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Von Menschen und Möhren oder warum es außerordentlich schwierig ist, als Homo Sapiens zu (über)leben
von Dag-Udo Lippe
Der Geist kommt in Gestalt daher – in Gestalt von allem
Glauben wir dem Volksmund, man könne Äpfel nicht mit Birnen vergleichen, so schiene es wohl umso vermessener, Menschen mit Möhren vergleichen zu wollen. Denn obwohl wir gerne einordnen, werten und klassifizieren, um die Welt in ihrer unendlichen Differenziertheit versteh- und damit beherrschbar zu machen, lässt uns die Anscheinsebene in ihrer komplexen Phänomenologie vor Vergleichen auf fundamentaler Ebene zurückschrecken.
Dennoch: Ein gemeinsamer Bezugspunkt von Menschen und Möhren (und selbstverständlich auch jenen Seinsformen, deren Name nicht mit dem Buchstaben „M“ beginnt) erscheint nicht nur möglich, sondern gleich als innere Notwendigkeit. Wir müssen nämlich davon ausgehen, dass für die Inbetriebnahme von Menschen dieselbe „kosmische Software“ zuständig ist wie für Möhren und im Prinzip alles andere. Denn entgegen unserer vordergründigen Ansicht gibt es bisher keinen Beweis dafür, dass das, was wir als menschliche Intelligenz bezeichnen, ein singuläres Evolutionsereignis darstellt. Vielmehr ist anzunehmen, dass eine den Dingen innewohnende gestaltende Kraft von universellem Charakter am Werk ist, auf die die Entfaltung der komplexen Seinsstrukturen zurückgeht. Bereits in vorwissenschaftlicher Zeit finden sich mythisch-religiöse Vorstellungen als kulturübergreifende Ahnung einer universellen Intelligenz wie etwa im Begriff des ‚Göttlichen‘, des Weltgeistes, des nous‘[1] oder des Brahman.[2] In all diesen Vorstellungen ist das Geistige oder auch Seelische nicht in die Körperlichkeit der Entität eingebettet, vielmehr manifestiert sich das Materielle im und anlässlich des Geistigen selbst. Auch wenn diese These weniger anschaulich ist, als es für eine naturwissenschaftliche Beweisführung wünschenswert wäre, ist sie für ein tieferes Verständnis von Intelligenz an sich von axiomatischer Bedeutung und zugleich die erkenntnistheoretische Basis für die Überwindung des cartesianischen Leib-Seele-Problems[3], das sich aus der Vorstellung einer Trennung von Körper und Geist ergeben hatte.
Da sich die umfangreiche Diskurstradition dieses Themas nicht abbilden lässt, beschränken wir uns hier auf den double check der beiden großen, ebenfalls kulturell unabhängig voneinander entstandenen archetypischen Universal-Philosopheme des Yin-Yang-Prinzips und der heraklitischen Vorstellung des έν διαφέρoν έαυτώ (hen diaphéron eautó, „das Eine in sich Unterschiedene“) als Tiefenbeweis für die essenzielle Identität von Geist und Materie, in der das Eine ohne das Andere nicht identifiziert werden kann. Auch wenn sich beide Vorstellungen in ihrer Herleitung und Auswertung im Detail unterschieden, zielen doch beide im Kern auf die immanente Wechselwirkung der als dual erscheinenden Seinskomponenten in Einem ab. Das in sich Verschiedene ist demnach immer und zugleich als das Eine zu denken.
Um die Möhre als Messpunkt unserer Betrachtung einmal für einen Moment beiseitezuschieben und die These zu konkretisieren, bietet sich ein Learning aus den Besonderheiten des ‚Blop‘ an, jenem erst vor wenigen Jahren entdeckten gelben Einzeller,[4] der über 720 Geschlechter verfügt und ohne Gehirn lernen kann, indem sich zwei Blops miteinander vermischen und so ihr Wissen übertragen. „Das ‚Wissen‘ besteht dabei aus der Fähigkeit, sich an seine Umgebung anzupassen, seine Netzbildung und das Verstehen, welche Materialien besetzt werden können und welche nicht.“[5] Mit anderen Worten verfügt das Blop über keinerlei phänotypische Merkmale wie z. B. ein informationsverarbeitendes Nervensystem, das nach bisherigem neurokognitionswissenschaftlichem Verständnis als Voraussetzung für die Lösung von komplexen Aufgaben wie denen eines Blops angenommen wird. Und wie der Interaktionsmechanismus zwischen Mensch und Corona-Virus gerade deutlich gemacht hat, verfolgen auch Virenpopulationen in ihrer Gesamtheit „intelligente“ Ziele, die im Virus-Individuum selbst nicht unmittelbar codiert bzw. nachweisbar sind. Damit wird in der Übertragung klar, dass der Funktionszusammenhang unseres Gehirns nur einen ausschnitthaften Zufallsbefund von Intelligenz darstellt und insofern immer nur die Blaupause für eine menschlich perspektivierte künstliche Intelligenz sein kann. Und selbst ein physio-technisch nachgeahmtes Gehirn hat nach derzeitigem Stand der Forschung mit seinem natürlichen Vorbild ungefähr so viel gemeinsam wie der „Lotus“-Effekt des Waschanlagen-Wachses mit den Abtropfeigenschaften der gleichnamigen Blume. Dass die mimikribasierte Bionik insgesamt beachtliche Fortschritte mit zunehmend hohem Nutzwert für Alltagsanwendungen macht, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir trotz immer präziserer Messmethoden und einer fortschreitenden Detailkenntnis über den strukturellen Aufbau der Welt inklusive unserer selbst stets nur aus unserer Perspektive in das Seinsgeschehen hineinschauen können. Denn auch wenn der Mensch als selbstbewusster Schöpfer auftritt, bleibt er als subordinierter Teilhaber der ‚schöpferischen Generalperspektive‘ in ihr stets beschränkt.
Gibt es überhaupt eine künstliche Intelligenz?
Auch ein mit KI ausgestatteter Roboter, der uns in vielerlei Hinsicht überlegen sein mag, ist immer nur das Ergebnis einer, wenn auch partiell optimierten Abbildung bzw. Nachbildung eines ausschnitthaften Wirklichkeitsaspektes, dessen objektiv mögliches Erkenntnispotenzial durch unsere subjektive Vorstellung, die wir von diesem Aspekt haben, notwendig begrenzt ist. Das, was wir künstliche Intelligenz nennen, ist in dieser Betrachtungsweise also ‚nur‘ eine beliebige Position innerhalb des universellen Entfaltungsgeschehens.
Für ein leichteres Verständnis dieses Grundgedankens sorgt das inhaltlich und fotografisch hervorragend umgesetzte Buch „Designed by Nature – Die Natur als genialer Gestalter“,[6] das die überindividuellen Gesetzmäßigkeiten erläutert, die den unterschiedlichen Seinsformen von der Schneeflocke über Tierfellzeichnungen, Schneckengehäuse, Blattstrukturen bis hin zu kosmischen Spiralnebeln zugrunde liegen. Was uns innerhalb der facettenreichen ‚natürlichen‘ Strukturbildung als zufällige Analogie in Staunen versetzt, wenn wir zum Bespiel feststellen, dass die Geometrie eines sich ausrollenden Farnblattes identisch ist mit der eines Schneckenhäuschens, geht offenbar auf einen homologen Bauplan der belebten wie unbelebten Natur zurück. Vermutlich haben wir es hier mit einer Art kosmischen DNA zu tun, die sich etwa mit dem Genom als dem Rezept zur Herstellung von Leben oder auch im weitesten Sinne mit den Befehlen und Algorithmen vergleichen lässt, die das Entpacken einer „zip“-Datei ermöglichen.
Nun ist aber das, was wir künstliche Intelligenz nennen, ebenfalls integraler Bestandteil dieses inneren „großen“ Bauplans und unterliegt damit denselben universellen Parametern wie alle anderen Hervorbringungen in der sogenannten natürlichen Welt. Dennoch empfinden wir den Beginn unserer technischen Evolution mit der Produktion von Werkzeugen und Artefakten als qualitativen Wende-, ja sogar Abkopplungspunkt innerhalb der gesamten Bio-Evolution und unterscheiden seither das Natürliche vom Künstlichen. Hätte die Möhre ein mit dem des Menschen vergleichbares Selbstbewusstsein und könnte sie uns mitteilen, wie sie die Dinge sieht, würden wir zunächst feststellen, dass die Abweichung zu unserer Weltsicht eben rein gradueller Natur ist. Auch sind sich Mensch und Möhre in dem Punkt ähnlich, dass beide Lebensformen das Menschen- bzw. Möhrenmögliche mit den Schenkungen und Beschränkungen ihrer individuellen Betriebssoftware entfalten wollen und programmgemäß in gewisser Weise auch müssen. Das heißt, beide Arten kämpfen stoffwechsel- und informationsbasiert in ihrem jeweiligen Lebensraum, um das Beste für die Spezies rauszuholen. Das wiederum bedeutet: Expansion um jeden Preis. Ließen es die Bedingungen ihrer ökologischen Nische zu, würde sich die Möhre – rein theoretisch – wie der Mensch auf dem gesamten Planeten so lange ausbreiten, bis der tipping point einer Überpopulation die eigene Art dezimiert oder aussterben lässt (ein evolutionsbiologischer Vorgang, der übrigens nicht erst durch das Auftreten des Menschen eine Rolle zu spielen begann, allerdings durch die homöostatischen Regulative des Naturgeschehens bis zum Beginn des Anthropozäns in einem überschaubarem Rahmen blieb).
Doch allein die Tatsache, dass Menschen Möhren züchten können, Möhren aber keine Menschen, ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass es trotz der gemeinsamen universellen ‚Verwurzelung‘ im Kosmos einen erheblichen Unterschied zwischen Menschen und Möhren bzw. allen anderen bekannten Lebensformen gibt. Es ist die Fähigkeit zur Imagination. Nichts mehr und nichts weniger. Sprache, Werkzeuge, Arbeitsteilung oder tiefe Emotionen etwa sind Eigenschaften, die wir mit anderen teilen. Selbst Bäume können miteinander kommunizieren, um sich gegenseitig über Veränderungen innerhalb ihres Lebensraumes zu informieren. Raben benutzen Werkzeuge, um Nüsse oder Cola-Dosen zu öffnen und Affen betreiben sogar Tauschhandel mit Naturalien, um an Bananen oder Kokosnüsse zu kommen, ohne selbst danach suchen zu müssen. Doch dank seiner Imagination, seiner Vorstellungskraft ist der Mensch in der Lage, fiktive und dabei überindividuell verbindliche Bezüge herzustellen, die weder an eine unmittelbare Sinneserfahrung noch an einen Austausch von Individuum zu Individuum gebunden sind. Als klassische Beispiele sind hier Geld, politische Grenzen, Gesetze, Religionen, Mythen oder Kunstwerke, abstrakte Schriftzeichen und in gewisser Weise auch Zahlen zu nennen.
Der Homo Sapiens in der Eitelkeitsfalle
Dennoch ist es wenig überraschend, dass sich der Mensch gerade für seine technischen, künstlerischen, aber auch ethischen und sozialpolitischen Leistungen, die er eben seiner Imaginationsfähigkeit zu verdanken hat, für besonders hält. Geschähe dies wertfrei wie bei der Möhre, die ebenfalls über das Attribut der Einzigartigkeit verfügt, jedoch keine Vormachtstellung im Seinsgeschehen für sich geltend macht, müsste dieser Essay nicht geschrieben werden. Denn das Grundproblem des Menschen ist sein Ich-Bewusstsein, die Selbst-Imagination, die ihn im Zusammenspiel mit weiteren überdurchschnittlich elaborierten Fähigkeiten wie Sprache, Nachahmungsgeschick und Erfindungsgeist nicht nur zum Meister der Anpassung und Verdrängung im Konkurrenzgeschehen der Arten macht, sondern eben auch anfällig für einen fatalen anthropozentrischen Narzissmus, der ihn mangels profunder Selbstkritik sukzessive aus dem natürlichen Seinsgeschehen zu isolieren droht. Auch wenn die alttestamentarische Aufforderung „Machet euch die Erde untertan“ angesichts der multi-evidenten Umweltzerstörung schon länger kein ungeteiltes Echo mehr findet, so bleibt der Mensch in seiner kollektiven Selbstwahrnehmung doch weitgehend dem biblischen Kalauer von der „Krone der Schöpfung“ erlegen. Der evolutionsbiologisch tief verankerte „Homo Sapiens first“-Anspruch, der sich mit einem „Carrot first“-Anspruch übrigens im Wesentlichen deckt, verstellt uns die Sicht darauf, dass auch ein Primus nur als primus inter pares, als Erster unter Gleichen langfristig eine Überlebenschance hat. Ein König, der sein Volk bluten lässt, wird früher oder später mit seinem eigenen Blut oder dem seiner Nachkommen dafür bezahlen müssen, da raubbaubedingtes Wachstum als Wachstum an sich der Bedingung einer zyklischen Endlichkeit unterworfen ist.
Die Geister, die wir riefen
Vermutlich hat sich der folgende, relativ alte Witz längst rumgesprochen: Treffen sich zwei Planeten, fragt der eine „Wie geht’s?“, sagt der andere „Nicht so gut. Ich habe homo sapiens.“ Darauf der erste „Mach dir nichts draus, das geht schnell vorbei.“ Die einzig versöhnliche Botschaft dieser zutiefst pessimistischen Sicht auf die Zukunft der Menschheit als einer sich tödlich ausbreitenden Krankheit im übergeordneten Organismus Erde ist die schonungslose Selbstironie, die wir uns als letztinstanzliches Navigationsinstrument auf unserem humanoiden Selbstfindungstrip um jeden Preis erhalten müssen, um nicht in die selbst gestellte Eitelkeitsfalle zu tappen. „Wir kommen aus dem Nichts und gehen zurück ins Nichts. Was haben wir also zu verlieren? – Nichts!“[7] lautet die schwarzhumorige und dabei versöhnliche Botschaft der aus der Feder der britischen Komikertruppe Monty Python. Und doch haben wir eine ganze Menge zu verlieren. Denn vordergründig betrachtet läuft der Mensch, der offenbar erst am Abgrund zu lernen imstande ist, aufgrund der zunehmenden Geschwindigkeit seiner ‚Homofaberisierung‘ Gefahr, den nötigen Bremsweg bis zum großen ‚tipping point‘ nicht mehr kalkulieren zu können. Der jüngst verstorbene US-amerikanische Insektenforscher und Evolutionsbiologe Edward O. Wilson bringt das Menschheitsproblem auf den Punkt: „Das Grunddilemma unserer Spezies besteht darin, dass wir von altsteinzeitlichen Triebemotionen gesteuert werden, von mittelalterlichen Institutionen beherrscht sind und über gottgleiche Technologien verfügen.“[8]
So ist der Mensch durch den hohen Ausprägungsgrad von Intelligenz entgegen der populären Selbstwahrnehmung und im Vergleich zur Möhre, die ihren ‚Dienst nach Vorschrift‘ macht, aus kosmischer Generalperspektive keineswegs privilegiert, obwohl er im Zuge insbesondere seiner technischen Evolution aus klassisch-darwinistischer Sicht stets überragende Ergebnisse erzielt hat und in seiner kulturellen Entwicklung Normen und Werte geschaffen hat, die ihn vor den Konsequenzen dissozialer Triebimpulse schützen können. Doch außergewöhnliche Leistungen, wie etwa konkurrierende Arten zu verdrängen, Nahrung über den Bedarf hinaus zu produzieren und den gesamten bekannten Lebensraum unabhängig von Anpassungs-Beschränkungen ökologischer Nischen zu besiedeln – ja, eine gewisse Ironie zieht auf! –, all diese ‚Leistungen‘ haben ihn zugleich vor eine schwierige, ja überlebensentscheidende Aufgabe gestellt. Denn für die Anwendung seiner technologischen Errungenschaften und die Abschätzung der Folgen fehlt dem Menschen bisher die geistige Reife.[9] So nutzte er etwa schon das Feuer, um Fleisch zwecks besserer Verdaulichkeit zu garen, aber auch um Menschen zu verbrennen, deren Weltanschauungen für Angst und Verunsicherung in bestimmten Herrschaftssystemen sorgten. Und so verwendet er seine technisch immer weiter verfeinerten Waffen nicht nur, um Tiere im größtmöglichen Umfang zu erbeuten, sondern auch, um sie aus niederen Beweggründen gegen seinesgleichen einzusetzen. Und selbstverständlich wird der Mensch auch das synergetische Potenzial von sogenannter künstlicher Intelligenz, Robotik, Big Data und den Möglichkeiten, das Hirn mit dem Computer zu verschalten,[10] nutzen und das völlig unabhängig von der Qualität seiner Motive bei der Anwendung. Gerade erst wurde – um beim Thema KI zu bleiben – zum Beispiel bekannt, dass mit den Algorithmen eines Computer-Programms, das sich im Prinzip für die Entwicklung neuer Medikamente eignet, toxische Kampfmittel errechnet und hergestellt wurden.[11] Ein Schelm, wer Böses dabei denkt, dass die Schatten, die die Krone der Schöpfung vorauswirft, länger sind als deren Zacken.
Und es wird noch komplizierter: Denn die ‚Verkaufspraxis‘ hinter neuen Errungenschaften wirbt stets mit dem Versprechen, sich am Wohle der Gemeinschaft und des Einzelnen zu orientieren. Auch wenn sich die filmisch zum Teil sehr klug inszenierten Cyborg-Dystopien und Horrorszenarien einer gesellschaftlichen Totalüberwachung inzwischen auf den Streaming-Plattformen stapeln und als Mahninstrumente dabei immer näher an die Gegenwartsgrenze heranrücken, so rennen die Vermarkter KI-basierter Technologien mit ihren meist sogar haltbaren Versprechen zur Arbeitserleichterung und gesundheitlicher Vollmonitorisierung in weiten Teilen der Bevölkerung verständlicherweise offene Türen ein. Bequemlichkeit und Angst als anthropologische Konstanten bilden dabei den wesentlichen Erfolgsfaktor des KI-Marketings.
Hinzukommt, dass die Qualität sogenannter künstlicher Intelligenz nicht nur durch die menschliche Vorstellung von Intelligenz wesentlich begrenzt bleibt, sondern in ihren konkreten Ergebnissen auch den Interessen derer unterworfen ist, die sie designen. So wurde etwa festgestellt, dass die Gesichtserkennung auf Basis scheinbar neutraler, nämlich rein mathematischer Deep-Learning-Programme[12] Schwarze Menschen und Frauen durch automatisierte Filter in Personal-Bewerbungsverfahren schlechter stellt. Allein die Tatsache, dass der Anteil von Frauen innerhalb der KI-Forschung nur rund 20 Prozent ausmacht,[13] lässt eine verallgemeinernde Hochrechnung zu, nach der künstliche Intelligenz immer auch die Handschrift ihrer männlichen Pioniere tragen wird, die im real anzunehmendem Fall von wirtschaftlichen Machtinteressen gelenkt sind.
Dazu braucht es im Übrigen keine argumentativen Anleihen aus der Parallelwelt der Verschwörungstheorien. Schließlich wird die Skepsis gegenüber technologischem Fortschritt – ob aus Bequemlichkeit oder Angst – bereits seit mythischer Zeit in Form eines universal-literarischen Unbehagens reflektiert. Adam und Eva verspielten ihr Bleiberecht im Paradies, als sie statt vom Baum des Lebens die verbotenen Früchte vom Baum der Erkenntnis aßen, der nach moderner Lesart die technologisch-kulturelle Transformation des selbstbewusst gewordenen Menschen symbolisiert, und im griechisch-antiken Mythos kam das Unheil über die Welt, nachdem Prometheus, der den Göttern zuvor das Feuer gestohlen hatte, unerlaubter Weise auch noch die Büchse seiner Schwägerin Pandora öffnete. Obwohl die positiven Effekte technischer Errungenschaften wie das Rad, der Buchdruck, ja sogar noch das Internet aufgrund des unmittelbar erfahrbaren allgemeinen und individuellen Nutzens überwiegend mit Jubel aufgenommen wurden, so sind die dystopischen Szenarien einer weitergedachten Entwicklung von KI von der realen Angst vor einem tipping point geprägt, an dem es kein Zurück mehr gibt und die ‚Cyborgs‘ das Ruder übernehmen
In der Netflix-Dokumentation „Breaking Boundaries“[14] haben Naturwissenschaftler von der Klimaerwärmung über Frischwasserknappheit bis hin zur Bedrohung der Artenvielfalt insgesamt neun Bereiche ausgemacht, die einen solchen tipping point enthalten, der bei einer ungebremst fortschreitendenden Tendenz jeweils schon für sich genommen zur ernsthaften Bedrohung des Lebensraums Erde werden kann. Das Thema „künstliche Intelligenz“ ist dabei nicht erfasst, da der potenzielle Schaden nicht bzw. noch nicht messbar und damit bisher nur Science-Fiction-Literaten und Hiobsbotschaftern aus Wissenschaft und Philosophie vorbehalten ist.
Als hätte Goethe es nicht schon längst geahnt: In seinem Gedicht „Der Zauberlehrling“ schafft es der Magier-Azubi zwar, einen Besen zum Wasserschöpfen in Gang zu setzen, aber nicht mehr, ihn zu stoppen.
O du Ausgeburt der Hölle!
Soll das ganze Haus ersaufen?
Seh ich über jede Schwelle
doch schon Wasserströme laufen.
Ein verruchter Besen,
der nicht hören will!
Stock, der du gewesen,
steh doch wieder still![15]
Fast zeitgleich und damit noch ebenso fern der heutigen Alarmstimmung mahnt auch Friedrich Schiller ganz ähnlich in seinem „Lied von der Glocke“:
Der Meister kann die Form zerbrechen
Mit weiser Hand, zur rechten Zeit;
Doch wehe, wenn in Flammenbächen
Das glüh’nde Erz sich selbst befreit![16]
Doch im Unterschied zum Zauberlehrling kann der Mensch, welcher auf unabsehbare Zeit ebenfalls noch in der Ausbildung seiner biologischen, technischen und spirituellen Evolution steckt, nicht auf einen Meister hoffen, der die Sache wieder geradebiegt.
Ein weiteres wesentliches Problem besteht darin, dass es trotz noch so düsterer Vorboten keine Rückrufaktionen für die entfesselten Geister der ambivalenten Nutzungsinteressen unserer Technologien geben wird. „Wenn ich so bedrohlich für dich bin, warum schaltest du mich dann nicht ab?“ Auf diese Schlüssel-Frage der Androidin Stoya, die dem weltraumreisenden Sebastian in der 2018 verfilmten Kurzgeschichte „A. I Rising“[17] als Gespielin zur Seite gestellt wird, dann aber durch vermeintliche Bedienfehler zu einem Problem wird, weiß der Gefragte keine Antwort. Stattdessen sucht er ähnlich wie Goethes Zauberlehrling verzweifelt nach Antworten anderer und damit nach anderen Verantwortlichen, in diesem Fall bei den Herstellern der Android-Software. So bleibt der Protagonist als metaphorischer Stellvertreter für die Menschheit als Ganzes auf sich selbst gestellt und darauf angewiesen, die Geister mit demselben Intellekt zu bändigen, mit er dem sie gerufen hat. Denn der Meister sind wir selbst und damit letztverantwortlich für unser Tun. Entgegen Albert Einsteins Bemerkung, dass wir Probleme nicht mit denselben Mitteln lösen können, mit denen wir sie geschaffen haben, bleibt uns also keine andere Wahl als uns mit den zur Verfügung stehenden kognitiv-emotionalen Bordmitteln vor einer Generalhavarie zu schützen. Da einmal Gedachtes nicht mehr rückgängig zu machen ist und sich Forschungstrieb und Expansionsdrang nicht aus unserer DNA streichen lassen, gilt es, ein fundamental neues Grundlagenbewusstsein von Welt zu entwickeln, das über die jeweils beispielgebundenen Pro-und-Kontra-Debatten bei der Bewertung neuer Technologien hinausweist. Schließlich wissen wir ja, was los ist und was zu tun wäre.
In diesem Zusammenhang fordert der britische Physiker David Deutsch zurecht eine erkenntniskritische Generalverantwortung für unseren weiteren Werdegang ein: „Alles Nützliche, jede Vorhersage fußt auf Erkenntnis. Strebt man aber nicht mehr nach fundamentalen Erklärungen, sondern glaubt, es reiche aus, Nützliches zu generieren, dann bewegt man sich nur noch Schrittchen für Schrittchen von einer Dezimalstelle zur nächsten, und das auch nur in Gebieten, die bereits gut untersucht sind.“[18] Um den Gedanken weiterzuführen, gilt es also, „kosmischer“ und zugleich organischer zu denken. Mag die sogenannte Gaia-Hypothese,[19] nach der die Erde inklusive der nichtorganischen Sphäre einen geschlossenen Superorganismus darstellt, innerhalb der naturwissenschaftlichen Standardvorstellungen bisher noch als poetisch-esoterische Randnotiz gelten, so lässt sich aus dem inhärenten Homologie-Prinzip des Gesamtbauplans der Welt, das sich im Größten und Kleinsten gleichermaßen manifestiert[20] sehr wohl erahnen, dass die relative Größenordnung und zufällige Wirkungsmacht einer Seinsform nach organischem Verständnis eben nichts über deren absoluten Wert bzw. ihre Bedeutung im Gesamtgefüge aussagt.
„Alles Leben ist Problemlösen“[21]
„Also, lautet ein Beschluss, / Dass der Mensch was lernen muss.“ Diese von Wilhelm Busch in „Max und Moritz“[22] ironisch formulierte Kritik an den lernerschwerenden Folgen des institutionellen (preußischen) Lehrwesens erlaubt über den satirischen Aspekt hinaus eine evolutionsgeschichtlich tiefere, nicht ironische Lesart. Denn tatsächlich beruhen die Selbstentfaltungs- und Durchsetzungserfolge der menschlichen Spezies eben auf dem Prinzip des Lernens, ohne dessen zentrale Bedeutung der Mensch nicht nur nicht so „erfolgreich“, sondern als tendenzielles Mängelwesen im Überlebenskampf gegen seine Umwelt längst ausgestorben wäre. Lernen-Können und Lernen-Müssen werden in ihrer reziprok-kausalen Verknüpfung somit zu einem Wesensmerkmal von existenziell-deterministischer Bedeutung. Während die Möhre weder lernen kann noch muss, weil sie gemäß ihrem genetischen Programm Dienst nach innerer Vorschrift macht, muss sich der Mensch wie übrigens auch einige andere Arten durch das Erlernen von zahlreichen Fähigkeiten gegen die Widrigkeiten innerhalb von Anpassungsprozessen absichern.
Nun hat der Mensch in seiner Geschichte offenbar mehr gelernt als es für eine harmonisierte Positionierung in seinem Lebensraum nötig bzw. zuträglich ist. Dabei sind uns die existenziellen Gefahren des problematischen Zusammenspiels von vorkulturellen Triebemotionen und entgrenzter Technologie-Anwendungen durchaus bewusst. Doch trotz der ‚Höhe der Vernunft‘ scheint ein praktisches Gegensteuern bisher zu scheitern. Gesetze zur Beschränkung ethisch bedenklicher Forschung und Empfehlungen von Enquete-Kommissionen hinken dem geisterhaften Zugpferd des technisch Machbaren konstant hinterher und werden in der Regel sekundären Interessen nachträglich angepasst. Rief die sogenannte Volkszählung in den 1980er Jahren, die bezogen auf Datenschutzfragen nach heutigen Maßstäben noch recht unverfänglich daherkam, tausende von Demonstranten auf die Straße, so ist es uns heute fast schon gleich, wieviel Detailwissen Großkonzerne als Anwender von Big Data-Tools inzwischen über unsere Lebensgewohnheiten generiert haben, um uns immer gezielter in ihre Rasterfahndung zur Ermittlung individueller Konsuminteressen einzubinden, oft ohne dass wir dies bemerken.
Proportional zu den Wildwucherungen des archaisch kapitalistischen Gesellschafts- und Individualbewusstseins wächst zwar auch eine kritisch-reflektierte Sicht, in der bedenkliche Entwicklungen bis zum worst case scenario zu Ende gezeichnet werden. Doch so wenig wie die Todesstrafe als Abschreckungsinstrument zur Verringerung von Kapitalverbrechen taugt, so klar ist es auch, dass ein Wettrennen zwischen Vernunft und Gier schon vom Start weg entschieden zu sein scheint. Anders ist es jedenfalls nicht zu erklären, dass bei vollem und inzwischen kollektivem Bewusstsein für die Probleme (wie etwa dem Klimawandel) kurz vor dem Aufprall mit erwartbarem Totalschaden noch immer kein Bremseffekt zu beobachten ist. Das bedeutet auch, dass juristische Regulative gegen die Narrenfreiheit des homo faber im Menschen auch in Zukunft vermutlich schlechte Chancen haben werden. Nun sind es aber gerade die beiden großen idealen Begabungen – Liebe und Vernunft –, mit denen der Mensch seine Überlegenheit erweisen könnte und es im Dienst seiner Überlebensstrategie auch müsste. Doch lassen sich beide als Selbstheilungskräfte der menschlichen Spezies nicht von außen verordnen, sondern nur von innen entfachen.
Über Wohl und Wehe des Menschen würde damit nicht das Ringen zwischen Schwarmintelligenz und Schwarmdummheit entscheiden müssen, sondern die Fähigkeit, ein zukunftsfähiges Selbstbewusstsein in Demut vor jener Größe zu entwickeln, die die Welt, den Menschen und die Möhre gleichermaßen ausmacht. Anders gesagt, ist es für den Menschen an der Zeit, ‚seine Stelle‘ im Universum, auf der Erde und der Natur zu finden, um einen Gegenentwurf zur existenzgefährdenden anthropozentrischen Eitelkeit zu finden. Der Mensch ist Teil eines großen Geschehens, das wir einschließlich unserer selbst als Wunder bezeichnen dürfen. Jeder Einzelne von uns hat als potenzielles Zünglein an der Waage, die recht bald über unsere Zukunft entscheiden wird, die Chance, Sinn und Kraft aus dem befreienden Staunen über dieses Wunder zu gewinnen, ohne sich darum klein fühlen zu müssen. Denn wer einmal die wahre Schönheit des Menschen als Teil seiner Welt erkannt hat, wird mit all seiner Vernunft und von ganzem Herzen für sein Fortbestehen kämpfen. Und: Memento möhri!
[1] Nous (altrgr.) ist ein Begriff der antiken griechischen Philosophie. Er bezeichnet die menschliche Fähigkeit, etwas geistig zu erfassen, und die Instanz im Menschen, die für das Erkennen und Denken zuständig ist. In metaphysischen und kosmologischen Lehren, die von einer göttlichen Lenkung der Welt ausgehen, wird als Nous auch ein im Kosmos wirkendes Prinzip bezeichnet, die göttliche Weltvernunft. (Quelle: Wikipedia, Zugriff hier und im Folgenden stets: 27.01.2023).
[2] Brahman (Sanskrit) ist in der hinduistischen Philosophie ein unpersönliches Konzept vom Göttlichen, das keinen Schöpfer und keinen Lenker beinhaltet, ein Urgrund des Seins, ohne Anfang und ohne Ende. Nach den Philosophen der Upanishaden ist es die notwendige Voraussetzung dafür, dass alles Materielle und Geistige überhaupt erst entstehen kann. (Quelle: Wikipedia).
[3] Vgl. Antonio R. Damasio: Descartes‘ Irrtum: Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, Campus Verlag, 1994.
[4] Physarum polycephalum (griechisch πολύς polys ‚viel, mehrere‘, κεφαλή kephalē ‚Kopf‘) ist eine Schleimpilz-Art. Diese ist gut beschrieben, da sie als Modellorganismus häufig in Laboren zu Studienzwecken eingesetzt wird. In Anspielung an die außerirdische, menschenverschlingende Substanz aus dem Science-Fiction-Film „Blob – Schrecken ohne Namen“ wird sie scherzhaft auch „der Blob“ genannt. Der Schleimpilz wurde von der Deutschen Gesellschaft für Protozoologie (DGP) zum „Einzeller des Jahres“ 2021 gekürt. (Quelle: Wikipedia)
[5] Bruno David, Direktor des Pariser Naturkundemuseums (Quelle: welt.de/wissenschaft, 17.10.2019)
[6] Philip Ball: Designed by Nature – Die Natur als genialer Gestalter, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 2016.
[7] Im engl. Original: „You come from nothing – you’re going back to nothing. What have you lost? Nothing!“ (Monty Python: Always Look on the Bright Side of Life, Song, veröffentlicht 1989.)
[8] Im engl. Original: „The real problem of humanity ist the following: we have paleolithic emotions, medieval institutions and god-like technology.“ (Edward O. Wilson, Debate at the Harvard Museum of Natural History, Cambridge, MA, 09.09.2009)
[9] Vgl. Volker Gerhardt: Der Mensch ist das einzige Tier, das sich selber zum Problem wird und dauernd an sich scheitert, nzz.ch/feuilleton, 27.09.2019.
[10] Ein Brain-Computer-Interface (BCI), auch Brain-Machine-Interface (BMI), auf Deutsch Gehirn-Computer-Schnittstelle, ist eine spezielle Mensch-Maschine-Schnittstelle, die ohne Aktivierung des peripheren Nervensystems, wie z. B. die Nutzung der Extremitäten, eine Verbindung zwischen dem Gehirn und einem Computer ermöglicht. Dazu wird entweder die elektrische, magnetische oder die hämodynamische Aktivität des Gehirns gemessen, mit Hilfe von Rechnern durch Mustererkennung analysiert und in Steuersignale umgewandelt. (Quelle: Wikipedia)
[11] Julia Merlot: Künstliche Intelligenz entwirft Bauplan für chemische Kampfstoffe, www.spiegel.de/wissenschaft/medizin, 20.03.2022.
[12] Deep Learning (deutsch: mehrschichtiges Lernen, tiefes Lernen oder tiefgehendes Lernen) bezeichnet eine Methode des maschinellen Lernens, die künstliche neuronale Netze (KNN) mit zahlreichen Zwischenschichten (englisch: hidden layers) zwischen Eingabeschicht und Ausgabeschicht einsetzt und dadurch eine umfangreiche innere Struktur herausbildet. Es ist eine spezielle Methode der Informationsverarbeitung. (Quelle: Wikipedia).
[13] Katharina Wilhelm: Wie sexistisch ist künstliche Intelligenz?, www.tagesschau.de, 08.03.2022.
[14] John Clay, David Attenborough: Breaking Boundaries, Netflix, 04.07.2021.
[15] Johann Wolfgang von Goethe: Der Zauberlehrling [Erstveröffentlichung: Friedrich Schiller [Hrsg.], Musenalmanach für das Jahr 1798, S. 32-37, Weimar 1798].
[16] Friedrich Schiller: Das Lied von der Glocke, Musenalmanach für das Jahr 1800, S. 251-272, Weimar 1800].
[17] Zoran Nešković: A.I. Rising, 1980 (ohne Ortsangabe).
[18] „Verzicht auf Fortschritt ist ein sicherer Weg in den Untergang“, David Deutsch im Spiegel-Gespräch, Der Spiegel 02.04.2022.
[19] Gaia-Hypothese (von griech. gaia = Erde als Muttergottheit). Kern der Hypothese ist die Betonung der engen Vernetzung und Abhängigkeiten zwischen Lebewesen untereinander und mit ihrer abiotischen Umwelt. Die ganze Erde kann als adaptives Kontrollsystem angesehen werden, das zur aktiven Selbstregulierung fähig ist. Sie wurde zuerst 1972 vom britischen Astrophysiker und Ingenieur James E. Lovelock formuliert. (Quelle: www.lernhelfer.de).
[20] Vgl. dazu FN 6, „Designed by Nature“.
[21] Karl Raimund Popper: Alles Leben ist Problemlösen – Über Erkenntnis, Geschichte und Politik, Erstveröffentlichung 1994.
[22] Wilhelm Busch: Max und Moritz – Eine Bubengeschichte in sieben Streichen, Erstveröffentlichung 1865.
Der Aufsatz ist auch als zitierfähiges PDF verfügbar.
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