Handbuch Religionskunde

Herausgeber: Wanda Alberts et al.
Titel: Handbuch Religionskunde in Deutschland
Verlag: De Gruyter 2023
Seiten: 522
Preis: 49,95 €
ISBN: 9783110694413
Rezensent: Horst Groschopp

 

 

 

Eine erschreckende Bilanz

Das vorliegende Werk, erschienen im ersten Quartal 2023 und auf der Internetseite des Verlages kostenfrei in der pdf-Version herunterladbar, ist eine Gemeinschaftsproduktion von religionswissenschaftlichen Forschungs- und Lehreinrichtungen in Hannover und Leipzig, ergänzt durch zahlreiche weitere Expertinnen und Experten zu einzelnen Themen.

Ende Februar gab die Mitherausgeberin Wanda Alberts dem Deutschlandfunk ein Interview, das als Podcast und inzwischen auch verschriftlicht vorliegt. Darin bezeichnet sie nicht nur den Zustand der religiös unabhängigen Religionskunde als „erschreckend“. Sie geht in ihrem Urteil weit über die Kritik an einem Desiderat hinaus und bemängelt die weitgehende Leerstelle einer säkularen Perspektive auf Religion im deutschen Bildungssystem.[1] Mehr noch, da wo Religionskunde unter diesem Namen auftritt, „basiert sie meist auf explizit oder implizit theologisch-normativen, philosophisch-universalisierenden oder religionskritischen Perspektiven. Die empirische Erfassung gelebter und gesellschaftlich verhandelter Religion in religionsübergreifender, säkularer, d.h. nicht religionsaffirmativer und nicht religionskritischer Perspektive kann in Deutschland bestenfalls als seltene Ausnahme bezeichnet werden.“ (S. V f.)

Das Erschreckende an dieser Bilanz ist das unhinterfragte Festhalten an einem von der Wirklichkeit überholten Religions- und Religionsunterrichtsverständnis. Die enge Verquickung von Religion und Staat sowie Kirche und Schule zeigt sich in eben dieser Verhinderung einer wissenschaftlichen Sicht auf Religionen im deutschen Schulsystem. Die auf Trennung ausgerichteten Novemberedikte in der Revolution 1918 wurden nach wenigen Wochen zurückgenommen, wichen 1919 einem Schulkompromiss und wurden nie mehr in dieser Konsequenz umgesetzt, gar gedacht – von der DDR abgesehen, wo die KPD unmittelbar nach Kriegsende, ab 1946, unterstützt von der Sowjetischen Militäradministration an das Programm der USPD von 1918 anknüpfte. Die seit den 1890er Jahren von kulturellen Bewegungen unternommenen Versuche einer rein ethisch orientierten Religionskunde als Unterrichtsfach (statt Religionsunterricht bzw. alternativ dazu) blieben weitgehend wirkungslos, Reste wurden im Nationalsozialismus zerschmettert.

Angesichts dieser vertrackten bildungsgeschichtlichen Situation ist das „Handbuch“ eine Sensation, versteht sich der freie Vertrieb der pdf-Fassung an alle Interessenten als Aufklärungsarbeit. Den Spendern sei Dank. Das ebenso umfangreiche wie tiefgründige „Handbuch“ analysiert den aktuellen Stand dieses Unterrichts, eingeschlossen die Situation in den 16 Bundesländern und mit Seitenblicken auf Österreich und die Schweiz sowie Rückblicken auf das Kaiserreich, die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus und die DDR.

Dem Beitrag zur DDR ist anzumerken, dass er von einer Berner Religionswissenschaftlerin (Anja Kirsch) geschrieben wurde, die sich nicht auf die über ein halbes Jahrhundert ab 1948 gepflegte deutsch-deutsche Verbissenheit und die Abrechnungen mit der DDR nach 1989 mit ihrem Fach Staatsbürgerkunde einlässt. Es dominiert nicht nur erfreuliche Sachlichkeit. Die Autorin kommt sogar zu einem „ungeheuerlichen“ Schluss, dem „Anwendung“ zu gönnen ist:

„Für die Religionswissenschaft bildet die Staatsbürgerkunde ein historisches Beispiel für einen Weltanschauungsunterricht, mit dem die Forschung zu Religionskunde und ‚Alternativ‘-Fächern um die Perspektive auf Modelle der Erziehung zur Säkularität ergänzt wird … Deren Forschungspotenziale sind mit der DDR bei weitem noch nicht ausgeschöpft.“ (S. 106, kursiv im Original) Der von der Autorin angeregte Vergleich mit anderen sozialistischen Ländern in diesen Fragen könnte Erstaunliches zutage fördern, nämlich vor allem die verteidigte Sonderstellung der DDR in Kultur- und Bildungsfragen besonders gegenüber der Sowjetunion und einige Ähnlichkeiten etwa zu Estland und dem tschechischen Teil der ČSSR. Es wäre dies auch ein Zugang zu den geförderten Ritualen wie etwa Jugendweihen und säkulare Bestattungen.

Schon der von Christina Wörstemeyer vorgelegte systematische Überblick im „Handbuch“ über den Religions- und ethikbezogenen Unterricht in der Bundesrepublik gibt einen profunden Einblick in den Sachstand. Ihre Bilanz ist, es sei wiederholt, ernüchternd (besonders S. 48 ff.). Die Schlussfolgerung der Autorin läuft auf einen Arbeitsauftrag hinaus. Die Religionswissenschaft müsse ihr Verhältnis zur Philosophie klären. Eigentlich müsste das heißen: zu den Philosophien, weil ja auch Religion nur in der Mehrzahl vorkommt – Religionen. Das Hauptproblem sieht der Rezensent hier in dem vom „Handbuch“ nachgewiesenen Befund, dass in der Mehrzahl Philosophie das Referenzfach für Ethik ist und deshalb weitgehend die Kulturdimension fehlt, die eine „Lebenskunde“ auszeichnet und Religionskunde zu liefern vermag.

Die Schwierigkeit, einen Überblick des Ist-Standes zu bekommen und diesen darzustellen, ergibt sich aus der deutschen Rechtssituation in Bildungsfragen. Das Grundgesetz regelt nur die allgemeinen Bedingungen und in Sachen Religion greift es wesentlich auf die Weimarer Reichsverfassung von 1919 zurück. Bei allen Kulturangelegenheiten leistet sich die Bundesrepublik den Luxus von 16 Gesetzlichkeiten – jedes Bundesland besitzt eine eigene. Das blockiert alle Reformanstrengungen gerade in Sachen Religionskunde, aber auch Ethik.

Zum einen stellt das „Handbuch“ in diesem Zusammenhang lapidar fest: „Für Religionskunde, wenn sie als von religiösen Institutionen unabhängiger Unterricht verstanden wird, gibt es drei Orte: die Alternativfächer zu konfessionellem Religionsunterricht (soweit Religion darin thematisiert wird), das Fach Lebensgestaltung, Ethik und Religionskunde (LER) in Brandenburg und einen kleinen Bereich des integrativen Ethikunterrichts in Berlin.“

Das heißt im Klartext und historisch betrachtet, den Unterricht in Lebenskunde des Humanistischen Verbandes Berlin-Brandenburg und in Humanistischer Lebenskunde – Freie Religion in Hessen durch die dortige Humanistische Gemeinschaft (die zum HVD gehört) unter Fall eins gerechnet (vgl. S. 36): Es gibt eine solche Religionskunde in einem kleinen Teil des ehemaligen Preußen, in dem es in den 1920er Jahren solche Versuche gab, etwa an „weltlichen Schulen“, und in Hessen, wo der Geschichtskontext noch aufzuklären ist.

Zum anderen stellt die heterogene Lage die Herausgeber des „Handbuches“ die Aufgabe, sich in jedem einzelnen der 16 Bundesländer auf Spurensuche zu begeben. Dies durchdekliniert zu haben, ist eine wichtige Leistung. Dass dabei eine Durchsicht des Faches Ethik herauskommt, entspricht der Absicht. So entsteht nicht nur ein klares Bild seiner Benachteiligung gegenüber dem Religionsunterricht, sondern auch seiner Ferne von Religionskunde, gewissen Willkürlichkeiten seiner Inhalte, das Fehlen universitärer Studiengänge als Voraussetzung für die Lehrkräfte, Bezugnahme (wie schon gesagt) vorrangig auf Philosophie und vor allem: Letztlich unklare rechtliche Rahmenbedingungen, die eine Emanzipation des Faches verhindern. Es liegt im kirchlichen Interesse, diesen Status und die Kleinstaaterei so zu belassen. Eine Änderung ist nicht wissenschaftlich, sondern nur politisch zu erreichen.

Dort, wo Ethik einigermaßen etabliert ist (von den Inhalten einmal abgesehen, in denen Humanismus höchstens als Vergangenheit vorkommt), handelt es sich in der Regel um widerwillige und notgedrungene Reaktionen auf Wünsche von Eltern, die sich den Kirchen entfremdet haben und die nicht wollen, dass ihre Kinder religiös indoktriniert werden. Wenn hier viel erreicht wurde, dann gilt der Status eines Ersatzpflichtfaches. Aber schon der Ausdruck „Ersatz“ zeigt den diskriminierenden Status; was für Ostdeutschland bedeutet: Die Rückeroberung der Schule durch die Kirchen ist erfolgt, aber wenigstens Ethik als Ersatzpflicht oder sogar Wahlpflichtfach erreicht (vgl. das Tableau für ganz Deutschland, S. 32 f.).

Zugleich verweisen die Länderberichte eher nebenbei auf die Zunahme islamischer Religionsangebote in den Schulen.

Auch hinsichtlich der Gestaltung wird das „Handbuch“ seinem Anspruch gerecht: Einleitungen und Zusammenfassungen, Überblicksgrafiken und eigenständige Literaturlisten zu jedem Kapitel. Es gibt ein gut orientierendes Sachregister. Eine Autorenliste wäre nützlich gewesen. Es hätte die erfreuliche Mehrzahl weiblicher Autoren (16:8) plastischer gemacht.

Zum Abschluss einige kritische Anmerkungen zur Geschichte dieses Unterrichts und damit zu dem Bezug auf die „Deutsche Gesellschaft für ethische Kultur“ (DGEK; Oktober 1892 bis Januar 1937).[2] Es fällt auf, dass im Abschnitt über das Kaiserreich Katharina Neef in ihrem Urteil über die DGEK suggeriert, sich hier weitgehend an Susanne Enders orientiert zu haben. Das ist stimmig hinsichtlich der dem Buch von 2002 folgenden Feststellung,[3] die DGEK habe „einen auf universellen Sittengesetzen basierenden Moralunterricht“ einführen wollen. (S. 69) Die meisten Autoren in der DGEK schätzten religiöse Wertvorstellungen hoch ein. Deren Bestes sollte aufgehoben werden in einer säkular verstandenen ethischen Kultur. Gerade Georg von Gizycki, der Hauptgründer, bemühte sich um englische Quellen, wollte Ethisches dort herausfiltern.

Die Autorin meint allerdings, die ethische Kulturbewegung habe einen „pantheistischen Ansatz“ gehabt. Dieser stamme aus dem US-Herkunftsmilieu, den dortigen unitarischen Vereinigungen. Er sei übernommen worden. Sie beruft sich hier auf einen Enders-Text von 2006. (ebenfalls S. 69) Dieser ist weitgehend die Kurzfassung einiger Passagen ihres Buches von 2002. Nach Vergleich ihres Textes von 2006 mit der im „Handbuch“ vorfindlichen Textstelle ergibt sich, dass die Konstatierung von Pantheismus und Unitariermilieu nicht von Enders stammt.

Die inneren Wechselwirkungen in Nordamerika, die zur dortigen ethischen Bewegung führten, sind nicht untersucht, jedenfalls nicht in der deutschsprachigen wissenschaftlichen Literatur präsent. Es ist aber festzustellen, dass der Einfluss des „Humanismus der Juden“ auf das Religions- und Humanismusverständnis der DGEK, sowohl des einheimischen wie des amerikanischen, sehr groß war. Der Hinweis auf diese Herkunft stammt vom freidenkerischen norwegischen Philosophen Finngeir Hiorth. Man habe in den USA die liberale und ethische Bewegung um Felix Adler so bezeichnet, führte er 1996 in einer Studie aus.[4]

Adler kam aus dem deutschen Reformjudentum, etablierte 1876 in New York die Society of Ethical Culture und trug 1890/1892 entscheidend zur Gründung der DGEK bei. Er lehrte schließlich 1902 (bis 1918) politische und soziale Ethik an der Columbia Universität.

Es ist in diesem Zusammenhang auf eine Fehlstelle im „Handbuch“ zu verweisen, die mit dem nicht erwähnten Rudolph Penzig zusammenhängt, der ab 1895 für die Kinder der Mitglieder der DGEK in Berlin einige Jahre Unterricht in Religionskunde erteilte. Er wurde schließlich zur führenden Figur der DGEK und zum Experten für Religions- und Lebenskunde. Im August 1921 bat ihn der damalige preußische Kultusminister Konrad Haenisch um eine Denkschrift, denn er wollte für die nicht am Religionsunterricht teilnehmenden Kinder einen Ersatz einrichten. Penzig lieferte prompt.

Am 22. Dezember 1921 wurden daraufhin die Fächer Lebenskunde und Allgemeine Religionskunde, wenn Eltern dies wünschten, als einzige Ausnahme vom verbindlichen Lehrplan der preußischen Volksschulen genehmigt: „Es ist nur nachgelassen, daß den am Religionsunterricht nicht teilnehmenden Kindern in den für Religionsunterricht vorgesehenen Stunden Moralunterricht (Unterricht in sittlicher Lebenskunde, allgemeine Religionskunde) erteilt wird.“[5]

Damit war Religionskunde wohl erstmals in Deutschland ein legitimes Schulfach, wenn auch lediglich als Ersatzunterricht. Penzig publizierte 1927 als letztes Buch vor seinen abschließenden „Erinnerungen“ seine Denkschrift von 1921 an den Minister und seine eigenen Texte über Lebenskunde kurz vor und während der Revolution 1918/1919 in der „Weltlichen Schule“, der Beilage zur „Ethischen Kultur“.[6]

 

Anmerkungen

[1] Vgl. https://www.deutschlandfunk.de/religionswissenschaftlerin-alberts-zustand-der-religionskunde-erschreckend-dlf-934c3492-100.html [abgerufen am 13.3.2023].

[2] Im Folgenden werden Passagen aus dem wahrscheinlich im Sommer 2023 bei Alibri erscheinenden Buch von Horst Groschopp und Eckhard Müller verwendet: Aus der Ethik eine Religion machen. Der praktische Humanismus einer sozialliberalen Kulturbewegung.

[3] Vgl. Susanne Enders: Moralunterricht und Lebenskunde. Bad Heilbrunn 2002, S. 55-83.

[4] Vgl. Finngeir Hiorth: Humanismus – genau betrachtet. Eine Einführung. Neustadt am Rübenberge 1996, S. 21-25. – Vgl. S. 23: „Die Bewegung für ethische Kultur wurde auch der ‘Humanismus der Juden’ genannt, da sie viele Mitglieder hatte, die aus dem Judentum kamen.“

[5] Felix Theegarten: Sammelklassen und Sammelschulen für die nicht am Religionsunterricht teilnehmenden Kinder. Zusammenstellung der einschlägigen Ministerialerlasse. 2. Auflage [Stand vom 15. Januar 1927]. Berlin 1927, S. 28.

[6] Rudolph Penzig: Religionskunde und Lebenskunde in der weltlichen Schule. Frankfurt a. M. 1926 (das Werk erschien erst 1927).

 

Die Rezension ist auch als zitierfähiges PDF verfügbar.

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