Psychoanalyse und Revolution

Autoren: Ian Parker & David Pavón-Cuéllar
Titel: Psychoanalyse & Revolution
Verlag: Argument Verlag 2023
Seiten: 167 Seiten
Preis: 20 €
ISBN: 978-3867545242
Rezensentin: Edeltraud Schönfeldt

 

 

 

 

Kritische Psychologie für Befreiungsbewegungen

Als ich vor gut fünfzig Jahren zu studieren anfing, richtete sich mein Interesse auf genau die Themen, die dieses Werk im Titel nennt: Psychoanalyse und Revolution. Was mag sich im vergangenen halben Jahrhundert auf diesem Gebiet getan haben? Das wollte ich wissen. Und wirklich hat sich erstaunlich viel bewegt. Die Autoren Ian Parker und David Pavón-Cuéllar räumen die altbekannten Einwände gegen die Psychoanalyse – biologistisch, individualistisch, psychologisierend, kleinbürgerlich-ideologisch – sämtlich aus dem Weg, indem sie Schlüsselbegriffe der Psychoanalyse mit neuen Inhalten füllen.

Das Manifest, das die beiden Psychoanalytiker hier vorlegen, ist für Befreiungsbewegungen gedacht. Befreiungsbewegungen finden sich heutzutage vor allem in ehemaligen Sowjetrepubliken, in Afrika und in Lateinamerika, wo einer der Autoren eine Professur innehat, in Mexiko. David Pavón-Cuéllar lehrt in Morelia Psychologie und Philosophie und wirkt in radikalen linken Kollektiven mit. Der Engländer Ian Parker hat eine lange akademische Karriere vorzuweisen, ist in linken Gruppen aktiv und betreibt in Manchester eine psychoanalytische Praxis. Beide stützen sich auf den französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan, und beide bezeichnen sich selbst als Marxisten.

Parker und Pavón-Cuéllar brechen mit dem, was sie als den Psy-Komplex bezeichnen. Damit sind die gängigen Methoden von Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie sowie deren zahlreiche Vertreter*innen gemeint. Denn diese verorten die unterdrückenden Instanzen im Inneren des jeweiligen Individuums, sodass kein Zusam­menschluss und keine gemeinsame Gegenwehr ins Blickfeld treten. Anpassung ist das Ziel, und die prinzipiell veränderbaren, von Menschen gemachten Lebensbedingungen bleiben unangetastet.

Im Unterschied dazu enthält die Psychoanalyse Sigmund Freuds das Potenzial, Unterdrückung und Manipulation abzuwerfen. Sie stellt den geschützten Resonanzraum zur Verfügung, in dem sich die eigenen Verkümmerungen und ungewollten Wiederholungen reflektieren, in Sprache auflösen und durcharbeiten lassen. „Die Aufgabe lautet …, das zu verweigern, von dem uns gesagt wird, dass wir es wollen, und die Bedingungen zu schaffen, unter denen wir besser entscheiden können, was gut für uns alle ist.“ (S. 108) Politisieren statt psychologisieren – das ist die Stoßrichtung der Autoren. Sie vollziehen einen weiteren grundsätzlichen Bruch: den mit dem Individualismus. Nicht Ich soll werden, wo Es – das Unbewusste – war, sondern „wo Es war, soll Wir sein“. (S. 62) Bei Parker und Pavón-Cuéllar umfasst der Begriff des Unbewussten die global wirksamen Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse, die sich in den armen Ländern unverblümter äußern als in den reichen Ländern. Das Unbewusste „setzt sich zusammen aus Geschichte, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Ideologie“. (S. 51) Auf der Ebene des Unbewussten sind Menschen eng miteinander verbunden, und das ermöglicht ihnen kollektives Handeln.

Parker und Pavón-Cuéllar gelingt es, die Psychoanalyse nahtlos mit den Befreiungsbewegungen zu verbinden. Sie betonen die immense Bedeutung der Frauenbewegungen, wenn es ums Abwerfen von Unterdrückung geht, und erteilen der herkömmlichen Kleinfamilie eine Absage. Ohne das Patriarchat sei Kapitalismus nicht möglich, sodass grundsätzlich alle feministischen Bewegungen Wichtiges dazu bei­tragen, ausbeuterische Herrschaftssysteme zu unterminieren. (Zum Patriarchat siehe S. 106–107, 111–112.)

Von sexueller Befreiung im Sinne des Freudomarxismus ist bei ihnen nicht die Rede; auch innerhalb des Feminismus, etwa bei Shulamith Firestone, gilt sie nicht als fraglos frauenfreundlich. Die Autoren sprechen jeglicher sexuellen Orientierung ihre Berechtigung zu und rekurrieren im Übrigen auf Freud, der das individuelle Ausleben sexueller Bedürfnisse für nicht überlebensnotwendig hielt.

Das Buch macht neugierig darauf, was eine weiterentwickelte Psychoanalyse mit gesellschaftswissenschaftlich fortgebildeten Analy­tiker*innen bieten könnte. Die Autoren stellen in Aussicht: „Wenn diese Erkenntnis und Selbst-Erkenntnis der Wahrheit entsprechen, dann geht der Prozess des Begreifens der Welt zeitgleich mit deren Veränderung einher.“ (S. 130)

Dies allerdings erst außerhalb der Praxisräume. Aber ist die Psychoanalyse denn nicht eine elitäre Redekur, die sich an begüterte, gebildete Menschen mit hoher Sprachkompetenz wendet? Über­raschenderweise ist sie das nicht, wie aus einer Fußnote zu erfahren ist. Schon Freud selbst trug in den Jahren 1920 bis 1938 zum Aufbau von Behandlungszentren in Österreich, Ungarn und Deutschland bei, in denen Arme und Arbeiter*innen nichts zu bezahlen brauchten, um sozialen Wandel zu unterstützen. Diese Tradition setzt sich heute in Brasilien fort, wo Psychoanalytiker*innen Menschen aufsuchen, die von – meist staatlicher – Gewalt betroffen sind, und sie im geschützten Resonanzraum sprechen und reflektieren lassen. Auch hierzulande wird Psychoanalyse zeitlich begrenzt wieder von den Krankenkassen finanziert.

Was in diesem Werk vollständig fehlt, sind die Fallgeschichten, die in Freuds Werken seine theoretischen Darlegungen so nachvollziehbar machen. Die Autoren bewegen sich durchgängig auf der abstrakten Ebene; sie erden ihre Gedankengänge nicht im Rückgriff auf ihre praktische Arbeit. Gerade was ihre Neukonzeption des Unbewussten anbetrifft, hätte ich mir illustrierende Fallgeschichten gewünscht. Dazu wäre eine weitere, wesentlich umfangreichere Schrift erforderlich.

Edeltraud Schönfeldt (*1950) ist Diplombibliothekarin und Diplom­psychologin und hat als freie Lektorin mit dem Schwerpunkt psychologische Fachliteratur gearbeitet. Sie schreibt und publiziert Belletristisches und ist seit 2014 HVD-Mitglied.

Die Rezension ist auch als zitierfähiges PDF verfügbar.

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