen für eine wirksame Verbreitungs- und Erkrankungsabwehr, für eine verlässliche Erkennung von Erkrankungen und für deren möglichst wirksame (und effiziente) Therapie.

Zweitens sind, nachdem derartige epidemiepolitische Entscheidungen getroffen worden sind, dass alle dazu verpflichtet sind, sich entsprechend zu verhalten – also auch diejenigen, die umfassend dagegen waren oder auch nur eine andere Konstellation von Maßnahmen vorgeschlagen hatten. Hier ist es vielleicht nötig, darauf hinzuweisen, dass wir uns hier auf den engen und genuinen Bereich des Verwaltungshandelns beziehen, für den tatsächlich gilt, was Kant noch sehr restriktiv als minimale ‚Freiheit der Kritik‘ für öffentlich Handlungsträger ausgemacht hatte: „Gehorche – und artikuliere Deine Kritik in der freien öffentlichen Debatte!“ Allerdings so, wie wir heute hinzufügen müssen, dass dadurch die ordnungsgemäße Umsetzung dieser Maßnahmen nicht gefährdet oder beeinträchtigt wird.

Drittens gilt für alle epidemiepolitischen Entscheidungen aber auch, dass es Individuen, Gruppen und Institutionen immer auch freistehen muss, für ihre jeweiligen Wirkungsbereiche strengere Maßnahmen zu beschließen und durchzusetzen (z.B. freiwilliges Maskentragen oder Maskenpflicht per Hausrecht von Ladenbesitzern) – wobei hier die Schwierigkeit vor allem darin liegt, dass es andersartige Gründe und geradezu Zwänge gibt, die dann etwa Ladenbesitzer*innen daran hindern werden, für ihren Laden eine Maskenpflicht zu fordern und auch durchzusetzen.

Viertens gilt auch hier das „Solange-Prinzip“ – d.h. verpflichtende Regeln und Anforderungen gelten so lange, bis sie explizit aufgehoben werden. Und nicht etwa schon dann nicht mehr, wenn ihre Dringlichkeit in Vergessenheit zu geraten beginnt oder eine Debatte über ihre Aufhebung in Gang kommt. Daraus ergibt sich allerdings keine Argumentationsgrundlage, um umgekehrt, aufgrund einer allgemeineren Aufhebung verpflichtender Vorgaben, gegen deren Aufrechterhaltung durch die für kleinere Bereiche zuständigen Instanzen vorzugehen.

  1. Zu den politischen Schlussfolgerungen

Aus diesen Grundsätzen ergibt sich m.E., dass jedenfalls die wichtigeren Maßnahmen der Pandemiepolitik tatsächlich Aufgaben einer sachgerechten Verwaltung sind, also als ein ‚sachgerechtes‘ und regelkonformes Handeln auch schlicht zu befolgen sind – und als solche daher keinen geeigneten Gegenstand für primär politische Debatten darstellen (innerhalb derer dann etwa Demonstrationen, Streiks und andere politische Aktionen einen guten und legitimen Sinn hätten).

Mit anderen Worten vertrete ich damit zwei vielleicht eher ‚sperrige‘ Thesen:

1) Die Bürger*innen (Laien) sollen auf die Epidemiologen bzw. deren Mainstream hören, sonst sind sie irrational. Sie sollen sich dabei nicht von selbsternannten Gegen-Instanzen beirren lassen – es gibt hier keine rational begründbare Alternativ- bzw. Gegenwissenschaft.

2) Die Bürger*innen sollen den auf dieser Grundlage ergriffenen Maßnahmen gehorchen, denn es ist alternativloses Verwaltungshandeln. Und sie sollen sogar versuchen, sie durch eigenes Handeln sogar noch zu ‚übertreffen‘, wo immer ihnen dies sinnvoll und machbar erscheint.

Ich denke, dass das durchaus erforderlich und mit guten Gründen zu vertreten ist – möchte aber auch diese ‚Sperrigkeit‘ noch etwas abbauen, indem ich zur zweiten Forderung eine Klarstellung nachliefere:  In der politischen Praxis werden immer wieder von der Verwaltung ausgesprochene Verbote – wie etwa, dass mensch sich nicht sitzend auf Autobahneinfahrten niederlassen soll, weil dadurch der Verkehr behindert wird –, ganz gezielt übertreten, um dadurch einen politisch-symbolischen Effekt zu erzielen. Das ist selbstverständlich ein legitimes Mittel des symbolischen Protestes. Ohne Maske in ein Restaurant zu wollen, mag allerdings als eine solche Geste des Protestes intendiert sein, ist aber dennoch m.E. illegitim, weil es andere nicht nur behindert, sondern vor allem konkret gefährdet. Ähnliches gilt etwa für Demonstrationszüge ohne Masken und Abstand: Sie mögen individuell als Protest intendiert sein, sind aber ganz real eine Gefährdung der öffentlichen Gesundheit, die als solche durch die Polizei zu unterbinden sind.

In dieser Hinsicht gilt für praktische Humanist*innen nichts Spezielles – außer eben, dass sie die hier erforderliche Konformität mit den jeweils konkret geltenden Regeln aus ihnen bewussten Gründen praktizieren. Genau dies wird für manche Humanist*innen ungewohnt und vielleicht sogar unbehaglich sein – sind sie doch eher gewohnt, geltende gesellschaftliche Regeln kritisch zu hinterfragen. Aber angesichts wissenschaftlicher Befunde über die von der Pandemie ausgehenden Gefahren (Epidemiologie) einerseits und politisch-administrativer Beschlüsse zur Abwehr akuter Gefährdungen andererseits (Epidemiepolitik als Verwaltungshandeln) ist eben zu akzeptieren, ja sogar zu fordern, dass die Befolgung der jeweils geltenden Regeln schlicht und durchgängig Vorrang vor ihrer Diskussion hat.

Diese praktische Konformität darf nicht mit Konformismus verwechselt werden. Im Gegenteil gehört zu ihr auch die beständige Herausforderung zur kritischen Analyse und Überprüfung der politischen Voraussetzungen des Verwaltungshandelns und die – allerdings pandemiegerechte – Weiterführung der Prozesse der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung, da diese bekanntlich in unseren Gesellschaften schwerwiegenden und vielfältigen strukturellen Verzerrungen unterliegen. Das gilt nicht nur für die kritische Aufarbeitung des jüngeren, oft im Rückblick problematischen Regierungshandelns (und selbstverständlich auch des tastenden, oft auch schwankenden Verlaufs der epidemiologischen Forschung – für dessen Untersuchung aber immer auch die entsprechenden wissenschaftlichen Kompetenzen mitzubringen sind): Die kritische Debatte über die Epidemiepolitik als Verwaltungshandeln darf auch durch die Pandemie nicht still gestellt werden – es sollte nur allen Beteiligten klar sein, dass eine Kritik an Staat, Kapital, Patriarchat, Neo-Kolonialismus und Industrialismus zwar sicherlich erforderlich ist, um eine öffentliche Fähigkeit dafür zu gewinnen, tiefer liegende strukturelle Ursachen für gegenwärtige Krisenprozesse als solche zu erkennen, dies aber nicht mit der immer nur konkret zu leistenden, aber völlig unverzichtbaren Erkenntnis konkret praktisch tragfähiger Grundlagen für ein unmittelbar wirksames Krisenmanagement verwechselt werden darf. Demgemäß stellt zwar die Pandemie eine gute Gelegenheit dafür dar, an den historisch-gesellschaftlichen Kontext der gegenwärtigen Krisenkonstellation zu erinnern – aber daraus ergeben sich eben keine konkret anwendbaren Kriterien dafür, was auf der Ebene des konkreten Handelns von Institutionen, Organisationen, Gruppen und Individuen im jeweiligen Hier und Jetzt konkreter Gesellschaften zu tun ist.

Immerhin lassen sich daraus heute schon Perspektiven gewinnen, die unter dem Druck des akuten Krisengeschehens hierzulande zu Unrecht vernachlässigte Aspekte dieser globalen Krise ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken – beginnend etwa mit der Ungleichheit der Impfquoten zwischen „Norden“ und „Süden“, wie diese heute in Gestalt der vergleichsweise niedrigen Impfquoten der aus der Ukraine Geflüchteten in den Horizont der öffentlichen Aufmerksamkeit rückt. Es wäre allerdings ein gefährlicher Kategorienfehler, aus derartigen, der Sache nach unbestreitbaren ‚Vertiefungs‘-Erfordernissen eine Einschränkung der Verbindlichkeit der hier geltenden Verhaltensregeln und -gebote im Umgang mit der Pandemie begründen zu wollen.

Hier gilt unbestreitbar in der Praxis eine Kombination von gebotener Konformität mit dem jeweiligen Stand der geltenden Regelungen und ebenso gebotener individueller Vorsicht und Sorgfalt. Die Debatten über die Pandemiepolitik sind sicherlich immer weiter gründlich zu führen – sie dürfen aber den praktischen Vorrang von Regelbefolgung und Vorsicht in keiner Weise gefährden. Zum Glück ist das heute technologisch zu erleichtern: Während im realen gesellschaftlichen Verkehr Konformität und Vorsicht uneingeschränkt praktisch umgesetzt werden können, bietet sich der virtuelle Raum dafür an, alle Zweifel und Thesen zu artikulieren – und sie dann gleich auch daraufhin zu beurteilen, ob in ihnen etwas zu finden ist, was der Debatte weiterhilft, und dies dann so weit auszuarbeiten, dass dann auch sinnvolle und gut begründete praktische Konsequenzen daraus gezogen werden können.

 

Der Artikel ist auch als zitierfähiges PDF verfügbar.

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