Seiten: 416 Seiten
ISBN: 978-3806245592
Rezensent: Irina Spiegel
Der Fähigkeitenansatz – zum Schutz und Gedeihen empfindungsfähiger Tiere
Die einflussreiche US-amerikanische Philosophin Martha Nussbaum plädiert in ihrem neuesten Buch für nichts Geringeres als buchstäbliche, nicht nur metaphorische Gerechtigkeit für Tiere. Mittels einer Ausweitung ihres Fähigkeitenansatzes (FA) versucht sie eine solide philosophische Grundlage für eine substanzielle Konzeption der Tierrechte zu liefern. Nicht nur Menschen, sondern alle empfindungsfähigen Tiere des Planeten sollen ihre Fähigkeiten voll entfalten können. Nussbaum möchte mit dem Buch den Politikerinnen und Tierrechtlern nicht nur eine robustere theoretische Grundlage anbieten, sondern ihnen auch eine praktische Anleitung mitgeben, damit sie politisch und juristisch für eine schnelle Erweiterung und bessere Umsetzung der Tierrechte sorgen können.
Das Buch könnte nicht aktueller sein. Im Zuge des globalen, menschengemachten Klimawandels befindet sich die Erde mitten im sechsten großen Artensterben.[1] Durch ihre kenntnisreiche und einfühlsame Schreib- und Denkweise versucht Nussbaum, die Leser und Leserinnen für das menschengemachte Leiden und drohende Aussterben der Tiere zu sensibilisieren. Der Duktus des Buches ist stark emotional gefärbt, was in Anbetracht des Leides und der Bedrohung aller empfindungsfähigen Wesen auch angemessen ist. Die Frage ist nur, wie weit die emotionale Emphase auch theoretisch tragen kann. Denn der theoretische Überbau ist für Nussbaum wesentlich. Emotionen können zwar das Handeln besser motivieren als rein theoretische Überlegungen, aber Emotionen können ohne eine solide Argumentation auch zu kontraproduktivem Verhalten führen. Ob also Nussbaums Argumente wirklich überzeugen, wird sich im Folgenden zeigen.
Bevor Nussbaum zu ihren theoretischen Ausführungen kommt, beschreibt sie zunächst sehr eindringlich, wie katastrophal die Lage der Tiere heutzutage weltweit ist: „Der Mensch beherrscht die gesamte Welt: an Land, auf den Meeren und in der Luft. Kein nicht menschliches Tier entkommt der menschlichen Herrschaft. Häufig fügt diese Herrschaft den Tieren unrechtmäßig Schaden zu: sei es durch die barbarischen Grausamkeiten der Fleischindustrie, durch Wilderei und Jagd, durch die Zerstörung von Lebensräumen, die Verschmutzung der Luft und der Meere oder die Vernachlässigung von Haustieren, welche die Menschen angeblich lieben.“ (7)
Das Problem der menschlichen Grausamkeit gegenüber den Tieren ist also nicht neu. Ihre Reichweite hat sich nach Nussbaum jedoch ständig erweitert, so dass die Beteiligung der Menschen daran massiv zugenommen hat. (8) Fast alle Menschen sind heutzutage mehr oder weniger in für Tiere schädliche Verhaltensweisen verstrickt. Aber Schuldzuweisungen bringen uns hier nach Nussbaum auch nicht weiter. Sie plädiert dafür, dringend der kollektiven Pflicht nachzugehen, „sich diesen Problemen zu stellen und sie zu lösen.“ (ebd.)
Diese kollektive Pflicht wird von der zunehmenden Erforschung hochentwickelter Tiere noch verstärkt. Wir wissen heute mehr über die gewiefte Intelligenz, subjektive Empfindungen und komplexes soziales Verhalten verschiedener Tierarten. Nussbaum stützt sich also systematisch auf die neuesten Forschungsergebnisse und beschreibt, wie die Grenze zwischen Mensch und Tier immer mehr schwindet. (11) Für die Neo-Aristotelikerin streben alle empfindungsfähigen Tiere danach, „sich vollständig zu entwickeln, […] jedes von ihnen verfügt über soziale und individuelle Fähigkeiten, die es ihm ermöglichen, in einer Welt, die Tiere vor schwierige Herausforderungen stellt, ein gutes Leben zu führen.“ (ebd.) Das macht für sie auch die „Würde der Tiere“ aus, woraus die einklagbaren Rechte der Tiere ihren Ursprung nehmen. Das aktuelle Recht, sowohl das nationale als auch internationale, samt politischen Theorien, bieten nach Nussbaum bis heute keine guten Möglichkeiten, dieser „Würde der Tiere“ gerecht zu werden. In ihrem Buch fordert Nussbaum dazu auf, das Recht der Tiere als genuin einklagbare Rechte zu konzipieren. Um dies zu erreichen, sagt sie, ist eine richtige Theorie notwendig. Mit dem Buch meint Nussbaum eine solche Theorie zu liefern.
Um die Leser*innen gleich am Anfang emotional mitzunehmen, porträtiert sie zunächst die verschiedenen Tier-Persönlichkeiten. Sie erzählt regelrechte „Biographien“ der Elefantenmutter Virginia, des Buckelwals Hal, der Sau Kaiserin von Blandings, des Finks Jean-Pierre und der Hündin Lupa. Nussbaum illustriert damit, wie nicht nur Menschen, sondern auch empfindungsfähige Tiere ihre eigene Lebensform und sogar Biographie haben können. Das ist für den auf Tiere angepassten FA nicht unwichtig, denn so wie der Mensch danach strebt, sein ihm charakteristisches Leben zu leben, strebt z. B. der Wal nach dem Leben eines Wals usw. „Nach dem FA sollte jedes empfindungsfähige Lebewesen (das in der Lage ist, eine subjektive Sicht auf die Welt zu haben sowie Schmerz und Freude zu empfinden) die Möglichkeit haben, sich in der für dieses Lebewesen charakteristischen Lebensform zu entfalten.“ (21) Dabei geht es im FA nicht nur um Schmerz- und Lustempfindungen. Das wäre eine unzulässige Reduktion der Komplexität und Vielfalt der Fähigkeiten der Tiere. Schmerz ist zwar eine der Hauptursachen für Ungerechtigkeit und Leid im Leben von Tieren, er ist jedoch bei Weitem nicht die einzige. Tiere brauchen soziale Interaktion, Spiel und Anregung und vieles mehr, um ihr je spezifisches Leben voll entfaltet leben zu können. (22) Dies ist empirisch belegt und macht im Grunde den essentiellen Kern des Gerechtigkeitsansatzes von Nussbaum aus.
Drei politischen Emotionen – Staunen, Mitgefühl und Empörung
Im ersten Kapitel geht Nussbaum auf die „alltägliche, vorphilosophische Vorstellung von Ungerechtigkeit“ ein, die für sie in der Auffassung besteht, dass jemand danach strebt, sein je eigenes Leben zu führen, und von jemand anderem daran gehindert wird – und zwar zu Unrecht, sei es vorsätzlich oder fahrlässig. Weil Nussbaum Tiere als Subjekte begreift, kann sie behaupten, dass Tiere nicht nur geschädigt werden, sondern tatsächlich „Unrecht im Sinne einer unrechtmäßigen Vereitelung eines bedeutsamen Strebens“ erleiden. (31) Es ist jedoch oft sehr schwer herauszufinden, wann und von wem Unrecht begangen wird. Nussbaum geht hier phänomenologisch vor, wobei drei wesentliche Emotionen oder Einstellungen eine orientierende Rolle spielen.
Um zu entscheiden, wann jeweils eine Ungerechtigkeit vorliegt, müssen wir nach Nussbaum zunächst einmal wissen, was es für das jeweilige Tier heißt, ein ihm je eigenes (erfülltes) Leben zu führen. Hier ist eine Kultivierung des Staunens sehr hilfreich. Staunen motiviert dazu, die komplexen Fähigkeiten und Verhaltensweisen des jeweiligen Tieres wahrzunehmen und auch die Bedeutsamkeit seines inneren Lebens vorzustellen. (36f.) Das für das Gerechtigkeitsempfinden notwendige Mitgefühl setzt nach Nussbaum eine aus dem Staunen erwachsende Vorstellung voraus. Nussbaum beschreibt ganz fein, wie Staunen und Mitgefühl zusammenhängen und wie ohne ein Staunen, d. h. ohne eine staunende Distanz zur Andersartigkeit des tierischen Lebens, dieses Mitgefühl irrational und damit kontraproduktiv wird. Ohne diese Distanz im Staunen würde man die Tiere dermaßen vermenschlichen, dass ihre spezielle Eigenartigkeit verloren gehen und das Mitgefühl so seine Rationalität verlieren kann. Wichtig ist Nussbaum also, dass das aus dem Staunen erwachsene Mitgefühl angesichts des Leidens der Tiere, ein darin begründetes Gefühl der Empörung oder des Übergangszornes wohldosiert hervorbringt. Eine solche wohlbegründete und wohlbegründete Empörung kann dann zum richtigen (politischen) Handeln motivieren. „Staunen erregt unsere Aufmerksamkeit, lässt uns aus uns selbst herausgehen und weckt unsere Neugier auf eine fremde Welt. Mitgefühl verbindet uns durch eine starke emotionale Erfahrung mit einem leidenden Tier. Übergangszorn bereitet uns auf das Handeln vor.“ (41)
Nussbaums Ergründung des Zusammenhangs der handlungsmotivierenden Emotionen bzw. emotionalen Einstellungen ist, meines Erachtens, eines der stärksten Kapitel des Buches. Dieser Passus ist in sich gut begründet und ein notwendiges Element in Nussbaums Forderung nach einem raschen Handeln für das Wohl und die Rettung der Tiere. Doch reicht diese Emotionsgrundierung lange nicht aus, um eine Theorie der Tiergerechtigkeit hinreichend zu begründen, aus der dann entsprechende juristische und politische Handlungsinstrumente folgen könnten. Dazu ist auch eine „angemessene Theorie“ notwendig, die Nussbaum zu liefern verspricht. Bevor sie aber zu ihrem theoretischen Ansatz kommt, geht sie mit einem starken kooperativen Willen auf die alternativen Theorien ein, weist ihre theoretischen und praktischen Mängel auf, verweist aber auch auf die jeweiligen Übereinstimmungen mit ihrem eigenen Ansatz. Ihr stark auf Kooperation ausgerichteter Umgang mit „gegnerischen“ Theorien ist bemerkenswert, und kann als vorbildlich dafür gelten, dass sich „Menschen guten Willens aus unterschiedlichen Lagern in einer gemeinsamen Anstrengung zusammenschließen können“. (41)
Nussbaums Kritik an dem „Uns-so-ähnlich“-Ansatz
Der „Uns-so-ähnlich“-Ansatz konzentriert sich auf die wenigen Tiere, die Menschen am ähnlichsten sind, wie z. B. Großaffen. Dieser Ansatz ist durch die Arbeit des Rechtswissenschaftlers und Aktivisten Steven Wise in den USA juristisch sehr einflussreich geworden. Ohne Weiteres lässt sich direkt erkennen, dass der Ansatz der großen Vielfalt der Tiere nicht gerecht wird. Wise argumentiert pragmatisch, weil er an die Intuition der (oft) konservativen Richter in den USA anknüpft. So wurden bereits einige Tierrechtsverfahren in den USA gewonnen. (43) Nussbaum lobt diese Erfolge, kritisiert jedoch die theoretische Basis des Ansatzes, die in der religiös-metaphysischen Vorstellung der Scala Naturae gründet, die in den europäisch-nordamerikanischen Kulturen lange Zeit tradiert wurde und immer noch sehr verbreitet ist. Die Scala Naturae beinhaltet eine starre und unabänderliche Hierarchie der Natur, wo der Mensch die Krönung der Schöpfung darstellt, weil er Vernunft und Sprache besitzt und zwischen moralisch Richtigem und Falschem unterscheiden kann, auch wenn er dies in seinem Handeln sehr oft nicht beachtet. (44ff.) Nach Nussbaum sind ähnliche hierarchische Vorstellungen auch im Buddhismus und Hinduismus enthalten. Die moderne Wissenschaft hat die Scala Naturae relativiert. Darwin hat mittels der Evolutionstheorie die absolute Grenze zwischen sogenannten niederen und höheren Tieren aufgelöst. Dennoch ist insbesondere in den USA immer noch die sogenannte „Schöpfungswissenschaft“ und das mit ihr verwandte Intelligent Design weitverbreitet. Beide werden von der Gemeinschaft der Wissenschaftler mehrheitlich abgelehnt, aber offenbar nicht von der Mehrheit der Bürger und Richter in den USA und nicht nur dort. Als ein wirkmächtiges Erklärungsmuster ist Scala Naturae noch lange nicht überwunden.
Nach Nussbaum war es daher zunächst ein kluger pragmatischer Schritt von Steven Wise, juristisch mit denjenigen Vorstellungen zu arbeiten, die nun mal die Realität immer noch dominieren: Der Mensch ist das Maß aller Dinge und alles wird in Bezug auf diesen Maßstab bewertet. Je menschenähnlicher ein Wesen, desto wertvoller. Auch wenn Scala Naturae falsch ist, hat es nach Nussbaum seine pragmatische Berechtigung, weil es manche Richter davon überzeugt hat, dass wenn etwa Kinder und Menschen mit geistigen Behinderungen Rechte haben, auch Tiere, die sehr menschenähnlich sind, Rechte besitzen müssen und nicht wie bloße Dinge behandelt werden dürfen. (53) Die pragmatische bzw. juristische Instrumentalisierung dieses Narrativs durch Steven Wise honoriert Nussbaum durchaus. Und dennoch ist diese Methode ihr zufolge sehr begrenzt, weil sie von falschen Prämissen ausgeht, auch wenn dies juristisch erfolgreich sein mag. Nach Nussbaum öffnet dieser Ansatz zwar ein Türchen, verschließt jedoch gleichzeitig alle anderen. (55) Diejenigen empfindungsfähigen Tiere, die zwar Menschen unähnlich sind, jedoch faszinierende komplexe Fähigkeiten aufweisen, werden ausgeschlossen.
Auch Modifizierungen des Ansatzes, etwa durch eine Erweiterung des „Personenstatus“ auf sog. „fremde Intelligenzen“, wie dies vom kanadischen Philosophen Thomas I. White in Bezug auf Delfine vorgeschlagen wurde (69), ist für Nussbaum immer noch zu anthropozentrisch und ausschließend. Nussbaum gibt jedoch zu, dass der „Uns-so-ähnlich“-Ansatz, selbst wenn er wissenschaftlich überholt und theoretisch widersprüchlich ist, offenbar heute nach der „Lockvogeltaktik“ (58) noch ganz gut funktioniert und so hin und wieder mal wenigstens den menschenähnlichen Tieren ihre Rechte verschafft. Nun behauptet Nussbaum, dass auch ihr Ansatz die Rechte der menschenähnlichen Tiere begründen kann, ohne gleichzeitig alle anderen Tiere auszuschließen. (59)
Bereits an dieser Stelle sei jedoch ein gewisser Zweifel an der Praktikabilität von Nussbaums Ansatz angemeldet: Während sich Wise’ realistischer Ansatz bei aller (wissenschaftlicher) Kritik einige Jahre lang in der Praxis bewährt hat und für juristische Entscheidungen herangezogen wurde, steht Nussbaums ziemlich idealistisch anmutende Ansatz seine praktische Bewährungsprobe noch bevor.
Nussbaums Kritik des utilitaristischen Ansatzes
Dieser Ansatz hat nach Nussbaum großen Respekt verdient, weil seine Vertreter (v.a. Bentham und Mill) die ersten Philosophen sind, die eine größere Sensibilität gegenüber dem Leiden der Tiere zeigten. Innerhalb dieses Ansatzes sind die einzig ethisch relevanten Fakten diejenigen der Lust und des Leidens. Das Ziel eines jeden einzelnen empfindungsfähigen Wesens (nicht nur des Menschen) sei die Maximierung des Nettowerts der Lustempfindungen. (66) Kenntnisreich analysiert Nussbaum Benthams berühmte Fußnote, in der er die Menschen und die empfindungsfähigen Tiere in Bezug auf das Glücksstreben als eine einzige Klasse begreift: Tiere sollen, rechtlich gesehen, gemeinsam mit den Menschen behandelt werden. (66 ff.) Das war zu Benthams Zeiten „erfrischend radikal“ (71). Nach Nussbaum geht bei Bentham analog zur Sensibilität für die Empfindungen der Tiere auch die fürs Körperliche (z. B. Sexualität) des Menschen einher. (70f.) Darin sieht sie die positive Seite des utilitaristischen Ansatzes.
Seine negative Seite deckt sich mit der allgemeinen Kritik am Utilitarismus. Nussbaum entwickelt hier also keine neuen (originellen) Argumente gegen den Utilitarismus. Ihre Kritik daran umfasst grob gesehen die drei folgenden Aspekte: Erstens abstrahiert der Ansatz von den vielfältigen Qualitäten der Empfindungen, Lust und Unlust haben nach Bentham immer die gleiche Qualität. (71) Zweitens ist für Bentham das gesellschaftliche Ziel eine Summe oder ein Durchschnittswert. „Die Verteilung von Lust und Schmerz bleibt unberücksichtigt.“ Gute Gesamtergebnisse können auf unterschiedliche Weise erzielt werden, auch mit relativ viel Elend für Benachteiligte, d. h. mit viel Ungerechtigkeit für benachteiligte Menschen und Tiere. (72) Drittens missachten Utilitaristen bei der Berechnung des Gesamtergebnisses die Bedeutung des individuellen Lebens. (73) „Einzelne Lebewesen zählen lediglich als Gefäße für Vergnügen oder Befriedigung. Könnten wir ein Individuum durch ein anderes ersetzen, das nur ein winziges Maß an zusätzlichem Vergnügen enthält, so sollten wir dies tun.“ (ebd.)
Mit dem üblichen Verweis auf Nozicks „Erlebnismaschine“ zeigt Nussbaum, dass im erfüllten Leben Lust und Unlust nicht die einzigen relevanten Faktoren sind, sondern auch Aktivitäten oder Tätigkeiten als erfüllend erlebt werden können. Menschen und Tiere „lieben es, etwas zu tun; für sie ist es wichtig, der Urheber ihrer Aktivitäten zu sein.“ (74) Der utilitaristische Ansatz kann das nicht erklären. Nachfolger Benthams, Sidgwick und Singer, können nach Nussbaum dieses Problem auch nicht lösen, obwohl ihre philosophischen Argumente ausgefeilter sind als die von Bentham. (74-78)
Die meisten Übereinstimmungen mit dem utilitaristischen Ansatz finden Nussbaum bei Mill, weil er Vergnügen nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ unterscheidet und dabei Werte wie v. a. Handlungsfähigkeit, Gesundheit und soziale Fähigkeit mit der Würde der Lebewesen verbindet. (78) Allerdings hat Mill diese „Würde“ kaum auf die empfindungsfähigen Tiere bezogen, weil er, nach Nussbaum, immer noch von der viktorianischen Prüderie und Scham geprägt war und damit die „tierischen“ Aktivitäten im Vergleich zu den menschlichen als niedrigere betrachtete. (80-81)
Nussbaums Zwischenfazit lautet, dass sowohl die „Uns-so-ähnlich“-Theorie als auch die utilitaristische verkennen, „dass die Welt der Tiere von überraschender Vielfalt und Verschiedenheit ist. […]. Beiden Ansätzen fehlt es am Staunen, an einer Neugier mit weit geöffneten Augen. Der erste Ansatz ist bereit, lediglich ein Muster zu sehen, nämlich das der menschlichen Lebensform; der zweite Ansatz […] lässt nur einen Aspekt des tierischen Lebens gelten […]“, und zwar den der Lust und Unlust. (66)
Nussbaums Kritik des kantischen Ansatzes
Bei ihrer Auslotung des kantischen Ansatzes konzentriert sich Nussbaum auf Christine Korsgaard, die ein bahnbrechendes Buch über Tierrechte geschrieben hat, in dem sie von der kantischen Idee ausgeht, dass wir Geschöpfe immer als Zwecke behandelt werden müssen und nicht einfach nur als Mittel zu unseren Zwecken. Die großartige Leistung Korsgaards sieht Nussbaum darin, dass sie im Gegensatz zu Kant unter den Selbstzweck-Geschöpfen nicht nur Menschen, sondern alle empfindungsfähigen Tiere versteht. (83) Ähnlich wie Nussbaum selbst nutzt sie ein aristotelisches Verständnis davon, dass Tiere ein je spezifisches Streben aufweisen. Damit öffnet sie Kants anthropozentrische Ethik für substanzielle Tierrechte. (85) Sowohl Aristoteles als auch Kant sind für eine kohärente Theorie der Tiergerechtigkeit notwendig, jedoch lange nicht hinreichend, darin stimmen Nussbaum und Korsgaard überein: Kant fehlt die Einsicht, dass den Tieren und ihrem Streben Gerechtigkeit zuteilwerden muss, und Aristoteles fehlt die Einsicht, dass die einzelnen Geschöpfe eine unantastbare Würde haben. (86)
Korsgaard „sieht Tiere, einschließlich der tierischen Natur des Menschen, als sich selbst erhaltende Systeme, die ein Gut anstreben und sich selbst wichtig sind.“ (91) Dennoch kritisiert Nussbaum bei ihr eine bestimmte unüberwindbare Grenze zwischen Tieren und Menschen: „Wir Menschen verfügen noch über einen anderen Teil, nämlich denjenigen, der moralische Überlegungen anstellt und Entscheidungen trifft.“ Und diese moralische Fähigkeit ist nach Korsgaard nicht tierischen Ursprungs. Über diese Fähigkeit verfüge kein Tier. Das bedeutet jedoch nicht, dass Tiere keine moralischen Rechte haben. Sie haben nach Korsgaard nur keine moralischen Pflichten und dennoch eine Würde, weil sie im ihre Recht auf Leben nicht instrumentalisiert werden dürfen. Darin stimmen Nussbaum und Korsgaard überein.
Beide Denkerinnen unterscheiden sich jedoch in der unterschiedlichen Vorstellung des Ursprungs der Moral. Korsgaard besteht darauf, dass nur Menschen über moralische Fähigkeit oder moralische Rationalität verfügen. Für die Kantianerin ist das Verhalten der Tiere vollständig über Instinkte oder Neigungen gesteuert, welche nach Kant amoralischer Natur sind. Genau das wird von Nussbaum stark relativiert. Mittels neuer Forschung zeigt sie, wie selbst in diesem Bereich keine scharfe Grenze zwischen Tier und Mensch verläuft, sondern ein Kontinuum ist. (100-106) Tiere können sich teilweise von ihren unmittelbaren Interessen distanzieren und sie können Perspektiven anderer übernehmen. Sie können sogar mehr als „passive Bürger“ sein (99), nicht nur innerhalb ihrer Spezies, sondern auch in der menschlichen Gemeinschaft können sie sich auch für Menschen einsetzen (104), z. B. die Rettungs- und Blindenhunde.
Nussbaum betrachtet Korsgaards Ansatz berechtigterweise als sehr wertvoll, weil er die Würde der Tiere stark macht, d. h. Tiere dürfen prinzipiell nicht als Mittel für Zwecke instrumentalisiert werden – sie sind jeweils Selbstzwecke. Die moralische Sonderstellung des Menschen bei ihr hält Nussbaum jedoch für überzogen und auch wissenschaftlich überholt.
Der Fähigkeitenansatz (FA) in der Menschenwelt
In dem theoretisch wichtigsten, fünften Kapitel versucht Nussbaum nun ihren eigenen Ansatz, den Fähigkeitenansatz, auf die Tiergerechtigkeit zu erweitern. Sie ist überzeugt, „dass der FA der Vielfalt und Komplexität der Tierwelt besser gerecht werden kann als konkurrierende Ansätze und dass er in Fragen der Tiergerechtigkeit eine solide moralische Grundlage für Politik und Recht bereitstellt.“ (108) Mittels FA möchte sie diejenigen notwendigen Bedingungen erfassen, die ermöglichen, dass Lebewesen sich vollständig entwickeln können, wobei es hier nicht nur um das Vermeiden von Schmerzen geht, sondern um eine Liste positiver Möglichkeiten, solchen wie „sich guter Gesundheit zu erfreuen, die eigene körperliche Unversehrtheit zu schützen, den Gebrauch der eigenen Sinne und der Einbildungskraft zu entwickeln und zu genießen; die Möglichkeit, ein Leben zu planen, in einer Vielzahl von sozialen Zusammenhängen zu stehen, zu spielen und sich zu vergnügen, zu anderen Arten und der Natur in Beziehung zu treten sowie die eigene Umwelt in zentralen Aspekten zu kontrollieren.“ (108) Zunächst schildert sie, wie der FA in der Welt der Menschen entstanden ist. Dabei skizziert sie die Entwicklung des FA als eine gelungene kooperative internationale und interdisziplinäre Unternehmung innerhalb der UN. Dieses Projekt hat dazu beigetragen, dass die rein quantitative (utilitaristische) Messung des Entwicklungs- und Wohlstandes der Länder teilweise durch eine qualitative Erfassung des „Gerechtigkeitsstandes“ einzelner Länder ersetzt wurde.
Die neue Beschreibung der Ungerechtigkeit in der Welt geht von einem breiten Spektrum der Lebensumstände und Fähigkeiten der Menschen aus. Das Wort „Fähigkeit“ steht hier „für eine konkrete, wesentliche Freiheit oder Möglichkeit, in einem bestimmten, als wertvoll angesehenen Lebensbereich zu handeln.“ (113) So wie Nussbaum Fähigkeit (capability) versteht, meint der Begriff mehr als nur eine individuelle Fähigkeit oder Freiheit (engl. functioning as doing) in einem bloß liberalen oder deliberativen Sinne. Es ist für sie eine essentialistische „Fähigkeit“ (engl. capability as doing and being), die auf natürliche Weise vorhanden ist und notwendigerweise in eine – dieser oder jener Fähigkeit entsprechende – Aktivität übergeht. Auf die Kontroverse functioning vs. capability geht Nussbaum allerdings kaum ein, was eine theoretische Schwäche des Buches ist. Denn so steht eine metaphysische Behauptung der Scala Naturae gegen Nussbaums metaphysische Behauptung der „natürlichen Fähigkeiten“, was eine Art „Aussage gegen Aussage“-Situation darstellt. Solche Situationen sind jedoch wissenschaftlich gesehen hochgradig unbefriedigend.
Nussbaums Ansatz ist eine essentialistisch grundierte normative Theorie, mit der sie versucht, der natürlichen Vielfalt der menschlichen und – in diesem Buch nun auch – tierischen Lebensformen gerecht zu werden. „Jede Fähigkeit wird von den anderen getrennt betrachtet und nicht als Mittel zum Erreichen der anderen eingesetzt. (Das Ziel besteht also nicht darin, die Gesamtheit der Fähigkeiten der Menschen zu maximieren.) Es kann sein, dass Menschen in Bezug auf eine Fähigkeit gut dastehen, während sie hinsichtlich einer anderen schlecht abschneiden.[2] Für die Frage der Gerechtigkeit spielen sie alle eine Rolle. Der Ansatz zielt auch nicht darauf ab, die Fähigkeiten innerhalb jedes Fähigkeitsbereichs zu maximieren. Er beabsichtigt stattdessen, in jedem Bereich einen hohen, jedoch angemessenen Schwellenwert zu erreichen.“ (113) Die Schwellenwerte, die sie bei jeder Fähigkeit intuitiv, d. h. nicht theoretisch beschreibt, betrachtet Nussbaum als vorläufig und stets kontextabhängig. (128) Das ist einerseits klug, weil es eine große natürliche und kulturelle Vielfalt an Lebensformen und Lebenswelten auf dem Planeten gibt. Andererseits widerspricht die normative Unterbestimmtheit der Schwellenwerte dann doch ihrem universellen Essentialismus. Nussbaum redet sich an diesem Punkt so heraus, dass sie sagt, die Schwellenwerte können und müssen stets neu ausgehandelt werden. Das ist zwar richtig, doch sagt sie nicht genau, wie ein konkreter und kontextsensitiver Aushandlungsprozess hier ablaufen soll. Sich bei solchen theoretischen Schwierigkeiten zum Beispiel auf John Rawls zu berufen, reicht m. E. nicht aus, weil auch Rawls die normativen Grundkonflikte zwischen verschiedenen Lebensformen theoretisch nicht wirklich auflöst. Die theoretische bzw. normative Basis ist also nicht unbedingt die Stärke dieses Buches. Reichen demgegenüber vielleicht die feinen Intuitionen und wissenschaftlich wohl informierten und kohärent zusammengefügten Beschreibungen aus, um empfindungsfähige Tiere besser zu schützen und sie auch in ihrer je individuellen Lebensform auch gedeihen zu lassen? Wohl kaum, denn bereits bei den Tier-Tier-Konflikten (z.B. Antilope vs. Löwin), aber spätestens, wenn es um die durchaus tragischen Tier-Mensch-Konflikte geht (z. B. Tierversuche vs. Gesundheit der Menschen), kann Nussbaum keine Lösungsansätze anbieten (Kapitel 8).
Ein weiterer gängiger Kritikpunkt an Nussbaums Fähigkeitenansatz, auf den sie im Buch jedoch bedauerlicherweise nicht eingeht, ist, dass der FA paternalistische Dynamiken entfalten kann. Staatliche (paternalistische) Befähigungsmaßnahmen möchte Nussbaum eigentlich nur auf Kinder und Menschen mit geistigen und körperlichen Beeinträchtigungen begrenzen. Aber was ist mit durchaus unmündigen Erwachsenen, die darauf bestehen, z. B. jeden Tag Fleisch aus Massentierhaltung zu essen? Ist es so, dass eine (wenn überhaupt) einmal ausgebildete Fähigkeit für immer da ist (wenn sie mal da war)? Man muss auch zugeben, dass niemand (somit auch Nussbaum nicht) das Problem bis heute gelöst hat und wir hier weiter mit möglichst gut begründeten Intuitionen leben müssen.
Die Kritik an der paternalistischen Dynamik bei Nussbaum ist bezüglich der Menschenwelt durchaus berechtigt. Diese Kritik ist in Bezug auf Tiere jedoch viel weniger schwerwiegend, weil wie bei Kindern, so auch bei Tieren der Paternalismus nicht nur zulässig, sondern auch geboten ist. Wir, mündige Menschen, müssen durch (staatliche) paternalistische Maßnahmen dafür sorgen, dass Kinder im Sinne des FA gedeihen können, d. h. ein für sie gutes Leben leben können. Und genau so müssen wir nach Nussbaum dafür sorgen, dass auch Tiere so geschützt werden, dass sie auch gemäß ihren Fähigkeiten gedeihen und ihre je eigenes gutes Leben leben können. Das heißt nicht, dass Menschen sich um Tiere ähnlich kümmern sollen wie um Kinder. Das würde nach Nussbaum der jeweiligen Lebensart der Tiere eklatant widersprechen. Die paternalistischen Maßnahmen in Bezug auf Tiere dürfen nur so weit gehen, wie ökologische Systeme, in welchen die jeweiligen Tiere seit Millionen von Jahren heimisch sind, (wenigstens regenerativ) intakt bleiben.
Der Fähigkeitenansatz und Gerechtigkeit für Tiere
Es gibt nach Nussbaum keinen Grund, den FA nicht auf die Welt der empfindungsfähigen Tiere anzuwenden. „Auch sie haben eine angeborene Würde, die Achtung und Staunen erweckt. Die Tatsache, dass die Würde eines Delfins oder eines Elefanten nicht genau dieselbe ist wie diejenige eines Menschen, bedeutet nicht, dass hier keine Würde vorhanden ist. Diese schwer zu beschreibende Eigenschaft besagt nach Nussbaum im Grunde, dass ein Wesen eher eine Behandlung als Zweck an sich als eine Verwendung als Mittel verdient.“ (124) Alle Wesen, die Ziele anstreben, sollen eine Chance einer guten Entwicklung erhalten. „Bei der Ausarbeitung von Gesetzen und der Einrichtung von Regierungsinstitutionen müssen Menschen die Führung übernehmen, aber es gibt keinen Grund, warum Menschen dies nur für andere Menschen tun sollten. Es gibt keinen guten Grund für die Behauptung, dass nur einige empfindungsfähige Lebewesen wichtig sind.“ (126)
So wie wir stellvertretend für Kinderrechte eintreten, so können wir auch stellvertretend für Tierrechte eintreten, und sich vom FA dabei anleiten lassen, d. h. uns dabei nicht nur auf Lust und Schmerz konzentrieren, sondern auch viele andere Fähigkeiten mitbedenken. (127) „Allerdings benötigen wir eine genauere Vorstellung von dem Ziel, welches die Komplexität des Lebens der Tiere angemessen berücksichtigt. Für andere Tiere ist, wie auch für uns, das Vermeiden von Schmerzen nicht das Einzige, was zählt. Soziale Beziehungen, Verwandtschaft, Fortpflanzung, freie Bewegung, Spiel und Vergnügen – all das ist für die meisten Tiere wichtig, und je besser wir die einzelnen Lebensformen verstehen, desto vollständiger kann diese Liste werden. […] Wir müssen uns viele Lebensgeschichten von Tieren von Experten erzählen lassen, die eng mit einer bestimmten Tierart zusammengelebt und diese Tiere über lange Zeiträume hinweg studiert haben – wobei unser Blick auf gemeinsame Ziele, innere Vielfalt und vorherrschende Probleme und Hindernisse gerichtet sein sollte.“ (127)
Idealistischer Traum oder doch eine – wenn auch vage – realistische Entwicklungsmöglichkeit? Der Fähigkeitenansatz sollte eigentlich eine Vorlage, als eine Art „virtuelle Verfassung“ für den Entwurf einer jeden realen Verfassung fungieren. (128) Die Realität zeigt jedoch, dass es eher ein schöner Traum ist, dass also kaum eine Regierung die FA-Liste wirklich in ihren Verfassungen aufnimmt, geschweige denn in ihren jeweiligen Wirklichkeiten systematisch umsetzt. Wir bekommen nicht mal eine minimale Gerechtigkeit (im Sinne der Grundfähigkeiten des FA) für die Mehrheit der Menschen in allen Ländern der Welt realisiert. Warum sollte dies nun in Bezug auf empfindungsfähige Tiere klappen? Die Erwiderung von Nussbaum lautet, weil solche normativen Träume den moralischen Fortschritt anleiten und befeuern sowie den Engagierten dieser Welt überhaupt ein Ziel vorgeben. Tiere dürfen dabei nicht ausgeschlossen werden. Die Geschichte zeigt tatsächlich, dass ähnliche Träume irgendwann zumindest teilweise, wenn auch nicht selten von Regressionen begleitet, zur Realität wurden. Die Ächtung der Sklaverei ist so ein Beispiel, den Nussbaum mehrmals anführt, sowie auch die Emanzipation der Frauen bzw. die schrittweise Durchsetzung der Frauenrechte.
Empfindungsfähigkeit als funktionierendes Kriterium?
Wer zur Klasse der empfindungsfähigen Lebewesen gehört, ist die Schlüsselfrage im Buch, weil Nussbaum Ungerechtigkeit als „unrechtmäßige Beeinträchtigung der charakteristischen Lebensaktivitäten eines empfindungsfähigen Tieres“ versteht und „minimale Gerechtigkeit als den Schutz“ (bis zu einer ominösen Schwelle) der zentralen Fähigkeiten von Tieren vorstellt. (148) Welche Lebewesen sollen nun nach Nussbaum als Selbstzweck behandeln werden? Im Lichte ihres FA betrachtet heißt das: „Welche Lebewesen sind in der Lage, für sie bedeutsamen Zielen nachzustreben? Welche sind in ihrem Streben nicht nur beeinträchtigt, sondern zu Unrecht vollkommen unterdrückt?“ (148) Die Arbeitsgrenze für das Empfindungsvermögen konstituiert sich für Nussbaum aus drei Elementen: „1) die Nozizeption, was wörtlich übersetzt „das Erkennen des Schädlichen“ bedeutet, 2) die subjektive Sinneswahrnehmung, d. h. die Welt sieht auf eine bestimmte Weise aus bzw. fühlt sich auf eine bestimmte Weise an, 3) ein Sinn für Bedeutsamkeit oder Dringlichkeit.“ (157) Sie konstatiert, dass Wissenschaftler meistens den ersten Punkt (also Schmerzempfindlichkeit) erforschen, weshalb Nussbaum Punkt 2) und 3) als notwendige philosophische Kriterien der Empfindungsfähigkeit einführt. Drei Punkte umfassen für sie die „Arbeitsgrenze“ zwischen den empfindungsfähigen und empfindungsunfähigen Lebewesen. Zur ersten Klasse gehören alle Säugetiere, aber auch Vögel, Kopffüßler, Reptilien und sogar Fische, zu der zweiten vor allem Insekten und Pflanzen.
Aber überträgt Nussbaum hier nicht zu viel aus der Empfindungswelt der Menschen auf die Empfindungswelt der Tiere? Tappt sie nicht selbst in die Ähnlichkeits- oder Anthropomorphisierungsfalle, die sie unermüdlich bei anderen kritisiert? Sie schildert auf sehr rührende, fast literarische Art und Weise menschenähnliche subjektive Wahrnehmungen und Gefühle sowie menschenähnliche Bedeutsamkeit der Bestrebungen der von ihr geschilderten und favorisierten Tiere. Selbst den Fischen schreibt sie eine rudimentäre Empfindungsfähigkeit zu, weil die neueste Forschung nahelegt, dass Fische Schmerzen empfinden können, obwohl ihre Schmerzrezeptoren sich von der menschlichen Schmerzmatrix deutlich unterscheiden. Also interpretiert Nussbaum das Verhalten der Fische anhand ihrer menschlichen Erfahrungsperspektive als Schmerzverhalten. (162ff.) So setzt sie stillschweigend doch die Menschenähnlichkeit als Kriterium ein. Hinzukommt, dass die Anthropomorphisierung der Fische ihr einen sehr unangenehmen Gewissenskonflikt beschert, den sie fast schon auf exhibitionistische Weise ausbreitet: Nussbaum verzerrt viermal pro Woche Fisch, weil sie das als Sportlerin braucht, und ihr Verdauungsapparat keine Hülsenfrüchte verträgt. Nussbaum hat entschieden, mit diesem Konflikt zu leben, indem sie ihre Ernährung und Gesundheit über das Leben der vielen, sehr vielen Fische stellt (von Fischen, die sogar überfischt sind, wie z. B. ihr Lieblingsfisch, der Heilbutt). Sie versucht ihr Gewissen ein wenig zu beruhigen, indem sie sagt: Es sind ausgewachsene Fische (sie haben ihr Leben gelebt) und sie werden schmerzlos getötet. Aber im Lichte ihrer normativen FA erscheint dies als ein sehr durchsichtiges Feigenblatt. (202-203)
Nussbaum betont, dass sich die Arbeitsgrenze mit der Forschung verschieben kann, dennoch schließt sie die Insekten und Pflanzen, die komplexe und soziale Kommunikationssysteme aufweisen, kategorisch aus, und zwar wiederum aus Ähnlichkeits- bzw. Unähnlichkeitsgründen, die sie an anderen Stellen im Buch als für ungültig erklärt hatte. Noch so ein inkohärenter Punkt.
Phänomenologische Erhellungen
Sehr erhellend sind dagegen Nussbaums Schilderungen der Beziehungen zwischen Menschen und Tieren, die mit Menschen und in der Nähe der Menschen leben. Sie spricht in diesem Zusammenhang vom „symbiotischen Gedeihen“ (231) und davon, dass wir ganz besonders gegenüber den Haustieren und anderen domestizierten Tieren moralische Verantwortung tragen, weil jene wegen Überzüchtung in der Wildnis ohne uns kaum überleben würden. Diese Tiere sind nach Nussbaum Selbstzwecke, d. h. sie bilden keinen Besitz oder „lebende Spielzeuge“ (259). Auch Freundschaft zwischen Mensch und Haustier (sogar wilden Tieren) ist für Nussbaum keine bloße Metapher, sondern eine genuine Freundschaftsbeziehung, was sie als „artenübergreifende Freundschaft“ (319) bezeichnet, die sie an vielen Beispielen illustriert. (303f.)
Zeit des Erwachens
Nussbaum schließt ihr Buch mit einem viel zu kurz geratenen Kapitel über die bestehenden nationalen und internationalen Gesetze zum Tierschutz und Tierwohl. Sie zeigt an einzelnen Beispielen und Gerichtsverfahren, wie begrenzt und mangelhaft hier die nationalen Tierrechte (insbesondere in den USA, weil sich Nussbaum hier am besten auskennt) und auch das internationale Recht sind. Erforderlich sei ein einklagbares internationales Recht, das allerdings sehr schwer durchsetzbar ist. Schließlich bleibt es beim Appell: „Wir Menschen können und müssen bessere Antworten finden. Das Recht kann und muss besser werden.“ (321) Nussbaum hat Hoffnung, weil wir in der „Zeit eines Erwachens“ leben: „Wir werden uns unserer Verwandtschaft mit einer Welt bemerkenswerter intelligenter Lebewesen bewusst und verstehen, dass wir für unseren Umgang mit ihnen wirkliche Verantwortung übernehmen müssen, um eine wahrhaft globale Gerechtigkeit zu erreichen, die alle empfindungsfähigen Wesen umschließt.“ (359)
Es gibt (neben vielen negativen) bereits nicht wenige positive Anzeichen für ein „Erwachen“, z. B. die vielen engagierten, klugen jungen Menschen bei Fridays for Future und anderen Klimabewegungen weltweit. Und wie so oft in der (Menschheits-)Geschichte ist es auch in Bezug auf empfindungsfähige Tiere ein langer und steiniger Weg hin zu mehr Gerechtigkeit. Ein wesentlicher Unterschied zu anderen Emanzipationsbewegungen besteht hier darin, dass Tiere sich nicht selbstermächtigen und selbst für ihre Rechte eintreten können, sondern Menschen als Anwält*innen und Stellvertreter*innen brauchen. Es also voll und ganz unsere kollektive Verantwortung.
Es ist daher wichtig und großartig, dass Nussbaum uns mit diesem Buch auf einen schwierigen Kampf einstimmt. Wenn das Buch von einer kritischen Masse gelesen werden würde, dann hätte es das Potenzial, über „das gute Leben“ der Tiere aufzuklären, das „große Erwachen“ zu forcieren und eventuell mehr Menschen dazu zu animieren, mit Staunen und Mitgefühl die Tiere erst wahrzunehmen und sich dann wohl informiert für ihr Gedeihen, d. h. auch ihr Anrecht darauf, einzusetzen. Und auch wenn Nussbaums Argumentation an manchen Stellen nicht richtig zu überzeugen vermag, manche Passagen sich von ihrem theoretischen Anliegen zu weit entfernen und sie manchmal etwas ausschweifend fabuliert, ist das Buch sehr einfühlsam, wissenschaftlich wohl informiert und im echten Geiste des Humanismus geschrieben, eines Humanismus, der alle empfindungsfähigen Wesen umfasst.
Dr. Irina Spiegel war mehrere Jahre wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie studierte Philosophie, Slawistik und Geschichte an der Universität Oldenburg und promovierte an der Universität Bremen über das politische Denken von Hannah Arendt. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Praktische Philosophie, Philosophische Anthropologie, Normative und Angewandte Ethik.
Anmerkungen
[1] Vgl. die auf humanismus aktuell erschienene Rezension zu Rosi Braidottis Posthuman Knowledge von Barbara Lemberger.
[2] Nussbaum geht leider nicht auf den sogenannten Ableismus ein. Dies ist eine Diskriminierungsform, bei der Menschen mit Einschränkungen Vorurteilen und Benachteiligung ausgesetzt sind. Es lässt sich im Sinne des FA mutmaßen, dass Nussbaum von der schieren Vielfalt gehandicapter und beeinträchtigter Menschen ausgeht sowie, dass alles Mögliche dafür getan werden muss, damit die negativen Beeinträchtigungen dieser Menschen durch die richtigen (paternalistischen) Maßnahmen minimiert werden, so dass sie ihre positiven Fähigkeiten voll und ganz entfalten können.
Die Rezension ist auch als zitierfähiges PDF verfügbar.
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