Seiten: 459 Seiten
ISBN: 9783770565979
Rezensentin: Irina Spiegel
Posthumanismus: ein progressiver Humanismus?
Der Band „Posthuman? Neue Perspektiven auf Natur/Kultur“, herausgegeben von Torsten Cress, Oliwia Murawska und Annika Schlitte, ist eine beeindruckende Sammlung interdisziplinärer Beiträge zum zeitgenössischen Posthumanismus. Hervorgegangen aus einem Symposium, das 2019 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz stattfand, bietet der Band theoretische und empirische Perspektiven auf die Rolle des Menschen in einer Welt, die zunehmend von Technologie, Klimakrise und neuen Erkenntnissen über Mensch-Tier- und Mensch-Maschine-Beziehungen geprägt ist.
Sinnbildlich für das im Band vertretene Denken steht das Foto auf dem Buchcover: Es zeigt einen einsamen Menschen in einer verschneiten Landschaft. Er trägt eine grellgelbe Rettungsweste. Das Motiv erinnert an die Stimmung auf Caspar David Friedrichs Gemälde „Mönch am Meer“, das die fragile Stellung des Menschen in einer als düster imaginierten Natur visualisiert. Der schneebedeckte Miniaturberg (auf der Rückseite des Covers) als Symbol der Klimakrise wirft die Frage auf, ob der Mensch auf diesem Planeten überhaupt überleben kann. Doch die leuchtende Rettungsweste ist ein Hoffnungsschimmer dafür, dass der Mensch mit seinem Intellekt und seiner Empathie der Erderwärmung noch etwas entgegensetzen kann. Kurz: Das Bild ist eine Chiffre für das Anthropozän und evoziert eine Perspektive der Relativierung des Menschen. Die Autor*innen nennen diese Perspektive schlicht „posthuman“ und laden mit dem Band „zu einem Denken jenseits des Menschen“ ein. (2)
Kritisches posthumanistisches Denken – zentrale Merkmale
Kritik ist das Leitmotiv des Bandes: „Die post-humanistische Kritik richtet sich grundlegend auf das humanistische Ideal ‚des Menschen‘ als universelles Maß aller Dinge […] und trägt der Tatsache Rechnung, dass das Konzept Mensch selbst soziohistorisch verortet ist und fälschlicherweise für das Ganze genommen wird. Sie entzündet sich an der Nicht-Neutralität und Exklusivität dieser Konzeption, die sich auf eine ganz bestimmte Gruppe von Menschen beschränke […] – nämlich Menschen eines bestimmten Geschlechts (männlich), einer bestimmten Farbe (weiß), mit einer bestimmten sozialstrukturellen Positionierung (gebildet/bürgerlich […usw.].“ (13) Dies bringt soziale Asymmetrien bzw. Herrschaftsverhältnisse von Menschen über Menschen hervor, die es zu überwinden gelte. Posthumanistische Kritik richtet sich also gegen die „Überhöhung“ einiger Menschen bzw. gegen die Deprivilegierung anderer als „weniger als Menschen“. (14) Allein diese Passage zeigt: Der posthumanistische Diskurs kreist immer wieder um das „Menschliche“, wie es der Humanismus seit jeher tut. Es ist daher fraglich, ob diese Denkrichtung überhaupt radikal posthuman werden kann. Diese Tendenz ist da, die Motivation ist einleuchtend und teilweise auch sehr gut begründet. Nur: Erinnert das Ganze nicht ein wenig an Baron Münchhausen, der sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht?
Die Autor*innen des Bandes sind sich einig, dass der Posthumanismus ein durch Diversität, Offenheit, Prozessualität und Unabgeschlossenheit charakterisiertes Menschenbild zu entwerfen versucht, das „die Pluralität der Lebensformen anerkennt und nicht hierarchische Relationen zu nicht-menschlichen Alteritäten (Tieren, Robotern [… usw.]) herausstellt.“ (14) Mit der Abkehr von einem exkludierenden Menschenbild geht eine post-anthropozentrische Perspektive einher, die auf eine Dezentrierung des Menschlichen gegenüber dem Nichtmenschlichen hinwirkt. Der Postanthropozentrismus distanziert sich von der in der westlichen Denktradition dominierenden Vorstellung einer Vorrangstellung der menschlichen Spezies und wendet sich somit nicht nur gegen Herrschaftsverhältnisse innerhalb der menschlichen Gemeinschaft, sondern auch gegen solche zwischen Menschen und nichtmenschlichen Spezies. Dabei schlägt er einen „materialistischen Weg ein, der statt von einem abstrakten Universalismus von einer unhintergehbaren materialen Einbettung des Subjekts ausgeht […]“. (15) Genau dieser Teil im posthumanistischen Diskurs ist sehr überzeugend: Der historische und teilweise auch moderne Humanismus sind in der Tat zu „kopflastig“ und „vernunftfixiert“. Seine Körperlichkeit und Materialität wurden immer wieder vernachlässigt oder in den Dualismus von Körper und Geist gezwängt.
Der kritische Posthumanismus stellt etablierte Dualismen wie Körper/Geist, Mensch/Tier, Mensch/Maschine, Subjekt/Objekt, Natur/Kultur, Umwelt/Gesellschaft, Mann/Frau usw. radikal in Frage. Diese Dualismen werden so in ein Wertesystem eingespannt, dass immer das eine über das andere gestellt ist. Dualistische Differenz führt zu Hierarchien und letztlich zu Machtausübung. Dagegen hat Donna Haraway besonders überzeugend rebelliert – feministisch und kreativ. Sie hat das Konzept der „NaturKulturen“ entwickelt und versucht, das emanzipatorische Potential einer Auflösung von Dualismen auszuloten. So steht die Figur des Cyborgs (1985) bei ihr für das Aufbrechen von Dualismen und die Affirmation fragmentierter Identitäten, aber auch für das Aufspüren technologischer Potentiale im Hinblick auf die Ermöglichung einer herrschaftsfreien Gesellschaft. (19)
(Selbst-)Kritische Rezeption
Die Autor*innen des Bandes zeigen ein hohes Maß an Selbstkritik und setzen sich aufrichtig mit den gegen den modernen Posthumanismus vorgebrachten Einwänden auseinander. Kritisiert werden am Posthumanismus z.B. die Vagheit, Unklarheit und auch Widersprüchlichkeit bestimmter Begriffe und Konzepte, wie zum Beispiel Natur und Kultur. Gerade diese Offenheit und Vagheit ist aber das Programm des Posthumanismus. Weitere Kritikpunkte betreffen ein idealisiertes, romantisches Naturverständnis, das die zerstörerischen Naturkräfte und den blinden Selbsterhaltungstrieb unterschätzt. Gleichzeitig werden die menschlichen Fähigkeiten zum Guten, wie Empathie und Mitgefühl, nicht ausreichend gewürdigt. (25) Kritiker*innen weisen hier auf ein grundsätzliches posthumanes Verantwortungsdilemma hin, das darin besteht, einerseits menschliche Macht dezentralisieren bzw. demokratisieren zu wollen und andererseits die besondere Verantwortung menschlicher Handlungsfähigkeiten anerkennen zu müssen. Für den kritischen Posthumanismus ist dieses Problem besonders virulent, weil seine Konzepte normativ aufgeladen sind. Zwar werden die ethischen Implikationen des posthumanen Denkens immer wieder benannt, aber „eine intensive Auseinandersetzung mit Argumentationsmustern aus der normativen Ethik“ findet kaum statt. (25)
Als besonders schwierig wird das Problem angesehen, dass die Kritik am Anthropozentrismus und die Forderung nach Offenheit für sich genommen zwar sehr plausibel erscheinen, die damit verbundenen Relativierungen aber unterschiedlich interpretiert werden können: Einerseits gibt es macht- und herrschaftskritische Positionen, die z.B. eine Ausweitung des Kreises moralischer Subjekte verfolgen (etwa Tiere). Andererseits gibt es Ansätze, die scheinbar vorschnell und eher unreflektiert alle ethischen Orientierungen des Humanismus bei Seite schieben. „Der Grat zwischen der Ablehnung einer menschlichen Sonderstellung und einer inhumanen Relativierung des Wertes menschlichen Lebens scheint bisweilen schmal.“ (25) Mit Selbstkritik und wissenssoziologisch informierter Selbstreflexion, die das eigene Denken historisch kontextualisiert und relativiert, kann m.E. diesem Problem begegnet werden.
Empirischer Posthumanismus der beyond human-Forschung
Im posthumanistischen Diskurs findet sich mittlerweile eine Reihe empirischer Richtungen, welche zwar grundsätzlich posthumanistisch sind, von ihren Vertreter*innen aber nicht unbedingt in dieser Denkrichtung verortet werden. Um sie vom expliziten Posthumanismus abzugrenzen, werden diese Zugänge im Sammelband als beyond human-Forschung bezeichnet. (26) Hier lassen sich Beiträge v.a. aus der Ethnologie, Ethnographie finden, aber auch aus der Anthropologie, sowie aus der Wald-, Tier-, Pflanzen- und Pilzforschung (28-29). So betont der Ethnologe Philippe Descola, dass „die Art und Weise, wie das moderne Abendland die Natur darstellt, etwas ist, was in der Welt am wenigsten geteilt wird […] und dass es viele Gesellschaften gibt, denen es nie in den Sinn gekommen ist, dass die Grenzen des Menschseins an den Toren der menschlichen Gattung haltmachen“. (27)
Die Ethnografie könnte sich als fruchtbarer methodischer Zugang für eine posthumanistische Forschung erweisen. Vor dem Hintergrund des posthuman turn halten es die Autor*innen des Buches jedoch für unbedingt notwendig, die letztlich auf einer humanistischen Perspektive basierende Ethnographie einer Aufarbeitung ihrer Kolonialgeschichte zu unterziehen und die Bedingungen und Auswirkungen einer globalisierten, technologisierten, virtuellen, posthumanen Welt sensibel zu reflektieren. (29) Als Vorreiter gilt hier Multispecies Ethnography, „die den Versuch unternimmt, sich mehr-als-menschlichen Entitäten, ihren Verflechtungen und ihrer Agency über ethnografische Methoden zu nähern.“ (30). Wichtig sei es hierbei, die forschungsethischen Implikationen nicht aus den Augen zu verlieren. (ebd.) „So sei etwa danach zu fragen, was es bedeutet, in einer Epoche empirisch zu forschen, in der der Mensch zum geologischen Faktor avanciert ist.“ (ebd.) In diesem Zusammenhang fordert Rosi Braidotti eine „Ethik der Affirmation“ (111ff.). Eine solche Ethik berücksichtigt die Komplexität des realen Lebens und betont die Verpflichtung zu einer geteilten Fürsorge für menschliche und nicht-menschliche Wesen und Entitäten. (ebd.)
Die beyond human-Forschung ist in der Regel von einer zurückhaltenden, bescheidenen Grundeinstellung geprägt. Denn die Forschenden sind hier sehr bemüht,
„den marginalisierten Koproduzent*innen des Wissens im Rahmen der Datengenerierung eine Stimme zu geben, sie prinzipiell aufzuwerten und dabei ihre eigene privilegierte Position zu reflektieren. Obschon die Umsetzung dieser Forderung erhebliche methodische und sprachliche Probleme aufwirft, scheinen offen gezeigte Überforderung und Perplexität zum Habitus empirisch-posthumanistisch Forschenden zu gehören. Bescheidenheit bedeutet dabei auch, über Machtstrukturen im Forschungsprozess nachzudenken: Letzthin ist es immer der forschende, der menschlichen Sprache mächtige Mensch, der darüber entscheidet, wer zu Wort kommt und wie Deutungsmacht über das Gesagte eingesetzt wird.“ (31)
In der Reflexion der methodologischen Herausforderungen und der Einsicht in die Grenzen der (dominanten) zweiwertigen diskursiven Sprache sucht der Posthumanismus den Kontakt zur Kunst – in all ihrer Fülle. Die Fotografie auf dem Cover des Bandes und ihre Interpretation zu Beginn der Rezension veranschaulichen die Bedeutung künstlerischer Ausdrucksformen im posthumanistischen Diskurs, um den genannten Herausforderungen besser begegnen zu können.
Parforceritt durch die Hauptabschnitte
- Diesseits und jenseits des Menschen: Anthropologie und Anthropozän
Der erste Teil des Bandes untersucht die Stellung des Menschen im Anthropozän, einem Zeitalter, in dem der Mensch als dominierende Kraft das Erdgeschehen maßgeblich beeinflusst. Besonders hervorzuheben ist hier der Beitrag von Tim Ingold (49-73), der das Konzept einer „posthumane Prähistorie“ entwickelt und damit die Frage aufwirft, wie menschliche Existenz und kulturelle Praktiken jenseits einer anthropozentrischen Perspektive betrachtet werden können. Ingold stellt damit grundsätzliche Überlegungen an, die weit über die aktuelle Debatte hinausweisen und damit die Weichen für eine Neuorientierung des Menschheitsverständnisses stellen. Hannes Bajohrs Beitrag (73-89) über das Anthropozän und die „negative Anthropologie“ fügt dieser Diskussion eine weitere Facette hinzu, indem er die Frage nach der Zentralität des Menschen und ihren ethischen Implikationen beleuchtet. Thomas Schmaus‘ Analyse (89-110) von Heinrich Rombachs Konzept des „menschlichen Menschen“ als Interpretation aktueller Anthropozän-Narrative vertieft diese Diskussion, indem er eine Brücke zwischen klassischer Anthropologie und modernen ökologischen Diskursen schlägt.
- Kritischer Posthumanismus und seine Kritik
Im zweiten Teil des Buches wird der Posthumanismus selbst kritisch beleuchtet. Rosi Braidotti (111-137), eine der führenden Stimmen im Bereich des Posthumanismus,[1] legt in ihrem Beitrag die Grundlagen der „new humanities“ aus posthumaner Perspektive dar. Sie argumentiert für ein Denken jenseits anthropozentrischer Grenzen und plädiert für eine affirmative Ethik, die die Interdependenz von Mensch, Tier und Maschine anerkennt.
Francesca Ferrando (137-163) stellt anschließend die Frage, ob posthumanistische Theorien tatsächlich das Potenzial haben, die Mensch-Tier- und Mensch-Maschine-Dichotomien zu überwinden. Ein besonders kritischer Beitrag stammt von Jenni Brichzin (163-180), die am Beispiel der Theorie Braidottis die Grenzen anti-essentialistischen Denkens aufzeigt und die Komplexität sowie mögliche Fallstricke posthumanen Denkens vor Augen führt. Diese kritische Reflexion verleiht dem Band eine philosophische Tiefe.
- Transformationen von Subjektivität: Menschen – Tiere – Pflanzen
Der dritte Teil des Buches beschäftigt sich mit der Transformation von Subjektivität im posthumanen Kontext. Andrea Le Moli (183-199) untersucht die Grenzen des Lebensbegriffs im posthumanen Denken am Beispiel tierischer Subjekte und hinterfragt die traditionellen Grenzen zwischen Mensch und Tier. Ihr Beitrag regt zum Nachdenken darüber an, wie wir Subjektivität überhaupt verstehen und welche ethischen Konsequenzen sich aus einer posthumanen Neuorientierung ergeben könnten.
Marco Antonio Pignatone (199-217) widmet sich der „Pflanzenblindheit“ und diskutiert neue Perspektiven auf die Beziehungen zwischen Mensch und Pflanze. Diese „Plantness Studies“ eröffnen faszinierende Einblicke in einen Bereich, der in der posthumanistischen Debatte bisher wenig Beachtung gefunden hat, und erweitern das Verständnis von Lebewesen jenseits des Tier-Mensch-Dualismus. Ein anderer hochinteressanter Beitrag stammt von Alexandra König und Annette Schnabel (217-236), die die Professionalisierung von Tieren in der Moderne untersuchen. Sie zeigen, wie Tiere zunehmend in soziale und ökonomische Prozesse integriert werden und welche Implikationen dies für das Verständnis von Subjektivität und Agency hat.
- Maschinen – Menschen: KI und Robotik
Der vierte Abschnitt widmet sich der Beziehung zwischen Mensch und Maschine, besonders der künstlichen Intelligenz und Robotik. Nandita Biswas Mellamphy (239-261) spekuliert über die zukünftige Governance von KI. Dabei stellt sie zentrale, bislang unbeantwortete Fragen nach der Kontrolle und Ethik von digitaler Technologie.
Hannah Link und Herbert Kalthoff (261-281) analysieren die „Naturalisierung humanoider Roboter“ und beleuchten die soziologischen Implikationen von autonomen KI-Systemen, die zunehmend menschliche Eigenschaften und Fähigkeiten simulieren. Der Beitrag von Henning Laux (281-307) über die „Vergesellschaftung künstlicher Intelligenz“ am Beispiel digitaler Assistenten beschäftigt sich schließlich mit der Problematik der Autonomie und Originalität von Maschinen in einer von Algorithmen geprägten Gesellschaft. Dieser Teil des Buches ist von besonderer Aktualität und Relevanz, da er die Herausforderungen und Potenziale von KI beleuchtet, die bereits heute tief in unseren Alltag eingreifen.
- Ökologie und Posthumanismus: Umwelt – toxische Objekte – Wasser
Der fünfte Teil des Bandes fokussiert auf ökologische Themen im Kontext des Posthumanismus. Matthias Groß (311-333) diskutiert das „neue ökologische Paradigma der Umweltsoziologie“ und verbindet dies mit posthumanistischen Diskursen. Dabei wird deutlich, dass die traditionellen Konzepte von Natur und Kultur zunehmend an Bedeutung verlieren und neuen, interdisziplinären Ansätzen Platz machen müssen. Christiane Schürkmann (333-349) beschäftigt sich mit „toxischen Objekten“ und stellt Überlegungen zu einer Heuristik an, mit der diese Phänomene besser erfasst werden können. Dieser Beitrag ist besonders wichtig, weil er eine Brücke zwischen theoretischen Überlegungen und konkreten ökologischen Problemen schlägt. Ina Dietzsch (349-367) rundet den Abschnitt mit einer posthumanistischen Lesart von „urbanem Wasser“ ab und zeigt, wie auch hier traditionelle Dichotomien zwischen Natur und Kultur aufgebrochen werden können.
- Posthumane Kunst: Bilder – Körper – Kristalle
Der letzte Teil des Buches ist der Kunst gewidmet. Ralf Bormann (372-401) untersucht die posthumane Kunsterfahrung und wie die Hermeneutik der Agalmatophilie (libidinöse Beziehung zu Statuen und anderen Objektdarstellungen) in einem posthumanistischen Kontext neu gedacht werden kann. Sein Beitrag ist faszinierend, weil er zeigt, wie Kunst als Medium genutzt werden kann, um die Verschiebung der Grenzen zwischen Mensch, Objekt und Technologie besser zu erfassen. Sarah Sigmund (401-421) beleuchtet die Darstellung von Körpern in der Kunst im Zeitalter der Bio- und Gentechnologie und diskutiert, wie diese Darstellungen unsere Vorstellungen von Menschlichkeit und Identität herausfordern. Kerstin Flasche (421-441) beschließt den Band mit einer Analyse anthropogener Mineralien in Kunstsammlungen und thematisiert Kolonialisierung und Dekolonialisierung im Kontext posthumaner Kunst.
Fazit
Innerhalb der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften etabliert sich also derzeit eine neue Denk- und Forschungsrichtung, die für einen veränderten Blick auf den Menschen, seine Stellung in der Welt, seine Selbstbeschreibung und seine neuen Aufgaben in den Wissenschaften steht. Bei aller Unterschiedlichkeit eint die Vertreter*innen dieser posthumanen Forschung, dass sie eine dezentrierende Perspektive einnehmen, etablierte dualistische Sichtweisen von Natur und Kultur durchbrechen und die Beziehungen zwischen Menschen und breitem Spektrum der Nicht-Menschen neu zu denken versuchen. Der Sammelband „Posthuman? Neue Perspektiven auf Natur/Kultur“ sondiert dieses Forschungsfeld, zeigt den aktuellen Stand der Debatte auf und fragt (selbst-)kritisch nach Voraussetzungen, Potenzialen und Grenzen des Posthumanismus. Versammelt sind sowohl Beträge bekannter Vertreter*innen des posthumanistischen Diskurses wie z.B. Rosi Braidotti und Francesca Ferrando als auch Positionen, die den Posthumanismus eher kritisch sehen. So betrachtet Tim Ingold den Posthumanismus vor allem im historischen Kontext, und Matthias Groß zeigt auf, dass bestimmte Annahmen des Posthumanismus nicht gänzlich neu sind. Trotz dieser Vielfalt könnte der Band für Leser*innen manchmal etwas erschlagend wirken. Die zahlreichen Ansätze und Themen sind faszinierend, erfordern aber gleichzeitig eine hohe Bereitschaft, sich auf sehr unterschiedliche Disziplinen und Fragestellungen einzulassen. Eine explizitere Verknüpfung der einzelnen Beiträge hätte den Band noch kohärenter gemacht, würde aber auch die programmatische Offenheit des Posthumanismus konterkarieren. Der Band liefert zweifellos wertvolle Impulse für die derzeitige beyond human-Forschung und ist eine empfehlenswerte Lektüre für alle, die eine Auseinandersetzung mit dem Anthropozän aus posthumanistischer Perspektive für notwendig erachten.
Es gibt verschiedene Interpretationen von „post“. Dieses Präfix bedeutet nicht immer „nach“ oder „Überwindung von“. Manchmal steht es für eine kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Voraussetzungen und Grundlagen. So öffnet sich zum Beispiel die „Postdramatik“ zu Textformen, die über das rein Dramatische hinausgehen, indem sie auch Prosa, Zeitungstexte, Berichte oder theoretische Montagen einbezieht. Im Vergleich dazu ist das „post“ in der Postmoderne radikaler und paradoxaler; letztlich führte das dazu, dass sich die Postmoderne im Nachhinein eher als Spätmoderne entpuppte. Noch paradoxer erscheint das „post“ im Begriff „posthuman“: Es markiert weder einen „Hyperhumanismus“ noch eine partielle Kritik am traditionellen Humanismus, sondern zielt darauf ab, die überlieferten Vorstellungen von Mensch gänzlich ad acta zu legen.
Ich glaube, dass sich auch der Posthumanismus irgendwann als eine fortschrittlichere Form des Humanismus erweisen wird. Denn paradoxerweise dreht sich alles unausweichlich um den Menschen, der beispielsweise Dualismen aufbricht, sich zu dezentrieren und zu demokratisieren versucht. Wie könnte der Mensch das Menschsein gänzlich hinter sich lassen? So wie Baron Münchhausen sich nicht am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen kann, so kann sich auch der Mensch nicht ex post von sich selbst radikal verabschieden. Er kann sich bescheiden, und das wäre humanistisch – humanistisch im besten Sinne des Wortes. Mir scheint, das „post“ ist eine vorläufige (und notwendige) Bezeichnung für die nächste, besonders reflektierte und dezentrierende Form eines redlichen Humanismus. Deshalb werden Historiker*innen in Zukunft diesen ethisch progressiven Diskurs vermutlich einfach als eine weitere historische Ausprägung des genuinen Humanismus (also ex post) begreifen und ihn als nicht-anthropozentrischen Humanismus im Zeitalter des Anthropozäns bezeichnen.
Irina Spiegel ist Lehrbeauftragte an der Humanistischen Hochschule Berlin und Referentin der Humanistischen Akademie Berlin-Brandenburg. Sie war mehrere Jahre wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Praktische Philosophie, Normative und Angewandte Ethik, Digitale Ethik und interdisziplinäre Anthropologie.
[1] Vgl. hierzu die Rezension von Barbara Lemberger „Rosi Braidotti Posthuman Knowledge“, humanismus aktuell, 16.12.2022.
Die Rezension ist auch als zitierfähiges PDF verfügbar.
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