Seiten: 430 Seiten
ISBN: 978-3-406-80743-5
Rezensentin: Dorothea Winter
Kant – ein Revoluzzer? Der Königsberger Philosoph, nach dem seine Zeitgenossen angeblich die Uhr stellen konnten, gilt heute noch als pedantischer, ordnungsliebender und sich jedem aufrührerischen Gedanken widersetzender treuer Diener der Obrigkeit.
Kant war also vieles, aber bestimmt kein Revolutionär – sofern dieser Begriff staatspolitisch gebraucht wird. In der Welt des Denkens war das Werk Kants hingegen tatsächlich revolutionär, hat doch insbesondere seine „Kritik der reinen Vernunft“ der abendländischen Philosophie einen Stoß versetzt, der viele bis dahin lieb gewonnene Denkgewohnheiten in das Altglas der Philosophiegeschichte geworfen hat. Über diesen revolutionären Akt berichtet Marcus Willaschek in seinem Buch „Kant. Die Revolution des Denkens“.
Willaschek, der als einer der führenden Kant-Exegeten unserer Zeit gehandelt wird, bietet in seinem Buch eine beeindruckende Einführung in das komplexe Werk Immanuel Kants, dessen philosophisches Erbe die moderne Denkweise nachhaltig geprägt hat. Willaschek, der eine Professur für Philosophie der Neuzeit an der Goethe Universität Frankfurt innehat, schafft es scheinbar mühelos, die revolutionäre Kraft von Kants Denken zu entfalten und dessen vielfältige Beiträge zur Philosophie und anderen Bereichen der Wissenschaft anschaulich und verständlich darzutun.
Zurecht verweist Willaschek gleich mehrfach auf die exponierte Stellung Kants in der Philosophiegeschichte. Sein Werk markiert eine epochale Wende dieser wissenschaftlichen Disziplin: Was Kopernikus für die Welt der Sterne, bedeutet Kant für die Welt des Denkens.
Willascheks Buch, das für den Deutschen Sachbuchpreis 2024 nominiert wurde, gliedert sich in dreißig kurze Kapitel, die zwar einzeln und jeweils für sich lesbar sind, doch insgesamt derart geschickt miteinander verwoben werden, dass sich der Leserin Kants Denken in seinen mannigfaltigen Spiegelungen und kaleidoskopischen Brechungen en passant erschließt. Jedes Kapitel beleuchtet einen je spezifischen Aspekt von Kants Denkens, das sich von der Kosmologie über die Moralphilosophie bis hin zur Anthropologie erstreckt. Der Autor verwebt dabei gekonnt biografische und historische Details, wodurch Kant nicht nur als abstrakter Denker, sondern auch als Kind seiner Zeit und deren Denken lebendig wird. So erfährt man etwa von Kants täglichen Spaziergängen auf den immergleichen Routen in Königsberg und seinem Ruf als bescheidener Bürger ohne professorale Attitüde.
Einen besonderen Fokus legt Willaschek auf die praktische Relevanz von Kants Philosophie. Dass das scheinbar moderne Denken über Menschenwürde, Kosmopolitismus oder eine vernunftbegründete Ethik keine Erfindungen unserer Zeit sind, sondern bereits von Kant in erstaunlicher Tiefe durchdacht und präzise formuliert worden ist, überrascht immer wieder: Kants denkerischer Einfluss reicht weit über die Mauern des akademischen Elfenbeinturms hinaus und prägt Institutionen wie das Deutsche Grundgesetz, Urheberrecht und die Charta der Vereinten Nationen.
Willascheks Darstellung von Kants Wirken ist durchdrungen von tiefem Fachwissen und bleibt dennoch allgemein verständlich und auch Nicht-Kantianer:innen zugänglich. Er scheut dabei auch nicht zurück, jene Positionen Kants zu hinterfragen, die nach unserem heutigen Verständnis durchaus als fragwürdig, wenn nicht gar überholt, gelten. So sind beispielsweise einige Passagen in den anthropologischen Schriften Kants heute so sicherlich nicht mehr haltbar.
Dass Willaschek seine Analyse der „Kritik der reinen Vernunft“ erst an den Schluss seines Buches stellt, überrascht, – ist es doch vor allem dieses Werk, das Kants philosophischen Ruhm begründet hat. Bei dieser Analyse zeigt sich auch die Grenze der Methode Willaschek: Die Komplexität und Gedankentiefe dieses kantianischen Meisterwerks einfach und verständlich werden lassen zu wollen, findet seine Grenzen im Stoff selbst. Es wäre demnach wünschenswert gewesen, wenn der Autor diesem Hauptwerk Kants den Raum innerhalb seines Werks eingeräumt hätte, auf den dieses zentrale Werk der Philosophie Anspruch erheben darf.
Insgesamt bietet „Kant. Die Revolution des Denkens“ einen gut gemachten Überblick über Kants Werk und dessen anhaltende Bedeutung. Willascheks Buch hat seinen Wert überall dort, wo sich ambitionierte Laien mit der Philosophie Kants und ihrer Wirkungsgeschichte auseinandersetzen möchten. Und wer es gelesen hat, versteht, warum Willaschek Kant mit gutem Grund als Revoluzzer betrachtet.
Dorothea Winter ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im M.A. Angewandte Ethik an der Humanistischen Hochschule Berlin.
Die Rezension ist auch als zitierfähiges PDF verfügbar.
Immer auf dem Laufenden bleiben? UNSER NEWSLETTER