Wie Menschen als sozio-kulturelle Wesen Leben und Überleben

Bild: Ulkar Batista | pexels

Wie Menschen als sozio-kulturelle Wesen Leben und Überleben

Skizze einer materialistisch-handlungsorientierten Kulturanthropologie des Menschen

Edmund Fröse

 

1. Einleitung: Sind Menschen und Möhren vergleichbar?

Neueste Erkenntnisse der Naturwissenschaften und neue technisch-technologische Entwicklungen haben in der Geschichte immer wieder zu einer veränderten Sichtweise auf den Menschen und Auffassung vom Menschen geführt, der sich nicht nur im „Spiegel“ der Tiere, sondern auch im „Spiegel“ der Maschine bestimmt. Wie sich der Mensch bestimmt, gründet sich auch in seinen sozio-kulturellen Verhältnissen, in denen er lebt, seine Lebensmittel, seine Werkzeuge und die Kunst in Auseinandersetzung mit der Natur produziert, in denen die Menschen miteinander kommunizieren und Erkenntnisse gewinnen. Die individuelle wie auch die gemeinschaftliche Selbstbestimmung sind kein Selbstzweck, sondern leiten unser Handeln, Denken und Urteilen. Wie sich Menschen bestimmen, öffnet oder schließt zukünftige Handlungsoptionen.

Gegenwärtig führen einerseits die Ergebnisse der Neurowissenschaften wie auch der Genetik und andererseits die Entwicklungen einer Künstlichen Intelligenz zu einer breiten Diskussion über ein neues Bild vom Menschen. Die Neurowissenschaften und die Forschungen zur Künstlichen Intelligenz haben ihre gemeinsame Schnittmenge darin, dass sowohl das Gehirn oder die Gene und damit der Mensch als auch die Künstliche Intelligenz als informationsverarbeitende Systeme interpretiert werden. Beide, sowohl der Mensch als auch die Künstliche Intelligenz, funktionieren entsprechend ihrer Programmierung und der Abarbeitung eines Algorithmus. Die immer effektivere Informationsverarbeitung auf der Grundlage von Daten wird aus dieser funktionalistischen Sichtweise als ein universeller Mechanismus der biologischen Evolution, der nichtbiologischen Entwicklung sowie der Entwicklung der von Menschen hergestellten Maschinen angesehen.[1]

Das neueste Wissen aus der Forschung aufnehmend, werden derzeit technologisch-posthumanistische, transhumanistische und naturalistische Menschenbilder diskutiert und sind als ein neuer Humanismus in breiten Kreisen etabliert. Durch diese Bilder vom Menschen wird das bisher bestimmende geisteswissenschaftliche Menschenbild herausgefordert und in Frage gestellt. Denn auch das durch die Kultur- und Geisteswissenschaften geprägte, humanistische Menschenbild muss auf die neuen technisch-technologischen Herausforderungen, die ökonomischen Ungleichheiten, weltanschaulichen Debatten und insbesondere ökologischen Herausforderungen Antworten finden.

Der Transhumanismus ist auf eine geistige und körperliche Transformation des Menschen als „Verbesserung“ mittels moderner Technologien gerichtet. Im technologischen Posthumanismus soll sich der Mensch in ein künstliches Wesen verwandeln und mit der Maschine verschmelzen, was als neue, weitere Form menschlicher Evolution verstanden wird.[2] In der naturalistischen Neuinterpretation wird der Mensch wesentlich als ein in die Naturkausalitäten eingebettetes biologisches Wesen verstanden. In der sozio-kulturellen Sichtweise des Neoliberalismus wird der Mensch als homo oeconomicus aufgefasst, der in seinen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entscheidungen wesentlich den Signalen der Märkte und den Erfordernissen des Wettbewerbs folgt.

Der unmittelbare Anlass, diesen Aufsatz zu verfassen, ergab sich aus der Lektüre des Artikels von Dag-Udo Lippe „Von Menschen und Möhren“ in „humanismus aktuell“ vom 27. Januar 2023.[3] In diesem Aufsatz geht der Verfasser davon aus, dass es für die unbelebte wie belebte Natur „einen homologen Bauplan“, von der Art einer „kosmischen DNA“ (S. 4) oder einer universellen Intelligenz (S. 2) gibt. „Für ein tieferes Verständnis von Intelligenz“ und von „axiomatischer Bedeutung“ ist die Vorstellung, dass sich „das Materielle im und anlässlich des Geistigen selbst“ manifestiert (S. 2). Das Geistige, d.h. eine universelle kosmische Intelligenz ist die Ursache der Manifestation alles Materiellen. Und der universelle Algorithmus dieser Intelligenz steuert den Prozess der Entfaltung materieller Strukturen, einschließlich der Entstehung des Menschen und der vom Menschen hergestellten Computer? Denn wie Dag-Udo Lippe schreibt, geht die Entfaltung komplexer Seinsstrukturen – auch der Computer ist eine Seinsstruktur – zurück auf dieselbe „kosmische Software“ als allen Dingen „innewohnende gestaltende Kraft von universellem Charakter“, die sowohl für die Inbetriebnahme von Menschen wie auch von Möhren und im Prinzip auch alles andere zuständig ist (S. 1).[4] „Vermutlich haben wir es hier mit einer Art kosmischer DNA zu tun, die sich etwa mit dem Genom als dem Rezept zur Herstellung von Leben oder auch im weitesten Sinne mit den Befehlen und Algorithmen vergleichen lässt, die das Entpacken einer »ZIP«-Datei ermöglichen“, so Dag-Udo Lippe (S. 4). Dag-Udo Lippe, wie auch einige Anhänger eines neuen Humanismus,[5] vertreten mit dieser Auffassung ein informationstechnisches, funktionalistisches, platonisch-mathematisches Weltbild, in dem die Welt aus einzelnen Informationen besteht, die sich durch formale algorithmische Regeln zusammensetzen und miteinander verknüpfen.[6] In diesem informationszentrierten Welt- und Menschenbild sind Computer, die DNA und auch die Gehirne der Menschen universelle Apparate zur Bearbeitung und Verarbeitung von Symbolen und Informationen. Aus dieser informationstheoretischen, weltbildlichen Sichtweise lassen sich mentale und kognitive Leistungen des Menschen „unabhängig von ihrer physiologischen Basis“ beschreiben und können „völlig unabhängig von ihrer materiellen Realisierung im Gehirn algorithmisch“ dargestellt werden.[7]

Von anderen Naturwesen, insbesondere den Möhren, unterscheidet sich der Mensch, so die Auffassung des Verfassers im o.g. Aufsatz, „durch die Fähigkeit zur Imagination. Nichts mehr und nichts weniger“ (S. 5). Die zentralen Elemente des Bildes vom Menschen sind für Dag-Udo Lippe in diesem Aufsatz die Vernunft und die Rationalität als geistige Kompetenzen eines eigenverantwortlich handelnden Menschen. Seine körperliche Konstitution, bzw. Körperlichkeit, seine Empfindungen, Gefühle, Stimmungen und Befindlichkeiten kommen damit gar nicht in den Blick. Auch dass Menschen wesentlich körperlich tätige Wesen sind, wird ausgeblendet. Sind Menschen aus der Sichtweise informationsverarbeitender Systeme in ihrer Imagination tatsächlich frei, wenn für ihre „Inbetriebnahme“ doch eine „kosmischen Software“ (S. 1) zuständig ist, deren Programm die Menschen als Exekutoren einer „individuelle Betriebssoftware“ nur entfalten (S. 5)? Mit diesem Menschenbild wird der Auffassung Vorschub geleistet, systematische, sozial-ökonomische und institutionelle Probleme moderner kapitalistischer Gesellschaften als Versagen des einzelnen Menschen zu deklarieren und zu pathologisieren. Damit wird gleichzeitig einem liberalistisch-individualistischen Bild vom Menschen das Wort geredet. Thomas Fuchs konstatiert „angesichts der technologischen Entwicklung der Gegenwart“ eine „erstaunliche Entmaterialisierung“ und „Entkörperung des Geistes, die Sublimierung des Stoffes zur reinen Form, die Umwandlung alles Physischen in Zahlen und Zeichen.“[8]

Der gesamte Aufsatz steht Ihnen als zitierfähiges PDF zum Lesen und Downloaden zur Verfügung.

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