Francis Seeck: Zugang verwehrt

 

Autorin: Francis Seeck
Erschienen: Atrium, Zürich 2022
Seiten: 125
Preis: 9,00 €
ISBN: 978-3-85535-128-2
Rezensentin: Antonia Siebeck

 

 

 

2018 kam die OECD zu dem erschreckenden Urteil, dass es in Deutschland durchschnittlich sechs Generationen braucht, „bis Personen aus einkommensarmen Familien das Durchschnittseinkommen erreichen.“ (9) Sechs Generationen – das sind so viele Jahrzehnte, dass für die einzelne kaum eine Chance auf sozialen Aufstieg in irgendeiner Form besteht. „Wer arm geboren wird, bleibt meist arm“ (9). Dass dem so ist, ist weder Zufall noch ein Fehler derer, die als einkommensarme Personen davon betroffen sind. Es handelt sich stattdessen um ein strukturelles Problem unseres Systems, bei dem eben jenen Personen von Beginn an auf sämtlichen Ebenen Steine in den Weg gelegt werden. Dies geschieht durch bestimmte gesellschaftliche und systemische Strukturen, durch etablierte Normen und verbreitete, teils unbewusste Haltungen. Sie werden durch einzelne, vielfach scheinbar unproblematische Handlungen und Gewohnheiten reproduziert und dadurch gefestigt. All diese Strukturen eint, dass sie einer bestimmten Gruppe an Menschen, die sich durch ein gemeinsames Merkmal auszeichnet, erforderliche Mittel und Möglichkeiten innerhalb der Gesellschaft vorenthalten. Dadurch wird diese Gruppe im Vergleich zum Rest der Gesellschaft grundlegend daran gehindert, ihre Potentiale auszuschöpfen und ihre Fähigkeiten zu entfalten[1] – Ein Mechanismus, der dazu beiträgt, dass soziale Hierarchien mit ihrem Charakter der Unterdrückung aufrechterhalten werden.

Dieses Phänomen wird als strukturelle Diskriminierung bezeichnet und vor allem im Kontext von Rassismen vielfach diskutiert. Dass es jedoch auch Menschen betrifft, die laut dem System weder den ‚richtigen‘ Bildungshintergrund noch das erwartete Vermögen besitzen, ist kaum bekannt. Doch es ist deshalb nicht weniger real.

Klassismus nennt sich diese Form der Diskriminierung, die Francis Seeck äußerst treffend als ‚ignorierte‘ Diskriminierungsform beschreibt. Ihr aktuelles Buch Zugang verwehrt. Keine Chance in der Klassengesellschaft: Wie Klassismus soziale Ungleichheit fördert leistet deshalb einen wichtigen Beitrag zu der zwingend notwendigen Auseinandersetzung mit diesem Problem. Ziel des Buches ist, das Phänomen in seinen realen Auswirkungen verstehbar zu machen, für diese zu sensibilisieren und damit letztlich dazu aufzufordern, klassistische Strukturen nicht weiter in dieser Form zu reproduzieren. Hierbei liegt Seecks Stärke ganz klar in einer weitsichtigen Betrachtung, die zum einen dem Facettenreichtum der Diskriminierungen gerecht wird. Zum anderen gelingt es ihr dadurch, die Verschränkungen mit anderen Diskriminierungsformen so zu beleuchten, dass das Phänomen nicht seiner Komplexität beraubt wird. Und trotzdem entsteht dadurch kein undurchdringliches Fachbuch, sondern eine gut verständliche Einführung in die Ungerechtigkeiten der deutschen Klassengesellschaft.

Das Buch ist so aufgebaut, dass Klassismus zunächst als Diskriminierungsform allgemein erläutert wird. Was bedeutet Diskriminierung? Wer ist im Falle des Klassismus davon betroffen? Woran zeigt sich Klassismus in Deutschland? Und was versteht man überhaupt unter dem Begriff der Klasse, auf dem diese Form der Diskriminierung beruht?

Der anschließende zweite und größere Teil (Kapitel 3 – 7) untersucht die verschiedenen Bereiche, in denen Klassismus auftritt und betrachtet so beispielsweise Ungleichheiten im Bildungssystem oder der Kulturszene. Die Vielfalt der Ebenen lässt hierbei keinen Zweifel daran, dass Klassismus die generelle soziale Ungleichheit stark befeuert. Es folgt ein kurzer Exkurs in das nur auf den ersten Blick klassenlose System der DDR. Selbst diese proletarische Gesellschaft war in Wahrheit nicht vor Klassismus gefeit (Kapitel 8), da sie Personen, die dem Ideal des/der Arbeiter*in nicht entsprachen, hart sanktionierte und stigmatisierte. Anschließend untersucht Seeck Formen von Mehrfachdiskriminierung, in die Klassismus involviert ist. Es zeigt sich, dass die soziale Ordnung zwar durch unterschiedliche Formen von Diskriminierung geprägt wird; allerdings läuft es vielfach darauf hinaus, dass ähnliche Gruppen von Menschen dadurch marginalisiert und in das untere Ende der Ordnung abgedrängt werden. In diesem Sinne verdeutlicht Seecks Buch sehr anschaulich, wie beispielsweise Rassismen und Klassismen ineinandergreifen. Doch nicht nur in diese Richtung sind Korrelationen zu beobachten. Kapitel 11 zeigt, dass eine erfolgreiche Klassismuskritik auch grundlegende ökonomische Fragen der Verteilung sowie neoliberale Ideologien in den Blick nehmen muss. Umgekehrt darf zugleich eine Kapitalismuskritik nicht übersehen, dass bestehende Machtverhältnisse in dem System auf klassistische Strukturen bauen. So gilt, beide füreinander fruchtbar zu machen, um das eine oder andere effektiv voranzubringen. Diese Verschränkungen, diese Omnipräsenz des Klassismus ist es, die Francis Seeck das Buch mit einem klaren Appell schließen lässt: „Wir müssen über Klassismus sprechen!“ (97). Wir müssen gegen die klassistische Ausgrenzung, die Erniedrigung und die Unterdrückung aufbegehren, um einer steigenden sozialen Ungleichheit Einhalt zu gebieten.

Und dabei bleibt kein Zweifel, dass Seeck diese Dringlichkeit nicht überspitzt, sondern in all ihrer realen Ernsthaftigkeit darstellt. Denn sie verfügt als promovierte Autorin zum einen über das theoretische, als Antidiskriminierungstrainerin, zugleich aber auch das praktische Verständnis davon, was klassistische Strukturen sind und wie sie wirken. Darüber hinaus macht sie mit autobiografischen Anknüpfungspunkten deutlich, dass sie selbst als Kind einer erwerbslosen Mutter klassistische Abwertungen erfahren hat. Mit diesem breit gefächerten Hintergrund blickt sie kritisch auf die sogenannte ‚deutsche Leistungsgesellschaft‘, in der – nach der vorherrschenden Erzählung – Erfolg lediglich vom nötigen Willen abhänge. Aber das ist ein Trugschluss, der (bewusst) ignoriert, dass es sich in Wirklichkeit weiterhin um eine bestehende Klassengesellschaft handelt. Das bedeutet, ein*e jede*r ist qua Geburt einer bestimmten Klasse zugehörig, die nicht nur nach marxistischer Auffassung den Unterschied zwischen der Verfügbarkeit von Produktionsmitteln oder Arbeitskraft markiert. Klasse muss in diesem Kontext, so Seecks Überzeugung, deutlich breiter verstanden werden. Sie prägt die Wahl der Wohngegend, den Bildungshabitus, die Freizeitgestaltung, den Freundeskreis und die eigenen Zukunftsvorstellungen (25). Und dabei messen sich diese einzelnen Bereiche an weißen, bildungsbürgerlichen Normen. Wohngegenden werden nach bestimmten Kriterien als ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ beschrieben und der Fernseher, der anstelle des Bücherregals das Wohnzimmer ziert, wird als Zeichen mangelnder Bildung kritisch beäugt. Wer dank seiner Klasse Zugang zu der guten Wohngegend oder der seltenen Lexikonreihe hat, der besitzt nach Pierre Bourdieu auf der sozialen, kulturellen und symbolischen Ebene ein höheres Kapital. Dieses ist als Bündel aus Ressourcen zu verstehen, auf die zurückgegriffen werden kann, um (nach dem gesellschaftlichen Maßstab) ein erfolgreiches Leben zu führen (28).

In diesem Sinne muss gelten: Nicht dort, wo ein Wille ist, sondern dort, wo eine Villa ist, ist auch ein Weg[2]. Dabei zeigt sich, dass Klassismus nicht nur mit der Abwertung und Ausgrenzung von „einkommensarme[n], erwerbslose[n] oder wohnungslose[n] Menschen“ (12) operiert, sondern zugleich mit der Aufwertung der einkommensstarken Klassen. Während obdachlose Menschen angegriffen, Langzeitarbeitslose verachtet und Kinder aus Nicht-Akademikerhaushalten von (non)-formalen Bildungsmöglichkeiten ausgeschlossen werden, bestehen auf der anderen Seite des Grabens zahlreiche Privilegien. Beim Einkauf nicht auf den Preis achten zu müssen oder für das Voranbringen der eigenen Karriere sich unbezahlte Praktika leisten zu können, sind nur einige Beispiele dafür, die von den privilegierten Gruppen häufig als solche gar nicht erkannt werden. Nichtsdestotrotz tragen beide gleichermaßen dazu bei, dass dieses System aufrechterhalten und die soziale Ungleichheit legitimiert wird. Es ist scheinbar vertretbarer, jemanden auszubeuten, der nach dem gesellschaftlichen Urteil weniger wert ist. Vielfach wird dieses Urteil nicht bewusst, geschweige denn mit der Intention gefällt, jemandem durch Diskriminierung aktiv Schaden zuzufügen. Es sind viel eher unausgesprochene Rechtfertigungsmöglichkeiten, die den Arbeitgeber*innen im aktuellen System durch die vorherrschenden Stereotype zur Verfügung gestellt werden. Auf diese Weise ermöglichen klassistische Auf- und Abwertungen in ihrer Kombination grundlegend das Fortbestehen der herrschenden Macht- und Anerkennungsverhältnisse, indem sie sich auf einem „sticky floor“[3] anreichern, der jegliches Loslösen von der eigenen Klassenzugehörigkeit verhindert[4]. Doch welche Strukturen sind es genau, die als haftende Mechanismen dieses Bodens fungieren? Und was kann gegen sie getan werden?

  • Verwehrter Zugang zu Wohnraum

Wie Seeck darlegt, ist es nicht nur eine Frage des Geschmacks – der wiederum zum Großteil durch die Klassenzugehörigkeit bedingt ist –, wie und wo wir wohnen. Darunter fallen die Entscheidungen darüber, ob man in einer Wohnung oder einem Haus lebt, wie dieses Zuhause eingerichtet ist und in welchem Stadtteil es sich befindet. Es ist vor allem eine Frage von Zugangsmöglichkeiten, die bestimmten Teilen der Gesellschaft grundlegend abgesprochen werden. Neben der allgemeinen Problematik, „dass Mieten seit Jahren stärker steigen als die Löhne und Sozialleistungen“ (33), kommt in vielen Stadtvierteln die gesonderte Thematik der Gentrifizierung hinzu. Indem Studierende und Kulturarbeiter*innen in einkommensarme Viertel ziehen, weil sie über wenig ökonomisches, dafür aber über viel kulturelles Kapital verfügen, etablieren sich dort Kultur- und Bildungsorte, die gesellschaftlich anerkannt sind. Dies lockt wiederum Investor*innen an, sodass in dem Viertel mehr und mehr Bars, Cafés und Geschäfte entstehen. Aus dem „Brennpunktviertel“ wird ein „Szenebezirk“, der die Mieten gnadenlos in die Höhe steigen lässt. Die einkommensarmen Menschen, die dort einst lebten, können sich die Mieten nicht mehr leisten und werden auf diese Weise verdrängt (35). Es bleibt nur, sich ein neues Viertel mit preiswerteren Mieten zu suchen, das typischerweise öffentlich als minderwertig und problembehaftet abgestempelt wird. Gerade auf dem Wohnungsmarkt zeigt sich dabei die strukturelle Benachteiligung von einkommensarmen oder erwerbslosen Menschen. Wer Zugang zu Wohnraum haben und nicht aus der Stadt verdrängt werden möchte, muss in Deutschland der Mittelschicht angehören. Seeck konkludiert deshalb: Um dem entgegenzuwirken, braucht es heterogene Stadtteile, in denen der Wohnungsmarkt zugunsten der einkommensarmen Menschen reguliert wird (39).

  • Verwehrter Zugang zu Bildung

Dass und wie die einzelnen Mechanismen ineinandergreifen, zeigt sich nach Seeck eindrücklich am Beispiel der Pandemie (30). So hängt die Frage nach Wohnraum eng mit dem Problem der Bildungsungerechtigkeit zusammen. Wer sich mit seinen drei Geschwistern ein Zimmer teilen muss und keinen Schreibtisch besitzt, hat es deutlich schwerer, sich beim Homeschooling auf die Schulaufgaben zu konzentrieren. Darüber hinaus beschreibt Seeck grundlegende Bildungsschwellen, die dazu beitragen, dass bestimmten Klassen der Zugang zu formaler Bildung erschwert wird. Die erste befindet sich bereits an dem Übergang zwischen Grund- und weiterführender Schule. Hier nimmt der sozio-ökonomische Hintergrund des Kindes – unabhängig von der Leistung – nicht selten Einfluss auf die Gymnasialempfehlung. Auch die Frage nach Studium oder Ausbildung ist häufig eine, die durch das ökonomische und kulturelle Kapital der Familie entschieden wird (44). So werden bereits früh die Weichen dafür gestellt, wer später in einem besser bezahlten Beruf arbeiten kann. Um diese Ungleichheit im Bildungssystem, diese Verstetigung des Klassensystems zu reduzieren, braucht es nach Seeck eine Schulreform, die beispielsweise durch Gesamtschulen die frühzeitige Ausgrenzung von Arbeiter*innenkindern unterbindet (47).

  • Verwehrter Zugang zum Kulturbetrieb

Auch das, was in unserer Gesellschaft als ‚kulturelles Gut‘ gilt, ist tiefgreifend von Klassenzuschreibungen geprägt. So bestimmt das Bildungsbürgertum, was ästhetischen und künstlerischen Wert besitzt und somit auch, welche Kulturgüter subventioniert werden (51). Im Zuge dessen wird Opernhäusern und klassischen Theatern eine zentrale Bedeutung für die Gesellschaft zugeschrieben, der die populäre geschmack- und anspruchslose Kultur der Arbeiter*innenklasse gegenübersteht. Indem diese aus kulturellen Institutionen ausgeschlossen werden, fehlt zugleich ihre adäquate thematische Repräsentation in Theaterstücken und Co (53). Seeck plädiert deshalb in dieser Hinsicht für eine stärkere Sensibilisierung und eine größere Solidarität in der Kulturszene, um den diskriminierenden Strukturen entgegenzuwirken.

  • Schuldzuweisung für Erwerbslosigkeit

„Fast jede zweite Person in Deutschland hat eine negative Meinung über langzeitarbeitslose Menschen“ (55). Wie Seeck erläutert, ging das vorherrschende Erwerbslosenstereotyp vor allem mit dem Abbau des Sozialstaates Anfang der 2000er einher. Als „Sozialschmarotzer“, die zu viel fernsehen, rauchen und Alkohol trinken, werden sie vielfach inszeniert und imaginiert (56). Dabei findet eine Individualisierung des strukturellen Problems statt, das heißt, die politischen und gesellschaftlichen Gründe, die Menschen in die Erwerbslosigkeit treiben, werden ignoriert. Stattdessen wird der einzelne Mensch für seine Erwerbslosigkeit ungerechtfertigt verantwortlich gemacht und dabei mit Stereotypen behaftet, aus denen sich seine Schuld scheinbar erklären lässt. Es entsteht das verzerrte Bild einer homogenen Gruppe, die für ihr Versagen und Fehlverhalten in der Gesellschaft degradiert werden darf. Hierbei wird aber übersehen, dass nicht zuletzt das stigmatisierende Sozialhilfesystem durch Sanktionen und Ausgrenzung zu der häufig prekären Situation von erwerbslosen Menschen beiträgt. Erwerbslosenfeindlichkeit stellt deshalb ein gravierendes Problem dar, das systemisches Versagen den Betroffenen in die Schuhe schiebt und damit, nach Seeck, dringend bekämpft werden muss.

  • Ausgrenzung aufgrund von Obdachlosigkeit

Von teils noch stärkeren Anfeindungen, die nicht zuletzt in Gewalttaten enden, sind wohnungs- und obdachlose Menschen in Deutschland betroffen (63). So führen die Stereotype, die ihnen anhaften, häufig zu dem Bestreben, sie gänzlich aus dem öffentlichen Leben, aus dem sichtbaren Teil der Stadt auszuschließen. Ihnen wird nicht nur der Aufenthalt, sondern vielfach schon der Zugang zu öffentlichen Räumen wie Einkaufscentern und Bahnhöfen verwehrt. Klassistische Einstellungen entlarven sich in diesen Fällen als menschenverachtender Hass, den es zu beseitigen gilt; beispielsweise, indem wohnungslosen Menschen durch selbstaufgebaute Netzwerke oder politische Initiativen zur Selbstvertretung zumindest ein Sprachrohr gegeben wird (66).

  • Verwehrter Zugang zu Gesundheitsversorgung

Eine Zweiklassenmedizin begegnet uns in Deutschland nicht nur bei der medizinischen Versorgung, sondern auch beim Krankenhauspersonal, das einer klaren Hierarchie unterliegt (68). Erstere zeigt sich grundlegend in der Unterscheidung zwischen gesetzlich und privat versicherten Patient*innen. Darüber hinaus aber auch ganz explizit in der statistisch schlechteren Gesundheitsversorgung von einkommensarmen Menschen. Für diese Gruppe stellen klassistische Denkmuster beispielsweise Hürden für regelmäßige Arztbesuche und mangelnde finanzielle Mittel ein Hindernis für gewisse Vorsorgeuntersuchungen dar (71). Doch nicht nur körperliche, sondern auch psychische Erkrankungen treten bei einkommensarmen Menschen vermehrt auf. „Armut und Klassismus machen krank“ (74), heißt es bei Seeck. So befindet sie es für dringend notwendig, für diese Gruppe mehr Zugänge zu schaffen.

Auch wenn Seecks eindeutige Argumentation für diese einzelnen Aspekte den Vorteil der Klarheit mit sich bringt, so führt sie gezwungenermaßen an einigen Stellen zu einer etwas einseitigen Beleuchtung der Problematik. Sicherlich zum Teil dem begrenzten Format geschuldet, bleiben so aber doch gerade im Bereich der Bildungsungerechtigkeit gewisse Fragen unberührt. Wie kann es beispielsweise gelingen, Bildung weiterhin als erstrebenswertes Gut zu bewahren ohne fehlende Bildung dabei abzuwerten? Wenn berechtigterweise die Forderung besteht, niemanden für einen fehlenden Bildungshabitus zu stigmatisieren, vor allem, wenn dieser aufgrund struktureller Aspekte nicht zugänglich war; wie kann dennoch die Unterscheidung zwischen einem wünschenswerteren und einem weniger wünschenswerten Habitus getroffen werden? Wie kann die Aufwertung von ihrem negativen Begleiter gelöst werden?

Zweifellos gelingt Seeck das selbsternannte Ziel der Sensibilisierung für und der einführenden Aufklärung über diese Problematik nichtsdestotrotz. Damit ist es vor allem jenen, die mit dem Begriff bisher noch nicht in Berührung gekommen sind, als erhellender Zugang zu der Problematik sehr zu empfehlen. So zeigt die Autorin insgesamt durch die vielschichtigen klassistischen Strukturen eindrücklich und greifbar, dass es sich hierbei um ein unabdingbares Thema handelt, wenn gegen soziale Ungleichheit vorgegangen werden soll. Klassistische Auf- und Abwertungen schaffen Machtverhältnisse, in denen die Benachteiligten um angemessenen Wohnraum, kulturelle Teilhabe, Zugang zu Bildungsinstitutionen und letztlich um ein gesünderes, längeres Leben betrogen werden (12).

Das Buch macht deutlich: Es muss noch viel geschehen, damit aus der Villa ein Wille wird. Und es sollte unser aller Interesse sein, darauf hinzuarbeiten.

Antonia Siebeck beendet demnächst ihr Masterstudium der Philosophie an der Freien Universität Berlin. Ihre Interessensgebiete sind vor allem die Moral- und Sozialphilosophie samt ihren interdisziplinären Schnittstellen und praxisrelevanten Erkenntnissen. Seit Oktober 2020 ist sie Stipendiatin des humanistischen Bertha von Suttner-Studienwerks. Neben dem Studium hat sie mit Freund*innen selbst eine Stiftung gegründet, die sich für Chancengerechtigkeit bei jugendlichen Schüler*innen sowie einen verstärkten gesellschaftlichen Zusammenhalt einsetzt.

 

[1] Young, Iris M. „Responsibility and global justice: A social connection model. In: Social Philosophy and Policy, 23(1), Winter, S. 114.

[2] Butterwegge, Christoph (2020) „Wo eine Villa ist, ist auch ein Weg“. In: publik. Die Mitgliederzeitung von ver.di (5).

[3] So genannte „Sticky floors“ entstehen dort, wo soziale Mobilität und damit der Aufstieg in eine andere Klasse verhindert wird. Wenn die soziale Ungleichheit, die durch bestimmte Strukturen aufrechterhalten wird, so groß ist, dass sie für eine Gruppen unüberwindbare Schranken baut, spricht man von einem Boden der sozialen Ordnung, an dem man kleben bleibt.

[4] OECD (2018), A Broken Social Elevator? How to Promote Social Mobility, OECD Publishing, Paris. http://dx.doi.org/10.1787/9789264301085-en. Zugang: 30.05.2022.

 

Die Rezension ist auch als zitierfähiges PDF verfügbar.

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