Seiten: 210
ISBN: 97815095352552
Rezensentin: Barbara Lemberger
„Hoffnungslosigkeit ist kein Projekt!“
Beim vorliegenden Werk handelt es sich um die aktuelle Monografie der an der Universität Utrecht frisch emeritierten Philosophin und feministischen Theoretikerin Rosi Braidotti. Ihr gesamtes Schaffen widmete sich den Fragen des Subjekt- und (Mensch-)Werdens. Schon früh arbeitete die italienischstämmige Philosophin ihr basales Theorem auf Grundlage der spinozianischen Perspektive und in Weiterentwicklung der poststrukturalistischen Denkweise von Gilles Deleuze sowie Luce Irigaray heraus, wonach die menschliche Identität nomadisch ist. Das heißt, die Subjektwerdung verläuft weder linear noch findet sie einmal ihren Abschluss, sondern sie ist ein nichtlinearer, lebenslang verlaufender Prozess. Rosi Braidotti hat dabei ihre Frage „Was ist der Mensch?“ als erste ihrer Zunft radikal aus Perspektiven von Differenz, Vielfalt und Multilinearität erforscht.[1] Im Resultat heißt es bei ihr, dass der Mensch (the human) keine natürliche Kategorie darstellt, sondern eine vom weißen Mann des kapitalistischen Westens seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert selbstgesetzte ist und dementsprechend einem sowohl negativen als auch dualistischem Prinzip folgt, so Braidotti: Der Mensch ist nicht-Frau, nicht-Tier, nicht-Sklave, nicht-oriental, nicht-arm, geschlechtlich heteronormativ, kurz: das Andere.[2] Dementsprechend ist die im globalen Norden so definierte Kategorie Mensch immer mit Macht und Privilegien verbunden.
Die posthumane Situation auf dem Planeten Erde
In der vorliegenden Monografie rückt Rosi Braidotti den Fokus nun auf die Thematik Wissen. Ihre zentrale Frage lautet hier: Welches Wissen brauchen die Menschen, um in der posthumanen Situation, in der sie sich gerade befinden, weiter existieren zu können?
Im Folgenden kann ich lediglich ihre Kerngedanken dazu aufgreifen: Im ersten und zweiten Kapitel erläutert die Autorin, was sie unter der posthumanen Bedingung (posthuman condition) sowie dem posthumanen Subjekt (posthuman subject) versteht. Diese beiden Themen konstituieren sozusagen ihr Gedankenarchipel vom Posthumanismus und zugleich ist wichtig zu wissen, dass der Begriff Posthumanismus kein definitorischer Term, sondern der Philosophin als Analysewerkzeug dient (vgl. S.7-13).[3] Wir Menschen befinden uns nun dieser wissenschaftlichen Perspektive zufolge in der Situation des Posthumanismus, wo soziopolitische, ökonomische und ökologische Folgen aus den Prozessen der vierten industriellen Revolution[4] mit den Folgen des so genannten Sechsten Sterbens[5] zusammenströmen und sich physisch, emotional sowie psychisch in die Menschen einschreiben (vgl. S. 44ff).
Daraus folgt seit vielen Jahren schon, erstens, dass öffentlich Kritik am Anthropozentrismus geübt wird und meint die Spezienüberlegenheit des (westlichen) Menschen und seiner damit einhergehenden Verantwortung für die Zerstörung des Planeten Erde. Zweitens hat sich eine diskursive Strömung etabliert, die Kritik an der Haltung übt, die menschliche Spezies sei allen anderen hierarchisch übergeordnet. Philosophisch gesehen muss sich deswegen laut Braidotti die Fragestellung weg vom essentialistischen „Was ist der Mensch?“ hin zu ethisch formulierten Formulierungen wie „Was ist menschlich? Sind wir menschlich genug?“ (vgl. S. 6) verschieben. Wir (die weißen, kolonisierenden, europäischen, das schädliche Wissen in die Welt gebracht habenden) Menschen, so leitet Braidotti dann auf die zentrale Thematik „Wissen“ über, müssen zuerst diese historischen Zusammenhänge des bisherigen menschlichen Handelns verstehen und seine negativen Auswirkungen (an-)erkennen, erst dann können wir sinnvoll handeln im Sinne, ein solches Wissen zu (re-)aktivieren, das es allen erdlichen Bewohnern ermöglicht, wieder Hoffnung auf eine gute Zukunft für den Planeten zu schöpfen und unsere Existenz auf ihm (wieder) zu sichern. Während es posthumanistische Debatten gibt, die sich die zukünftige Erde sehr gut ohne Menschen vorstellen können, bleibt bei Braidotti das menschliche Wesen, wenn zwar nicht mehr in der zentralen Position, so doch Teil des terrestrischen Daseins.
Es geht bei ihrem Projekt des „posthumanen Wissens“ darum, neue Methoden zur Wissenserzeugung zu finden, mit denen die diverse und komplexe Gesellschaft/Welt angemessen erfasst, interpretiert, untersucht werden kann.
Entschleunigung im posthumanen Wissensregime
Im dritten Kapitel geht es um „Posthuman Knowledge Production“ (S. 75-99). Es wird erneut daran erinnert, dass in der westlichen, kapitalistisch geordneten Welt des globalen Nordens die Wissensproduktion in erster Linie vom westlichen Menschen für seinesgleichen erfolgt, innerhalb entsprechend organisierter Strukturen. Neu in der posthumanen konvergenten Situation ist allerdings, dass der westliche Mensch die Wissensproduktion auf Basis der Digitalisierung gestellt hat. Hierfür reißt Rosi Braidotti einige beispielhafte Settings an. Zum Beispiel wird ein Wissen über große Menschenmengen erzeugt in Form von Statistiken – Stichwort big data – was wiederum in biopolitische Praktiken von Seiten von Unternehmen oder Regierungen mündet (vgl. S. 96). Auch die Lagerung von digitalen Informationen über die Bevölkerung führt oft zu finanzieller Kommodifizierung. Insgesamt steht diese gegenwärtige Wissensproduktion fast ausschließlich im Dienste der kapitalen Verwertungslogik und in humanistischer Betrachtung ent-individualisiert dies den Menschen und lässt ihn zu einer beliebigen Ware verkommen (vgl. 97). Da es der Autorin in diesem Kapitel um die Skizzierung eines neuen posthumanistischen Wissensregimes geht, thematisiert sie auch die Rolle von Zeitlichkeit für Wissensprozesse. Hierbei verweist sie auf den allgegenwärtigen Zeitdruck, der mit Geldflüssen gekoppelt ist, und bekanntlich nicht immer zu qualitativ hochwertigen Ergebnissen führt. Innerhalb eines zukünftigen, besseren Wissensregimes, so Braidotti, sollte nicht nur Zeit neu bewertet werden, sondern auch von einem neuen zentralen Gegenstand allen Forschens ausgegangen werden, nämlich der Erde. Sie sollte verstanden werden als eine Assemblage unterschiedlicher Dimensionen und Akteure. Bei Rosi Braidotti heißen diese traditionell die zoe/geo/techno-Dimensionen und umfassen alle Formen von Organismen, aber auch Technologien, die in ihrem Zusammenspiel eine Umwelt erzeugen (vgl. S. 101).
Posthumanes Denken als Empathie
Im fünften Kapitel wird kritisches posthumanistisches Denken nun greifbarer, denn es geht um methodologische Herangehensweisen, diese neue notwendige Art von Wissensproduktion zu implementieren. Unter der Überschrift „How To Do Posthuman Thinking“ eröffnet die Autorin den neuen Abschnitt mit einem Zitat von Albert Einstein: „Wir können Probleme der Gegenwart nicht lösen, indem wir die gleiche Art des Denkens anwenden, das wir anwendeten, als wir diese Probleme geschaffen haben“ (vgl. S. 122). Ich möchte an dieser Stelle lediglich die Kernidee herausgreifen. Im Wesentlichen geht es hierbei darum, die nötige Empathie für das posthumanistische Zeitalter aufzubringen. Dieser gegenwärtig in verschiedenen Feldern sehr populäre Begriff wird von Braidotti nicht tiefer thematisiert, hier geht es eher um eine allgemeine Fähigkeit, sich in nicht-menschliche Wesen einzudenken und einen Perspektivwechsel vornehmen zu können. Für eine posthumane Pädagogik in primären und sekundären Bildungseinrichtungen (S. 140f) schlägt sie vor, das frontale, auf dualistischen Prinzipien fußende Unterrichten aufzugeben zu Gunsten von kollaborativem, erfahrungsbasiertem, sinnlichen Lernen auf Augenhöhe zwischen Kindern, Pädagog_innen und Umwelt. Nun gut, diese Prinzipien, die ja bereits die Reformpädagogik vor 100 Jahren gekannt hat, und die längst Einzug in das Unterrichtsfach der Humanistischen Lebenskunde gehalten hat, sind alles andere als neu. Die konsequente Umsetzung scheitert in der Regel am nach wie vor vorherrschenden profitorientierten Bildungsbegriff.
Am Ende meines Textes sei in diesem Sinne das Buch nicht nur Philosophieinteressierten aus den humanistischen Reihen empfohlen, sondern gerade auch allen im Bildungsbereich Tätigen. In ihrer Abschiedsvorlesung[6] an der Universität Utrecht ließ Braidotti das Publikum wissen, wie sie von Kind an zu dem geworden ist, was sie heute ist: dank ihrer unbedingten Liebe zum Lesen und zu Büchern sowie ihrem kompromisslosen Interesse an der Gegenwart. Vor allem letzteres hat vermutlich für ihr spinozianisch, d.h. nicht moralisierendes, affirmativ ethisches Verständnis von Welt gesorgt, das sich zugleich in ihrem typischen von Verve getragenen Rede- und Schreibstil artikuliert. Allein dafür lohnt es sich, ihre Texte zu lesen und das von ihr ausgehende Gebot der Stunde zu verstehen: Hoffnungslosigkeit ist kein Projekt! (vgl. S. 8)
Dr. Barbara Lemberger ist Lehrkraft für Humanistische Lebenskunde und Europäische Ethnologin. Ihr Interesse gilt Fragen nach Migration und Mobilität.
Anmerkungen
[1] Rosi Braidotti war zudem eine Pionierin der Frauen- und Geschlechterforschung, die Fragen auf diesem Gebiet seit den frühen 1990er Jahren in Zusammenhang mit Tech- und Cyberthemen analysierte.
[2] Dieses Kernvokabular zum Auflösen von Dualismen formulierte sie 1994 in ihrem grundlegend programmatischen Werk „Nomadic subjects. Embodiement and Sexual difference in Contemporary Feminist Theory”, Cambridge: CUP dargelegt sowie in “Patterns of dissonance” 1996
[3] Das Wörtchen post verweist nicht nur in der Braidottschen Begriffswelt darauf, dass sich die Gesellschaft in einem langen Übergangsmoment befindet, in dem sich aus dem bestehend-Vergangenem etwas Neues, noch nicht Absehbares formiert, vgl. hierzu beispielsweise R. Braidotti: „Nomadic Theory. The Portable Braidotti“, New York, NY, 2011, S.8.
[4] Die vierte industrielle Revolution bezeichnet allgemein die internetbasierte intelligente Vernetzung von Mensch, Maschine und Produkten.
[5] Der Begriff geht auf das vielbeachtete Buch „The Sixth Extinction“ von Elizabeth Kolbert (2015) zurück, in dem sie schildert, dass die aktuelle Dezimierung der Spezien in globalem Ausmaß zum ersten Mal in der Erdgeschichte ausschließlich von Menschen verursacht wird.
[6] Rosi Braidotti, Abschiedsvorlesung an der Universität Utrecht Juni 2022: “Affirmative Ethics: We Are Rooted But We Flow”, online unter: https://vimeo.com/720589834 (Zugriff: 15.12.2022).
Die Rezension ist auch als zitierfähiges PDF verfügbar.
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