Catherine Liu: Virtue Hoarders

Autorin: Catherine Liu
Erschienen: 2021
Seiten: 90
Preis: $ 10,00
ISBN: 978-1-5179-1225-3
Rezensent: Jonas Fischer

 

 

 

 

Politik des Moralismus und der Tugend

Catherine Lius Virtue Hoarders: The Case against the Professional Managerial Class ist in der Reihe Forerunners: Ideas First der University of Minnesota Press erschienen, die kurze, thesenhafte, hinterfragende und spekulierende Texte versammelt. So darf der Beitrag der marxistisch geprägten Professorin für Film- und Medienwissenschaften an der University of California Irvine auch nicht als nuancierte, wissenschaftlichen Standards streng folgende Analyse verstanden werden. Vielmehr legt Liu mit Virtue Hoarders eine Polemik und das Zeugnis ihres persönlichen Klassenverrats vor (4f.). Zu diesem Bruch will Liu auch ihre Leserinnen und Leser, welche sie innerhalb der Professional Managerial Class verortet, motivieren.

Der Terminus Professional Managerial Class (PMC) wurde in den 1970er Jahren von Barbara und John Ehrenreich[1] geprägt und steht in der Tradition von Siegfried Kracauers Angestellten[2] und C. Wright Mills White Collar Workers[3]. Die PMC bestehe aus „salaried mental workers who do not own the means of production and whose major function in the social division of labor may be described broadly as the reproduction of capitalist culture and capitalist class relations.“[4] Barbara und John Ehrenreich intervenierten in die in der Folge der Studentenbewegung entfachte Diskussion über den Klassenstandpunkt der Professorin, des Journalisten, der Ingenieurin, des Arztes und der Managerin. Sowohl ihre Subsumption unter die Arbeiterklasse, deren höchst-bezahltestes Stratum diese Berufe bilden sollten, als auch ihre Kategorisierung als petit bourgeoisie – der Begriff für die nach Marx ständig schrumpfende Gruppe kleiner Selbstständiger – schien den Ehrenreichs unzutreffend. Die PMC sei stattdessen gerade dadurch bestimmt, dass sie sich sowohl gegenüber dem Kapital als auch gegenüber der Lohnarbeit in einem antagonistischen Verhältnis befinde.

Innerhalb dieses doppelten Antagonismus bleibt der PMC dennoch genügend Spielraum für unterschiedliche klassenpolitische Bündnisse. Mit dieser Prämisse steigt Liu in ihre Schrift ein, wenn sie feststellt, dass sich die PMC nach 1968 zunehmend auf der Seite des Kapitals wiederfand und ideologisch wie materiell in den Klassenkampf gegen die Arbeiterklasse trat (3). Liu beschreibt diese Neukonfiguration gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse als die Verwandlung des Hippies in den Yuppie, des Aussteigers in den meritokratischen „Schreibtischtäter“. Die Geschichtsschreibung erfolgt jedoch nicht entlang politischer Schlüsselmomente oder ökonomischer Entwicklungen. Stattdessen erzählt Liu die Verschiebung der Klassenallianzen mit Hilfe kultureller Phänomene, die sie nach ihren klassenmäßigen Aspekten abklopft (14).

Liu legt eine collagierte Anklageschrift vor, die verschiedenste Facetten von Kultur, Weltanschauung, Praxis und Politik heranzieht, jedoch auch schnell wieder fallen lässt, ohne das Material in seiner Tiefe gründlich durchdrungen zu haben. So springt ihr Text von Occupy Wallstreet als einer PMC-Nachwuchs-Bewegung, die klaren inhaltlichen Forderungen komplett entsagt und stattdessen im Prozeduralismus gefangen bleibt, über die durch die steigenden Kosten höherer Bildung bei fallender Bildungsrendite ausgelöste Statuspanik in der PMC bis zu den fragwürdigen geschichtswissenschaftlichen Thesen, auf deren Rücken das 1619 Project der New York Times Rassismus zum essenzialistischen, transhistorischen Faktum menschlicher Geschichte zu erklären versucht (25, 28, 39). Liu berichtet von Alan Sokals Grubenhund in der Social Text von 1996[5] und wie die Akademie nach dieser Bloßstellung des Poststrukturalismus – und auch nach der Entstehung der Alt Right – ihre Faszination für Subkultur und Transgression immer noch nicht ablegen kann (17, 26). Zuweilen entsteht jedoch der Eindruck, dass die kulturellen Phänomene nicht nur im Vorbeigehen abgehandelt, sondern auch verzerrt wiedergegeben und instrumentalisiert werden. Die US-amerikanische Bewegung gegen und Diskussion um sexuelle Gewalt auf Universitäts-Campus müssen als Material herhalten und werden in die der Anklageschrift passende Form gepresst. Die einzigen Aspekte, die Liu hieran zu interessieren scheinen, sind die Verengung der Problematik auf die Universität als zentrale Stätte der PMC-Klassenreproduktion und die moralische Komponente in der Politik gegen sexuelle Gewalt (71).

Von diesen bunt gewählten Beispielen gelingt es ihr jedoch auch an einigen Punkten durchaus erhellende Brücken zurück in die Politik zu schlagen. So zum Beispiel, wenn sie Obamas mediale Inszenierung als sympathisch-empathischen Buchliebhaber mit seinen Reformen des öffentlichen Schulwesens unter den Slogans No Child Left Behind und Race To The Top kontrastiert, die zwar keinen Dollar mehr in das Schulsystem speisten, jedoch mit Hilfe von vergleichstestabhängiger Budgetierung den desolaten Zustand des Schulsystems auf die Schultern der Lehrkräfte abluden (45-49). Ausgehend von Harper Lees Bestseller To Kill a Mockingbird wird ein ähnlicher Sprung von Kultur zu konkreter, materieller Politik gewagt. Den Erfolg des Buches führt Liu nicht zuletzt auf die Figur des Anwalts Atticus Finch, das tugendhafte Zentrum des Romans und Identifikationsfigur der PMC-Leserschaft, zurück. Das Buch zeichne das Bild von den guten, stolzen Armen, die keine staatlichen Hilfen annehmen in Gestalt der Familie Cunningham auf der einen Seite und der moralisch verdorbenen, impulsiven und selbstverständlich auf Staatskosten lebenden Familie Ewell auf der anderen Seite. Damit, so argumentiert Liu, stimme der Roman ein in die neoliberale Ideologie und das zentrale Dogma von Bill Clintons Welfare Bill von 1996, Unterstützung erzeuge Abhängigkeit und soziale Netze fangen nicht etwa diejenigen auf, die gerade abstürzen, sondern fesseln alle die, die gerade den Aufstieg versuchen. Mehr noch: »the moral rectitude of the virtuous lawyer and his high-sprited daughters renders the solution to racism attractive to the establishment – work on individual capacities for empathy and walking in another human being’s shoes; read books; have rightous feelings« (52).[6] Für Liu ist es folglich auch kaum überraschend, dass die Fortsetzung Go Set a Watchman, in der Atticus Finch seine frühere KKK-Mitgliedschaft beichtet, trotz der historisch zutreffenden Korrektur des elitistischen Rassismusverständnisses aus To Kill a Mockingbird hauptsächlich enttäuschte Rezensionen erhielt (53).

Ganz in der Tradition Kracauers beschreibt Liu eine Klasse, der die individuellen Aufstiegschancen jegliche Idee von Solidarität und Kollektivität ausgetrieben haben und die ihre Treue dem Kapital gegenüber als Flexibilität und Belastbarkeit tarnt (12, 74). Die PMC werte ihre klassenspezifische Praxis und ihren Geschmack moralisch auf – ohne sie jedoch als klassenspezifisch zu erkennen – und baut gerade auf diese moralische Überlegenheit ihren gesellschaftlich-kulturellen Führungsanspruch. Liu beschreibt, wie individuelle Entsagung, Selbstkontrolle und Rechtmäßigkeit – die zentralen Erfordernisse in PMC-Berufen – zu einer Politik des Moralismus und der Tugend geführt haben, die von ihren klassenmäßigen Grundlagen nichts wissen möchte. Während die PMC versucht zum gesellschaftlichen Über-Ich aufzusteigen, ist Trump das Symbol des Rollbacks gegen diese Hegemonie. Er verkörpert die Es-getriebene Politik, die ihren Mangel an Selbstkontrolle und ihre Ignoranz jeglicher Konvention als Stärke und Potenz feiert. Liu sieht einzig in einer Anti-PMC-Klassenpolitik von links eine an der Wurzel des Trump-Symptoms ansetzende Strategie und sie versteht ihre Polemik offenkundig als Auftakt dazu (4). Gerade in diesen Überlegungen zur PMC-Kultur als Bedingung der derzeit grassierenden, sich populistisch gebenden reaktionären Politik steckt ein besonders erhellendes Moment des Buches.

Zum Ende des Buches drängt sich jedoch die Frage auf, was die PMC jetzt eigentlich sei. Denn der Definition der Ehrenreichs folgt Liu – auch wenn sie diese eingangs zitiert – nicht. Das Bild, das sie von der PMC zeichnet, ist undifferenziert, überspitzt und grenzt an einen Strohmann. Einer Polemik ist solch eine Konstruktionsleistung jedoch kaum zum Vorwurf zu machen. Probleme entstehen jedoch genau da, wo die Grenzen der PMC zu Gunsten der Polemik vollständig zerfranst werden. So zieht Liu zum Beispiel den 2019 an die Öffentlichkeit geratenen Bestechungsskandal um Zulassungen an US-Universitäten heran, um die Bildungspanik der PMC zu illustrieren – als seien Hollywood-Größen und erfolgreiche Unternehmer ganz selbstverständlich als Teil der PMC anzusehen (41). An anderer Stelle beschreibt sie die Bildungsreformen der letzten Jahrzehnte als einen gezielten Angriff auf die gewerkschaftlich organisierte Lehrerschaft öffentlicher Schulen – als würde der Lehrerberuf nicht selbst zur PMC gehören. Es drängt sich dann doch die Frage auf, ob nicht auch die PMC wie ein floating signifier, dieses Versatzstück poststrukturalistischer Theorie, welches sich die PMC für ihre vermeintlich emanzipatorische Politik zu Eigen gemacht hat (24), verwendet wird.

Liu zeigt die anhaltende Relevanz des Konzepts der PMC auf, indem sie eine Klassenpolitik aufdeckt, die auf den ersten Blick unter dem grassierenden Individualismus verborgen bleibt. Das gilt vor allem in Zeiten einer globalen Pandemie, in der Teile der Lohnabhängigen weiter ihrer Handarbeit am gewohnten Arbeitsplatz nachgehen und große Expositionsrisiken in Kauf nehmen müssen, während andere Teile die Flucht vor dem Virus in das Home Office antreten können. Besonders im deutschen Kontext, in dem der ideologisch aufgeladene Sammelbegriff Mittelschicht nicht nur politisch, sondern bereits seit Helmut Schelsky bis heute auch wissenschaftlich immer wieder zur Verklärung der Wirklichkeit herhalten musste, wäre der PMC eine verstärkte Rezeption zu wünschen. Dass das Konzept der PMC erlaubt, kleine Selbstständige und höher oder hoch gebildete Lohnabhängige als Angehörige verschiedener Klassen zu verstehen und so den Fokus in marxistischer Tradition statt auf die Quantität des Einkommens auf seine Qualität zu legen, ist demgegenüber ein analytischer Vorteil. Allerdings muss vermieden werden, diesen Vorteil durch allzu vorschnelle Polemik zu verspielen und stattdessen auf nüchterne Analyse gesetzt werden, um die Untersuchung der gegenwärtigen Klassenverhältnisse und -auseinandersetzungen nachhaltig voranzubringen und die PMC nicht zum monolithischen Block zu erklären. Dass die AfD in ihren ersten Jahren sehr zutreffend als „Professorenpartei“ bezeichnet wurde, kann vielleicht als erster Hinweis auf die innere, politische Spaltung der PMC dienen.

Anmerkungen

[1] Ehrenreich, Barbara & Ehrenreich, John (1977): The Professional-Managerial Class. Radical America, 11(2), S. 7-31.; Ehrenreich, Barbara & Ehrenreich, John (1977): The New Left and the Professional-Managerial Class. Radical America, 11(3), S. 9-22.

[2] Kracauer, Siegfried (2017 [1930]): Die Angestellten: Aus dem neuesten Deutschland. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

[3] Mills, C. Wright (1951): White Collar: The American Middle Classes. New York: Oxford University Press.

[4] Ehrenreich & Ehrenreich: The Professional-Managerial Class, S. 13.

[5] Der Physik- und Mathematikprofessor Alan Sokal publizierte in dem auf poststrukturalistische Kulturwissenschaften spezialisierten Journal Social Text einen Artikel mit dem Titel „Transgressing the Boundaries: Towards a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity“ (46/47, S. 217-252), in dem er nahelegte, dass die physikalische Realität ein soziales und linguistisches Konstrukt darstelle. Im Nachgang der Publikation eröffnete Sokal, mit seinem Artikel gezielt versucht zu haben, den Jargon einiger linker Strömungen in den Geisteswissenschaften zu parodieren und dass es keine wissenschaftliche Grundlage für die im Artikel aufgestellten Thesen gebe.

[6] „Die moralische Rechtschaffenheit des tugendhaften Anwalts und seiner hochmütigen Tochter machen die Lösung des Rassismusproblems für das Establishment attraktiv – arbeite an der individuellen Fähigkeit zur Empathie und zum Hineinversetzen in den Anderen; lies Bücher: habe rechtschaffene Gefühle.“ (Ü.d.A.)

 

Jonas Fischer studiert Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin und arbeitet schwerpunktmäßig zu materialistischer Staatstheorie sowie Regulations- und Hegemonietheorie.

Die Rezension ist auch als zitierfähiges PDF verfügbar.

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