Radikal Philosophieren? – in Zeiten der ökologischen Katastrophe?

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Vorbemerkung der Redaktion 

Frieder O. Wolf wird 130!

Der nachfolgende Text von Thomas Heinrichs ist auf Einladung des Philosophen und Politikwissenschaftlers Frieder O. Wolf entstanden. Aus Anlass seines 50-jährigen Dienstjubiläums im Oktober 2023 als Honorarprofessor an der Freien Universität Berlin organisiert Wolf für den 10. und 11. November 2023 die digitale Konferenz „Radical Philosophy in the Crisis of the 21st Century: Emerging Perspectives“.

Der Philosoph und Jurist Thomas Heinrichs ist dem Call for papers zügig gefolgt. Wir bringen seinen Beitrag exklusiv vorab als Appetizer für die Konferenz und für die im Anschluss geplante digitale Publikation sämtlicher Beiträge einer internationalen Autorenschaft. Selbst wenn Heinrichs in seinem Text keine direkten expliziten Bezüge zu Wolfs Philosophie kenntlich macht, so ist doch überdeutlich, dass die Aufnahme von Begriffen wie „radikale Philosophie“ und „ökologische Krise“ Referenzen sind an zwei der zentralen Begriffe bzw. Themen bei Wolf.  

Bereits im Februar dieses Jahres konnte die Humanistische Akademie Berlin-Brandenburg, Herausgeberin von humanismus aktuell, Frieder O. Wolf zu seinem 80. Geburtstag gratulieren. Nun freuen wir uns auf das nächste Jubiläum im Oktober und sehen möglichen Erträgen auch für die Debatten um einen zeitgenössischen Humanismus interessiert entgegen.  Ralf Schöppner

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Radikal Philosophieren? – in Zeiten der ökologischen Katastrophe?

Radikal sein

Wie unschwer zu erkennen ist, besteht die im Titel gestellte erste Frage aus zwei Worten: »radikal« und »philosophieren«. Wenn man wissen will, was radikales Philosophieren – oder wenn man es substantiviert – Radikale Philosophie ist oder sein kann, muss man also klären, was es bedeutet, radikal vorzugehen, was es bedeutet zu philosophieren und was ein radikales Vorgehen bei der Tätigkeit des Philosophierens besagt.

Marx hat einmal gesagt, radikal sein, bedeute die Sache an der Wurzel fassen. Der Wortstamm von radikal ist das lateinische Wort radix, die Wurzel – auch das Radieschen leitet sich davon ab. Aber was bedeutet es bei einer Sache, an die Wurzel zu gehen?

Vielleicht besonders gründlich zu sein, einer Sache auf den Grund gehen, weil die Wurzel der Grund einer Sache ist, auf dem sie steht, mit dem sie im Boden verhaftet ist.

Vielleicht eine Sache von Grund auf anzugehen, nicht an den Symptomen herumzudoktern, sondern die Ursachen, den Ursprung aus ihrer Wurzel zu klären.

Vielleicht auch eine Sache grundlegend ändern zu wollen, sie ganz anders zu verwurzeln.

Vielleicht einer Sache einen festen Grund zu geben, sie auf ein sicheres Fundament zu stellen.

Historisch kommt der Begriff »radikal« im 19. Jahrhundert über England und Frankreich in die deutsche Sprache und bezieht sich zunächst auf das politische Projekt einer bürgerlichen Reform des Parlaments. Dabei ist der Begriff – zumindest im bürgerlichen Milieu – zunächst durchweg positiv besetzt. Die Radikalen waren die, die eine von Grund auf vorzunehmende demokratische Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse anstrebten.

Erst als der Begriff dann auch von der Arbeiterbewegung aufgegriffen wurde und deren politische Bestrebungen kennzeichnet, setzte – wie bei so vielen Begriffen, die die Arbeiterbewegung aus dem bürgerlichen Revolutionsprojekt übernommen hat, nicht zuletzt bei dem Begriff Revolution selbst – ein Bedeutungswandel hin zu einer eher negativen Konnotation ein.

Die Radikalen sind dann die, die über das, was sinnvoll, vernünftig und realistisch ist, hinausschießen. Die nicht bereit sind, pragmatisch das Machbare anzustreben, sondern verbohrt an ihrem Ziel eines grundsätzlichen Umbaus der Gesellschaft festhalten.

Auch in der sozialistischen Bewegung selbst werden dann die Linksabweichler, also die, die die ursprünglichen sozialistischen/kommunistischen Ziele der Arbeiterbewegung konsequent weiterverfolgen und sich weder dem Reformmodell der Sozialdemokratie noch dem Staatssozialismus der kommunistischen Parteien anschließen, als Radikale in dem genannten Sinne abgewertet.

 

Philosophieren

Philosophieren ist eine kulturelle Praxis der Selbstverständigung/Selbstbestimmung der Menschen; der Einzelnen für sich und der Vielen miteinander. Es geht beim Philosophieren darum, zu klären, wer wir sind, wer wir sein wollen, nach welchen Regeln wir leben wollen, was unsere Werte sind und was unsere Ziele und wie wir die Welt verstehen und uns in ihr verorten. Es geht darum, uns selbst zu verstehen und uns selbst zu definieren.

Philosophie ist eine kommunikative Praxis. Sie zielt darauf ab, sich mit den anderen zu verständigen, sich ihnen zu erklären und zu versuchen, sie von dem, was man selbst für richtig hält, zu überzeugen. Aber es geht im Prozess des Philosophierens auch immer darum, die eigenen Positionen in Frage zu stellen und anhand anderer Positionen zu überprüfen.

All dies passiert beim Philosophieren im Medium des rational argumentierenden Diskurses. Beim Philosophieren werden keine Geschichten erzählt, keine Bilder gezeigt und keine Töne produziert, wie in den künstlerischen Formen der Literatur, der bildenden Kunst und der Musik, sondern es wird argumentiert. Im philosophischen Diskurs werden vernünftige Zusammenhänge hergestellt. Es geht darum, Stimmigkeit und Sinnhaftigkeit herzustellen.

In gewissem Sinne erzählt Philosophie auch eine Geschichte, aber es ist eine rationale Geschichte, es ist eine Verdichtung von Gründen und nicht eine emotionale Geschichte einer beispielhaften Lebenserzählung.

Philosophieren ist unmittelbar dialogisch, da jedes Argument, damit es gelten kann, überprüft werden muss und sein Gegenargument quasi selbst bei sich trägt.

Im Zentrum solchen Philosophierens steht dabei nicht die Argumentation von Ursachen her, sondern auf Ziele hin. Die Regeln unseres Lebens gründen nicht in uns als Menschen mit- oder vorgegebene Bestimmungen, sondern sie sind darin begründet, dass ihre Einhaltung es uns ermöglicht, unsere Ziele zu erreichen – immer innerhalb der uns nie vollständig bekannten Grenzen des Menschenmöglichen.

Dies ist eine Definition von Philosophie, die vielleicht manchen irritieren mag, denn war Philosophie nicht die Suche nach, die Liebe zur Wahrheit?

Dieser weit verbreitete Irrtum beruht zum einen darauf, dass Philosophie und Wissenschaft über lange Zeit nicht getrennt waren. Philosophen waren auch Wissenschaftler und Wissenschaftler immer auch Philosophen. Erst als die Wissenschaften in Europa ab dem 17. Jahrhundert begannen, eigenständig zu werden und sich eine nach der anderen aus der Verbindung mit der Philosophie herausgearbeitet hatten, wurde der Unterschied zwischen der Erforschung der Welt und der Selbstbestimmung der Menschen sichtbar.

Der andere Grund lag darin, dass die Philosophen lange Zeit immer behauptet haben, dass ihr eigenes Verständnis dessen, wer wir als Menschen seien und wie wir leben müssten, das einzig wahre sei. Lange Zeit argumentieren Philosophen von den Menschen vorgegebenen Bestimmungen aus, aus denen sich ableiten ließe, wie die Menschen zu leben hätten. Es gehe nur darum, diese Bestimmungen richtig zu erkennen und damit sich zur Wahrheit des menschlichen Seins durchzuarbeiten.

Insbesondere die Theologie, also die Unterform der Philosophie, die auf der Vorstellung einer von einem Gott geschaffenen Welt beruht, hat häufig alle anderen Lebensmodelle als unwahr diffamiert und versucht, mit ihrem Wahrheitsanspruch die Vorstellung, es könnte andere Modelle menschlichen Lebens und Zusammenlebens und andere Entwürfe der Welt geben, von vornherein auszuschließen. Erst mit der Aufklärung über die Religionen und ihrer Kritik setzte sich zeitgleich mit der Entstehung bürgerlich-demokratischer Gesellschaften die Einsicht durch, dass es im Raum des Politischen keine Wahrheit gibt und daher auch keine wahre Philosophie; denn jede Philosophie ist politisch.

In der theologischen Form der Philosophie geht es darum, einen unter Berufung auf eine imaginierte göttliche Autorität gesetzten Entwurf der Welt nur noch zu elaborieren. Es geht nicht darum, ihn zu begründen. Er findet in dieser Form der Philosophie seinen Grund in der vorgegebenen und unhinterfragbaren Annahme eines Gottes. Er ist gesetzt und muss geglaubt werden.

Daher findet die Philosophie nur außerhalb dieser theologischen Form zu sich selbst, weil erst da alles begründet werden muss und weil erst da der Wahrheitsanspruch aufgegeben werden kann und muss. Philosophische Gründe können nie absolut sein, sie sind immer nur relativ, bezogen auf die selbst bestimmten Ziele hin, und sie sind damit grundsätzlich keine Basis für Wahrheitsansprüche.

Wenn wir uns jetzt erinnern, was radikal sein heißt, dann können wir einen Zusammenhang zwischen einem radikalen Vorgehen und der Praxis des Philosophierens erkennen. Radikal sein und philosophieren hängt beides mit Gründen, mit Begründungen zusammen. Das Fundament eines Hauses ist seine Gründung, diese verankert, verwurzelt es in der Erde. Und auch beim Philosophieren geht es darum, dem eigenen Entwurf des Lebens mit Argumenten einen Grund zu geben, der ihn trägt, einen Grund, auf den man sich stützen kann.

Nicht bei jedem Philosophieren beschäftigen wir uns intensiv mit den Gründen für unseren Entwurf menschlichen Lebens und Zusammenlebens. Wenn ein Lebensentwurf gesellschaftlich in weitem Umfang anerkannt ist, wenn er bekannt und bewährt ist, zur Tradition einer Gesellschaft gehört und grundsätzlich nicht in Frage steht, gibt es keine große Notwendigkeit, sich immer wieder intensiv mit seinen Gründen zu beschäftigen. Vielmehr steht dann seine Elaboration, seine Anpassung an eine veränderte Lage, seine Modernisierung oder seine Integration in sich wandelnde Diskurse im Vordergrund. Es geht dann vorrangig darum, auf neue Fragen im Rahmen der grundsätzlich nicht in Frage stehenden alten Setzungen neue, an die aktuellen Diskurse anschlussfähige Antworten zu finden.

Wenn es aber darum geht, einen bestehenden Entwurf des menschlichen Lebens grundsätzlich in Frage zu stellen und einen völlig neuen Entwurf zu begründen, dann muss Philosophie radikal sein, dann muss man radikal philosophieren, weil dann die Gründe für den Entwurf in Frage stehen, weil man dann den neuen Entwurf gegen den alten begründen muss, weil dann im Zentrum des Philosophierens der Streit über die Gründe steht, weil es dann darum geht, den alten Entwurf des Lebens in seinen Gründen zu erschüttern.

Das ist schon lange bekannt. Bereits 1864 fand man in Wageners Staats- und Gesellschaftslexikon unter dem Stichwort »Radicalismus« die Aussage, dass Radicalismus die Afterpflanze freier philosophischer Forschung ist, die auf der wahnsinnigen Vorstellung beruht, alles von Grund aus umzuändern und neu zu gestalten. Dabei wird dann – oh Graus! – jeder Einzelne zum Selbstdenken und Handeln gezwungen.

Die bürgerliche Philosophie der europäischen Aufklärung war eine radikale Philosophie. Der Anarchismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts war eine radikale Philosophie. Die Philosophie des Sozialismus/Kommunismus von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Anfang des 20. war eine radikale Philosophie.

Die bürgerliche Aufklärung hat den Lebens- und Weltentwurf des Feudalismus, das Christentum, grundsätzlich in Frage gestellt und destruiert und stattdessen einen bürgerlichen Entwurf menschlichen Lebens begründet. Wenn die Menschen von Natur aus gleich sind (Rousseau), ist dies ein Grund für den Entwurf einer Gesellschaft ohne durch Abstammung festgelegte Unterschiede, denn wer will als Gleicher schon in einer Welt leben, in der sich einige qua Geburt für besser halten und darauf gestützt soziale Privilegien einfordern.

Der Anarchismus hat ebenso wie Sozialismus und Kommunismus den bürgerlichen Entwurf menschlichen Lebens grundsätzlich in Frage gestellt und ihm einen eigenen Lebensentwurf gegenübergestellt, den es zu begründen galt. Wenn Eigentum Diebstahl ist (Proudhon), ist dies ein Grund für den Entwurf einer Gesellschaft ohne Privateigentum an Produktionsmitteln, denn wer will schon in einer Welt leben, die von Dieben bestimmt wird.

Wenn es also nötig ist, radikal zu philosophieren, geht es immer darum, einen alternativen Entwurf menschlichen Lebens, der sich grundsätzlich von dem bestehenden Modell unterscheidet, zu begründen. Radikales Philosophieren ist also immer dann nötig, wenn sich ein bestehender Entwurf vom menschlichen Leben und ein damit zusammenhängendes Gesellschaftssystem grundlegend ändert – oder ändern müsste.

Jede Philosophie ist die Philosophie ihrer Gesellschaft. Gesellschaften werden nicht nach philosophischen Entwürfen gestaltet, sondern philosophische Entwürfe geben gesellschaftlichen Verhältnissen einen Sinn – oder stellen deren Sinn in Frage. Philosophische Entwürfe menschlichen Lebens bestätigen bestehende Verhältnisse oder hinterfragen sie. Soweit sie sie in Frage stellen, geben sie auch die Möglichkeit, verändernd zu wirken.

Die Gesellschaft ist der Freiheitsraum des Menschen. Wie Menschen sich zusammen organisieren, ist nicht festgelegt. Indem Menschen sich anders verhalten, schaffen sie andere Gesellschaften. Zumeist ist dies ein spontan ablaufender Prozess. Geschichte findet zumeist hinter dem Rücken der Menschen statt. Als das Geld als allgemeines Wertäquivalent in Gesellschaften zum Zwecke des erleichterten Gütertauschs gebräuchlich wurde, konnte niemand wissen, dass dies zum Kapitalismus führen würde. Als elektronische Rechenmaschinen entwickelt wurden, konnte niemand wissen, dass dies zur Digitalisierung einer Vielzahl gesellschaftlicher Prozesse führen würde. Wie Hegel sagte, beginnt die Eule der Minerva erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug. Die philosophische Reflexion auf gesellschaftliche Prozesse folgt diesen Prozessen zwangsläufig nach.

Wenn die Menschen also anfangen, sich Gedanken über ihr Leben zu machen, hat das Leben sie schon in einer bestimmten Weise geprägt. Wir wachsen in die gesellschaftlichen Strukturen hinein und indem wir das tun, werden wir durch diese Strukturen geformt. Zu diesen Strukturen gehört alles, was Gesellschaft ausmacht, von der Sprache, über die Alltagskultur, über die Moralen unserer vielfältigen Lebensbereiche, über die vermittelten Lebensmodelle, über die ökonomischen Mechanismen, über die Formen der Öffentlichkeit und sozialen Interaktion (diese Aufzählung ist alles andere als abschließend). Hinzu kommen die individuellen Prägungen durch unsere Familienkonstellation und durch unsere individuelle Position im gesellschaftlichen Gefüge. All dies bestimmt uns. Wir sind daher zwangsläufig in unseren Reflexionsmöglichkeiten auf uns selbst beschränkt.Was kann Philosophie bei dieser Ausgangslage mehr leisten, als den bestehenden Verhältnissen einen Sinn zu geben?

Philosophie braucht nicht immer nur reaktiv zu sein. Sie kann in gesellschaftliche Prozesse eingreifen. Eingreifende Philosophie versucht, das, was sich spontan entwickelt hat, zu hinterfragen und zu gestalten. Wir können die Ziele unseres Lebens selbst bestimmen und die Verhältnisse an dem messen, was unsere Ziele sind. Zwar können wir uns nicht neu erfinden, aber wir haben innerhalb dessen, was wir geworden sind, einen Spielraum, uns selbst und die Verhältnisse unserer Gesellschaft in Frage zu stellen. Faktizität allein ist kein Grund, auf den sich ein Entwurf menschlichen Lebens stützen ließe.

 

Ökologische Krise

Einer radikalen Philosophie bedarf es in der Situation der Krise. Wenn etwas nicht mehr funktioniert, wie es bisher funktioniert hat, wenn man mit den bisherigen Mitteln und Regeln nicht mehr das erreichen kann, was man erreichen muss, dann stehen wir in der Situation der Krise.

Eine Gesellschaft befindet sich in einer Krise, wenn das bisherige System ihrer Reproduktion nicht mehr funktioniert. Die Situation der Krise ist eine Situation des notwendigen Übergangs von einem nicht mehr funktionierenden alten System zu einem neuen System, das wieder das leistet, was nötig ist. Wenn eine solche gesellschaftliche Neuorientierung nötig ist, bedarf es eines neuen Entwurfs menschlichen Lebens und Zusammenlebens in der Welt.

Ob der Übergang vom Alten zum Neuen gelingt, ist offen. Es gibt zwei Wege aus der Krise: die heilende Lösung oder die Katastrophe. – Nicht zufällig ist die medizinische Terminologie eine der Quellen des politischen Krisenbegriffs.

Gibt es in diesem Sinne eine Krise des 21. Jahrhunderts? Funktioniert also das System der Reproduktion unserer Gesellschaft nicht mehr? Wenn ja, bräuchte es radikale Antworten. Gibt es eine Krise unseres Gesellschaftssystems?

Wir leben im Kapitalismus. Es ist dem Kapitalismus inhärent, Krisen zu erzeugen. Der Kapitalismus reproduziert sich in und durch die Krise. Krisen stellen die kapitalistische Gesellschaftsordnung nicht in Frage, sie erneuern sie nur auf einer anderen Stufe. Mit der Digitalisierung der Lebenswelt z.B. ist nur ein weiterer Bereich menschlichen Lebens der kapitalistischen Verwertungslogik unterworfen worden und dient nun der Reproduktion des Kapitals. Weitere Teilbereiche der sozialen Beziehungen der Menschen werden durch das Kapital marktförmig umgestaltet. Eine grundlegende Krise des kapitalistischen Gesellschaftssystems gibt es durch den Wandel zur Digitalisierung nicht.

Auch der Wandel der politischen Strukturen, der durch die marktförmige Gestaltung der sozialen Beziehungen in den neuen Medien eintritt, ist kein Phänomen einer grundlegenden Krise, sondern nur ein Anpassungsprozess der politischen Strukturen an die veränderte gesellschaftliche Ökonomie. Dass in diesem Prozess gerade die gesellschaftlichen Voraussetzungen einer demokratischen Ordnung erodieren, ändert daran nichts. Der Kapitalismus ist nicht an eine bestimmte politische Ordnung gebunden.

Ebenso ist der Russland-Ukraine-Krieg kein Symptom einer grundlegenden Krise unserer gesellschaftlichen Ordnung. Er stellt entgegen dem, was gerade behauptet wird, keine grundlegende Zäsur da. In Gesellschaftsordnungen, die keine Friedenspolitik, sondern eine Kriegs- und Militärpolitik betreiben, wie es sie seit langer Zeit vielfach auf der Welt gibt, kommt es zwangsläufig zu Kriegen. Es ist eine ungewöhnliche Ausnahme gewesen, dass es in Europa von 1945 bis zum Bürgerkrieg in Jugoslawien1991 keine Kriege mehr gab.

Der Kapitalismus ist keine Friedensordnung. Die Vorstellung, die es in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts einmal gab, dass der »Handelsgeist« (Kant) zum ewigen Frieden führen würde, weil der Krieg dem Handel schade, ist nicht zutreffend. Marx hat zu Recht darauf hingewiesen, dass das Kapital von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend auf die Welt kommt. Der Kapitalismus ist eine gewaltförmige Gesellschaftsordnung, die sich andere Gesellschaften ebenso unterwirft, wie die sozialen Verhältnisse der eigenen Gesellschaft. Mit dem Angriff der Nato auf Jugoslawien/Serbien im Frühjahr 1999 endete daher der auch für eine kapitalistische Gesellschaft abnormale Friedenszustand, der die positive Folge des europäischen Traumas des zweiten Weltkriegs war. Der Angriff der NATO auf Serbien und der Angriff Russlands auf die Ukraine führt in Europa nur wieder die Normalität kriegerischer Gesellschaften ein, wie auch Deutschland als militärischer Vasall der USA eine ist.

Es gibt allerdings eine Entwicklung, die man als grundlegende Krise bezeichnen muss. Es handelt sich jedoch nicht um eine innere Krise unseres Gesellschaftssystems, sondern es handelt sich um eine Krise, die unser Gesellschaftssystem von außen in Frage stellt: die Klimakatastrophe. Die hochenergetische Wirtschaftsweise, auf der alle modernen Gesellschaften heute beruhen, kann, wenn man sie als geschlossenes System betrachtet, ohne weiteres noch sehr lange existieren. Sie befindet sich daher nur als geschlossenes System betrachtet nicht in einer Krise. Sie ist aber kein geschlossenes System, denn sie verändert die natürliche Umwelt des Menschen in einem solchen Ausmaß, dass nicht mehr nur das Aussterben vieler Tier- und Pflanzenarten auf der Tagesordnung steht, sondern die Möglichkeit des Aussterbens der Menschheit selbst. Die hochenergetische kapitalistische Wirtschaftsweise kann daher durch diese Außenwirkung die Reproduktion der Menschheit nicht länger gewährleisten.

Ob das Aussterben der Menschheit noch verhindert werden kann, ist zweifelhaft. Vor 50 Jahren wäre dies möglich gewesen. Über 50 Jahre ist die ökologische Krisensituation bekannt. Mit dem Bericht des Club of Rome Die Grenzen des Wachstums (1972) und dem Nachfolgebericht der amerikanischen Regierung Global 2000 (1980) wurde das Wissen um die ökologische Krise öffentlich gemacht. Seitdem musste allen klar sein, wie die Dinge stehen und was zu tun ist. Wir haben diese Chance nicht genutzt. Es ist unmöglich, jetzt in 10 Jahren nachzuholen, was man 50 Jahre lang versäumt hat. Wir müssten nicht erst in 10 Jahren klimaneutral wirtschaften, sondern wir müssten dies bereits seit 10 Jahren tun. Wir werden es aber auch in 20 Jahren nicht erreicht haben; in Deutschland/Europa nicht und erst recht nicht in der ganzen Welt. Es wird schlimm werden. Für viele Menschen wird es sehr schlimm werden; und die Zahl der Kriege, die um den Zugang zu den Überlebensnotwendigen natürlichen Ressourcen geführt wird, wird weiter zunehmen; und ja, die Frage des Aussterbens der Menschheit steht im Raum.

Wenn sich Umweltbedingungen sehr schnell ändern, und das ist derzeit der Fall, dann sind Ökosysteme nicht in der Lage, sich entsprechend schnell anzupassen. Sie brechen dann zusammen und in einem chaotischen Prozess bildet sich dann, wenn sich die Umweltbedingungen wieder stabilisiert haben, ein neues, an die neuen Bedingungen wieder angepasstes System aus. In diesem Prozess sterben Arten aus und neue entstehen.

Menschliche Gesellschaften sind als Teil der Natur nichts anderes als Ökosysteme. Sie brauchen Zeit, sich an sich verändernde Bedingungen anzupassen. Reicht die Zeit nicht, kollabieren menschliche Gesellschaften genauso wie andere Ökosysteme.

Niedrigenergetische Reproduktionsweisen stehen uns heute in keinem irgendwie relevanten Umfang mehr zur Verfügung. Selbst wenn wir es wollten, könnten wir nicht mal eben auf die Dreifelderwirtschaft umstellen und unseren Acker wieder mit Ochse und Pferd bearbeiten. Uns fehlten nicht nur die Pferde und die Ochsen, uns fehlte schon der Schmied, der den Pflug herstellt. Wir beherrschen die alten Techniken nicht mehr. Wir können aber auch nicht auf das Produktions- und Lebensniveau des Mittelalters zurück, weil es für die heutige Zahl der Menschen unzureichend wäre. Was wir brauchen, sind neue Produktionstechniken für eine niedrigenergetische, nachhaltige Wirtschaftsweise, in der es nicht den systemischen Zwang zu fortwährender Innovation gibt, die Produktionsprozesse rationalisiert und neue Produkte erfindet; und in der es nicht den systemischen Zwang zu sich ständig steigerndem Wirtschaftswachstum und Konsum gibt. Sofern ein ausreichender Lebensstandard gewährleistet ist, machen technische Neuentwicklungen die Welt nicht besser. Gelingt es uns nicht rechtzeitig, niedrigenergetische Produktionstechniken zu entwickeln und das System unserer ökonomischen Reproduktion auf eine nicht wachstumsgetriebene Wirtschaftsweise umzustellen, so gibt es ein sehr hohes Risiko, dass die Menschheit aussterben wird.

Die durch den deutschen Beitritt zum Russland-Ukraine-Krieg ausgelöste Gasversorgungskrise hat uns einen ganz kleinen Ausblick auf einen solchen chaotisch verlaufenden Wandlungsprozess gegeben. Unter hohen Kosten war es einem reichen Land wie Deutschland möglich, die Krise abzufedern. Allzu oft kann sich selbst ein reiches Land wie Deutschland so etwas nicht leisten.

Das Problem an der ökologischen Krise ist, dass sie extern ist, dass sie nicht von selbst zu einer Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse führt, wie dies interne gesellschaftliche Krisen tun, sondern dass man ein scheinbar funktionierendes System ändern muss, weil es die natürlichen Verhältnisse, unter denen Menschen existieren können, zerstört.

Die allermeisten der vorhandenen Reformvorschläge versuchen, den ökologischen Umbau innerhalb der bestehenden ökonomischen Ordnung einer hochenergetischen, kapitalistischen Produktionsweise umzusetzen. Sie stellen diese Ordnung nicht in Frage.

Die ökologische Krise wäre eine gesellschaftliche Krise, wenn ein solcher systemimmanenter Umbau nicht möglich wäre. Dafür spricht vieles. Keines der heutigen Modelle, welche versuchen, im Rahmen der bestehenden Wirtschaftsweise klimaneutral zu werden, kommt ohne die Abscheidung von Kohlendioxid aus. Auch im sechsten Sachstandsbericht des UN-Klimarates wird von der Notwendigkeit »negativer Emissionen« ausgegangen (Sechster IPCC-Sachstandsbericht, Beitrag der Arbeitsgruppe III, C 11). Alle diese Modelle gehen daher davon aus, dass es eine wirklich klimaneutrale kapitalistische Produktionsweise, bei der nicht mehr Kohlendioxid entsteht, als zugleich verbraucht wird, nicht geben kann. Dieses weiterhin erzeugte Kohlendioxid soll in alten Gaslagerstätten verpresst oder anderweitig der Atmosphäre entzogen werden. Der Kapitalismus beruht auf einem extremen Energieverbrauch, er kann ohne diese extreme Energiezufuhr nicht existieren.

Kapitalbildung ist ein Effekt einer entwickelten Geldwirtschaft. Diese allein hätte aber nicht zu dem heutigen kapitalistischen System führen können. Der heutige Kapitalismus entsteht erst aus der Verbindung der Geldwirtschaft mit einer hochenergetischen Produktionsweise. Er entsteht Mitte des 18. Jahrhunderts aus der Verbindung von Geldwirtschaft und Dampfmaschine. Lenin wusste dies, als er 1920 analog den Kommunismus als Sowjetmacht plus Elektrifizierung beschrieb.

Ohne den Einsatz fossiler Energieträger wäre eine industrielle Wirtschaftsweise nicht möglich geworden. Ohne die industrielle Wirtschaftsweise wäre die kapitalistische Produktionsweise technisch auf der Manufakturebene stehen geblieben. Der Übergang von der Manufaktur zur Fabrik war nur durch die auf dem Einsatz fossiler Energien beruhende Produktivitätssteigerung möglich. Nicht das Industriekapital, sondern das Handelskapital hätte in einer niedrigenergetischen kapitalistischen Produktionsweise weiter dominiert. Seine Expansionsmöglichkeiten im Inneren wie im Äußeren wären beschränkt geblieben. Auch wenn ein auf der Manufakturproduktionsweise beruhender Handelskapitalismus die Rationalisierungshindernisse einer auf Sklaventum, feudaler Abhängigkeit oder Zunftwesen beruhenden Produktionsweise überwunden hätte, hätte es ihm nicht gelingen können, die für den Industriekapitalismus erforderliche permanente Steigerung der Produktivität und die permanent erforderliche Expansion der der kapitalistischen Verwertung unterworfenen Welt- und Lebensbereiche zu erreichen. Aufgrund der dem Industriekapitalismus inhärenten Krisenhaftigkeit ist er auf beides angewiesen, um sich als Produktionsweise erhalten zu können.

Eine nichtexpansive kapitalistische Produktionsweise ist nicht denkbar. Bis heute gehen alle Modelle, die den Kapitalismus ökologisch reformieren wollen, nicht nur von der weiteren Nutzung fossiler Energieträger aus, sondern ebenso vom weiteren Erfordernis von Wirtschaftswachstum. Wie auf dieser Basis eine naturverträgliche Lebensweise, die nicht nur klimaneutral, sondern überhaupt ressourcenneutral wirtschaften müsste und die vorhandenen natürlichen Ressourcen vom Land, über die Meere, vom Wasser bis zu den abgebauten Rohstoffen nicht wie bisher weiter ausbeuten, verschmutzen und vergiften dürfte, möglich sein soll, hat noch niemand erklären können.

Dies gilt erst recht, wenn wir unseren eurozentrischen Blick überwinden. Es ist unmöglich, die materiellen Lebensumstände der rund 1,3 Milliarden Menschen in den industriell hoch entwickelten Staaten, für die derzeit 8 Milliarden zählende und in den nächsten Jahrzehnten auf 10 Milliarden anwachsende Menschheit herzustellen. Weder die energetischen noch die materiellen Ressourcen stehen dafür zur Verfügung; ganz abgesehen davon, dass dies zum Kollaps unseres Ökosystems führen würde.

Eine niedrigenergetische Wirtschaftsweise ist daher nicht nur ein Erfordernis einer ökologischen Lebensweise, sondern auch eine Forderung der Gerechtigkeit. Nur durch eine solche Produktionsweise kann der materielle Lebensstandard aller Menschen auf der Welt auf ein gleichartiges Niveau gebracht werden. Sie ist auch eine Forderung der Friedenspolitik, denn ohne sie wird es immer mehr Klimakriege geben.

Wenn diese These zutreffend ist, dass eine kapitalistische Produktionsweise aufgrund ihres Expansionserfordernisses nicht klima- und umweltverträglich gestaltet werden kann, dann allerdings haben wir eine Krise im genannten Sinne.

 

Philosophieren in Zeiten der ökologischen Krise

Kann Philosophie einen Lebens- und Weltentwurf entwickeln, der den Menschen in einer naturverträglichen Weise in die Welt stellt? Sicher kann sie das. Aber vereinbar mit einer kapitalistischen Gesellschaft ist ein solcher Entwurf sicher nicht.

Hätte ein solcher Lebensentwurf eine Chance? Es ist der Menschheit bislang noch nie gelungen, grundlegende gesellschaftliche Veränderungen allein auf Grund eines Entwurfs einer anderen Lebensweise durchzusetzen. Dies ist bislang erst einmal versucht worden, und zwar mit den Projekten des Anarchismus, Kommunismus und Sozialismus des 19. Jahrhunderts. Sie müssen seit den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts als gescheitert angesehen werden. Die bürgerliche Philosophie dagegen, folgte der ökonomischen Entstehung kapitalistischer Gesellschaften nach.

Regulierende Eingriffe in bestehende Gesellschaftssysteme finden regelmäßig mit mehr oder weniger Erfolg statt. Ein positives Beispiel eines allein aufgrund eines anderen Modells von Gesellschaft geplanten grundlegenden Umbaus eines Gesellschaftssystems haben wir dagegen nicht.

Die Gestaltung eines ökologischen Umbaus unserer Gesellschaft, die nach dem oben Gesagten notwendig einen radikalen Wandel des Gesellschaftssystems verlangt, wäre das, woran die sozialen Projekte des Anarchismus, Sozialismus/Kommunismus gescheitert sind: die bewusste, geplante, grundlegende Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Die bürgerliche Philosophie glaubte an die Notwendigkeit der »List der Vernunft« (Kant), um die gewünschten gesellschaftlichen Zustände zu erreichen und noch der Sozialismus versuchte Überzeugungskraft daraus zu gewinnen, dass es der notwendige Lauf der Geschichte sei, dass die kommunistische Gesellschaft entstehe – oder aber die Menschheit in der Barbarei versinke.

Einen philosophischen Entwurf einer neuen Gesellschaft, der davon ausging, dass die Menschen diese gegen das bestehende Gesellschaftssystem aus sich heraus ohne irgendeine externe Unterstützung – sei es nun Gott, eine göttliche gedachte Vernunft oder das Wesen des Menschen – neu schaffen, hat es noch nicht gegeben. Bei einem philosophischen Entwurf, der davon ausgeht, dass er unter Bezug auf solch eine externe Instanz die göttliche oder profane Wahrheit wieder gibt, ist immer ein Automatismus im Spiel, der dazu führt, dass das gewünschte Ergebnis von selbst entsteht. Denn es ist das Prinzip der Wahrheit, dass etwas nur so und nicht anders sein kann. Wenn es um die wahre Entwicklung, das wahre Ziel, den wahren Endzustand menschlicher Gesellschaften geht, muss es etwas geben, das zwangsläufig dort hinführt.

Erst eine Philosophie, die keine Wahrheitsansprüche mehr vertritt, muss sich der Aufgabe stellen, einen gewünschten gesellschaftlichen Wandel völlig in die Hand der Menschen selbst zu legen. Damit muss sie, wenn sie einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel anstrebt, gegen die gesellschaftlichen Automatismen, gegen die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten agieren. Denn faktisch läuft die Geschichte hinter dem Rücken der Menschen, läuft sie automatisch ab, weil die Menschen die Konsequenzen ihres Handelns nur sehr begrenzt überschauen können.

Das ist das eine Problem. Das andere Problem ist, dass Menschen in der Regel nur dann aktiv an der Veränderung ihrer Verhältnisse arbeiten, wenn sie etwas zu gewinnen und wenig zu verlieren haben. Die Arbeiter hatten im 19. Jahrhundert bekanntermaßen nichts zu verlieren außer ihren Ketten; und entsprechend viel zu gewinnen. Wir haben heute viel zu verlieren: unseren liebgewonnenen materiellen Luxus. Wer den Menschen heute erzählt, dass es aus ökologischen Gründen erforderlich ist, vom motorisierten Individualverkehr auf den öffentlichen Verkehr und das Rad umzusteigen und zu Fuß zu gehen, wird bei den allermeisten viel weniger Zustimmung finden als der, der ihnen erzählt, man müsse nur vom umweltschädlichen Verbrennungsmotor auf den angeblich umweltverträglichen, tatsächlich aber kaum weniger umweltschädlichen E-Motor umsteigen. Dies ist ein typisches Beispiel für das zur »Lösung« der ökologischen Krise favorisierte Reformmodell des technischen Umbaus des bestehenden Systems. Dafür bedarf es keines radikalen philosophischen Neuentwurfs, denn dieses Modell geht weiterhin von einer hoch energieintensiven Lebensweise mit einem hohen Verbrauch an natürlichen Ressourcen und permanentem Wirtschaftswachstum aus; es will nur die Energiegewinnung zum überwiegenden Teil umweltverträglich umgestalten und in gewissem Umfang zur Ressourcennutzung Kreislaufsysteme entwickeln.

Ein radikaler Entwurf einer anderen Gesellschaft müsste sich neben den allgemeinen Problemen also auch noch gegen den Konkurrenzentwurf der technischen Reformierung des Kapitalismus durchsetzen. Wahrscheinlich ist das nicht. Die allermeisten von uns können sich eine Welt ohne ständig neue Produkte nicht mehr vorstellen. Nächstes Jahr kein neues iPhone? Das kann nicht sein.

Philosophie kann Menschen nicht davon überzeugen, dass sie anders leben müssten. Der Wunsch danach, anders zu leben, kann sich nur aus der spontanen Kritik der Menschen an ihren Lebensverhältnissen entwickeln. Philosophie kann diesem Wunsch nur eine Richtung, eine Gestalt geben und gute Gründe für ihn anführen. Sie kann die Perspektive eines anderen Lebens aufweisen und bestenfalls damit eine Handlungsoption eröffnen, die das lähmende Es war schon immer so und kann nicht anders sein überwindet.

Einen Entwurf einer weltverträglichen Lebensweise des Menschen zu entwickeln, kann hier nicht geleistet werden. Ein solcher Entwurf müsste der einer nichtexpansiven, niedrigenergetischen Wirtschaftsweise sein, die die natürlichen Ressourcen nutzt, aber nicht vernutzt. Änderungen unserer Produktionstechniken und unserer Wirtschaftsweise allein sind nicht ausreichend. Es bedarf einer grundlegend anderen Lebensweise. Es müsste der Entwurf einer Lebensweise sein, in der nicht Besitz, Konsum und Macht, sondern andere Qualitäten des menschlichen Lebens wie Freundschaften, kulturelle Aktivitäten, selbstbestimmtes Arbeiten und der Genuss einer intakten Umwelt zentral wären. Es müsste auch der Entwurf einer freien und gerechten Gesellschaft sein, in der humanistische Werte im Vordergrund stehen, denn in einer ungerechten, unsolidarischen Gesellschaft gibt es keine weltverträgliche Lebensweise. Wenn Menschen erfahren, dass auf sie keine Rücksicht genommen wird, werden sie auch auf andere und auch auf ihre Umwelt keine Rücksicht nehmen. Eine weltverträgliche Lebensweise bedarf daher, ganz abgesehen von allen Fragen einer umweltgerechten Produktionsweise, einer sozialen Ordnung, die frei von Herrschaft und daher grundsätzlich gerecht ist, einer Ordnung, in der wenige Privilegierte nicht die Möglichkeit haben, sich die Produkte der Arbeit der Vielen anzueignen. Der Entwurf einer solchen humanistischen Gesellschaft müsste zugleich auch der Entwurf einer freien und gerechten Weltordnung sein. Frei von Krieg und damit von der Möglichkeit, dass einige Länder sich gewaltsam die Produkte anderer Länder aneignen.

Eine weltverträgliche Lebensweise als Ökodiktatur kann es nicht geben. In einer ungerechten Ordnung werden die Menschen auch der Natur nicht ihr Recht zukommen lassen. In einer Gesellschaft, in der Bereicherung und Macht als zentrale Werte gelten, und dies ist immer der Fall, wenn es Herrschaft und Krieg gibt, wird man sich weiterhin nicht nur auf Kosten der Anderen, sondern auch auf Kosten der Natur bereichern. In einer solchen Gesellschaft werden sich die Menschen weiter für berechtigt halten, die Natur zu vernutzen. Sie werden sich weiterhin für besonders halten und ihr Handeln nicht daran ausrichten, dass sie nur ein Teil der Natur sind, der nicht wichtiger ist als alle anderen Teile der Natur auch.

Ein solcher Entwurf einer weltverträglichen Lebensweise wäre ein radikaler Bruch mit der bestehenden Ordnung. Es bedürfte eines radikalen Philosophierens, um diesen Bruch zu vollziehen, kapitalistische Ökonomie und politische Herrschaft zu delegitimieren und eine solche neue an humanistischen Werten orientierte, gerechte, solidarische, friedliche und weltverträgliche Lebensweise zu begründen.

Ein solcher philosophischer Entwurf wäre nicht die eine Philosophie für die Welt. Eine solche kann es nicht geben. Eine Philosophie, die keine Wahrheitsansprüche mehr vertritt, kann auch keine Alleinvertretungsansprüche erheben. Eine Philosophie kann immer nur die Philosophie eines bestimmten Kulturkreises sein und sie kann auch nie nur die eine Philosophie eines bestimmten Kulturkreises sein. Philosophien gibt es immer nur im Plural. Philosophische Entwürfe stehen immer in einer grundsätzlich gleichwertigen Konkurrenz miteinander. Es gibt für philosophische Entwürfe gute oder bessere Gründe, aber keine absoluten Gründe. Ein Gestus moralischer Überlegenheit, ist nicht begründbar.

Die hier angestellten philosophischen Überlegungen gehören dementsprechend in den europäischen Kulturkreis und beziehen sich auf diesen Erfahrungsraum. Philosophien können kulturelle Differenzen nicht auflösen, im Gegenteil beruhen sie auf ihnen. Wenn es keine Wahrheit in Fragen der Lebensweise gibt, gibt es auch nicht den einen philosophischen Entwurf für alle. Vielmehr kann und muss es unterschiedliche Entwürfe weltverträglicher Lebensweisen geben, die sich an den jeweiligen kulturellen Traditionen und Bezügen orientieren und an sie anschließen. Gerade eine radikale Philosophie muss sich in ihre jeweilige kulturelle Traditionslinie stellen, um akzeptabel zu sein. Wer mit Traditionen brechen will, muss sich in Traditionen einordnen.

Ein philosophischer Entwurf einer weltverträglichen Lebensweise, sei er auch noch so sehr einer bestimmten Kultur verhaftet, bedarf einer globalen Perspektive. Die Philosophie einer friedlichen Welt muss ein Modell für das friedliche Zusammenleben der Menschen unterschiedlicher kultureller Gesellschaften geben. Es bedarf dafür eines übergeordneten gemeinsamen Selbstverständnisses der Menschen als Menschen unabhängig von ihrer jeweiligen Individualität. Es bedarf einer Ebene eines gemeinsamen Verständnisses, auf der wir uns unabhängig von unseren Prägungen durch Kultur, Herkunft, Klasse, soziale Rollen, Religion/Weltanschauung, Alter, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Hautfarbe und anderes verständigen und verstehen können. Eine solche Verständnisebene und ein solches übergeordnetes Selbstverständnis, das kleinste gemeinsame Vielfache der Menschheit, wäre gemeinsam zu erarbeiten und müsste, fernab aller kulturellen Konkurrenz auf dem allen Menschen gemeinsamen Mitgefühl füreinander aufbauen.

Wenn es die Notwendigkeit gibt, unsere Lebensweise zu ändern, dann müssen wir darüber reden, wie wir dies tun können und wie wir es tun wollen. Anders geht es nicht. Philosophieren ist eine Weise des Redens darüber, wie wir unser gesellschaftliches Leben neu organisieren können. Solches Reden in der Form der Philosophie kann wie jede andere Form der Kommunikation über diese Fragen hilfreich sein. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Wer allerdings nicht nur über radikale Veränderungen reden möchte, wer auch radikal handeln will, der muss sich im Klaren sein, dass solches Handeln in jeder Gesellschaft, auch in einer relativ liberalen wie der unseren, kriminalisiert werden wird.

Eine radikale Veränderung der Gesellschaft, ein Wandel des Gesellschaftssystems ist nicht ohne Regelbrüche erreichbar. Jedes soziale System schützt seine Regeln durch Strafnormen. Im Kapitalismus ist nicht Eigentum Diebstahl, sondern strafbarer Diebstahl ist hier die Aufhebung des Privateigentums – sei es als individuelle Handlung eines Kriminellen oder als kollektive Handlung eines alternativen Projekts.

Die radikale Veränderung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse ist nicht ohne soziale Konflikte möglich, weil ein solcher Umwandlungsprozess zwangsläufig viele Verlierer hat, denen die Lage der Anderen egal ist und die sich gegen den Verlust ihrer Privilegien wehren werden. Die Geschichte menschlicher Gesellschaften ist die Geschichte solcher Kämpfe.

Diesmal allerdings geht es nicht nur darum, welche Klasse die herrschende ist oder ob es weiterhin Klassen gibt, sondern es geht darum, soziale Gleichheit herzustellen und sich von einer Gesellschaftsordnung zu verabschieden, in der Konsum und materieller Besitz die Grundlage der sozialen Hierarchie sind. Eine Gesellschaft ohne solche materiell fundierten Hierarchien wäre im Hinblick auf die letzten Jahrtausende der Menschheitsgeschichte ein Novum. Wahrscheinlicher wird die Verwirklichung des Projekts einer ökologischen, gerechten und friedlichen Gesellschaft damit nicht.

Aber wie heißt es: Wer kämpft ka nn verlieren, wer nicht kämpft hat schon verloren. In diesem Falle allerdings ist es wahrscheinlich, dass wir alle verlieren werden, wenn dieser Kampf verloren wird.

Der Aufsatz ist auch als zitierfähiges PDF verfügbar.

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