Hartmut Kreß: Religionsunterricht oder Ethikunterricht?

 

Autor: Hartmut Kreß
Erschienen: Nomos, Baden-Baden 2022
Seiten: 238
Preis: 68,00 €
ISBN: 978-3-8487-8931-3
Rezensent: Horst Groschopp

 

 

 

Und ewig währt der Religionsunterricht?

Als dritter Band der Schriftenreihe des der Giordano Bruno Stiftung nahestehenden Instituts für Weltanschauungsrecht erschien 2022 das Buch von Hartmut Kreß „Religionsunterricht oder Ethikunterricht?“. Der Autor, evangelischer Theologe in Bonn, hat sich in den letzten Jahren zu nahezu allen strittigen ethischen Fragen provokativ geäußert, so etwa zur Sterbehilfe, nun zum Religions- und Ethikunterricht. So apodiktisch auf ein Entweder-Oder zusteuernd wie der Titel suggeriert, sind seine Darlegungen allerdings nicht.

Aber Kreß befördert Absichten zu einer grundsätzlichen Reform und begibt sich dabei in die lange Tradition derer, die für eine schulische Unterrichtung in Ethik und Religionskunde eintreten, zu Lasten des tradierten religiösen Gesinnungsunterrichts. Er bezieht sich hier auf die soziologischen Tatsachen einer inzwischen pluralen pädagogischen Welt. Für eine Neuordnung sprächen nicht nur sich breit vollziehende Säkularisierungen, sondern eine enorme Zunahme der konfessionsfreien (im Sinne von nichtgläubigen) und anders als christlich gläubigen) Bevölkerung nahezu überall in Europa mit der Entwicklung zur Mehrheit, wie sie im Osten Deutschlands mit siebzig Prozent schon vorherrscht und – wie der Religionssoziologe Detlef Pollack nicht müde wird zu betonen – sich der Westen in dieser Entwicklung an den Osten anpasst.

Zwar dominiere aktuell, so Kreß bereits in der Vorbemerkung, in der Sache bei den Kirchen „eine defensive Tendenz“. (S. 13) Religion bilde nicht mehr die Mitte der Erziehung und Kirchen stellen nicht mehr die Schulaufsicht. Es sei den Kirchen und ihnen verbundenen Politikern aber gelungen, das Modell des 19. Jahrhunderts auch über die Revolution von 1918 und den Neuanfang nach 1945 hinweg zu konservieren. Der Autor geht diesen Vorgängen besonders in ihren Rechtsveränderungen nach und ergänzt diese durch Anführung der immer wieder aufkommenden kritischen Stimmen, die sich seit 1810 für eine übergreifende Ethik aussprechen. (vgl. S. 31 ff.) Stets obsiegte in der Geschichte allerdings der herkömmliche Religionsunterricht und damit ein staatlich wie kirchlich gewolltes Konstrukt des 19. Jahrhunderts, dazu noch aus der Restaurationszeit nach 1848.

Dass ihnen dies fortwährend gelungen sei, das ist allerdings zumindest ungenau oder, besser gesagt, nur stimmig, wenn Ostdeutschland und davor die sowjetisch besetzte Zone nach 1945 und die DDR ab 1949 – wie leider üblich in den meisten deutschen Geschichtsbetrachtungen – auf eine Art und Weise unberücksichtigt bleibt, als habe es den zweiten Staat gar nicht gegeben, als hätte der nicht mehr zu Deutschland gehört.

Kreß geht auf die schon im Mai 1945 von der Militärverwaltung, die auf Konzepte des Moskauer „Nationalkomitee Freies Deutschland“ (mit kommunistischer Mehrheit) zurückgreift, zuerst in Berlin durchgesetzte Trennungen von Staat und Kirchen sowie Schule und Religion mit ihren Folgen bis 1989 nicht ein. Dabei stellten diese eine Umsetzung der im November 1918 verfügten Erlasse dar, die wesentlich von USPD und Schulreformern stammten (etwa von Gustav Wyneken, auch wenn sie im Namen der Minister Adolph Hoffmann und Konrad Haenisch erfolgten), die auf Druck der Kirchen Ende Dezember 1918 zurückgenommen wurden – was dann die entsprechende Politik in der Weimarer Republik bestimmte, etwa, dass in Preußen bis 1933 das konfessionelle Schulverwaltungsgesetz von 1906 galt und die „weltlichen Schulen“ zu Ausnahmen von der Regel machten, obwohl sie verfassungsrechtlich garantiert waren (und noch sind), worauf noch eingegangen wird.

Diese Ost-Lücke zu sehen und zu erwähnen, mag Ansichtssache sein, wurde aber für die radikale Umstellung der Kultur- und Bildungspolitik nach 1990 in den sogenannten neuen Bundesländern wesentlich, in dem das Religionssystem West eingeführt wurde, nicht nur in Sachen Religionsunterricht, sondern auch hinsichtlich der sozialhelfenden Tätigkeiten und Einrichtungen, wo Caritas und Diakonie nun das Monopol haben. Der Verlauf mit seinen Ergebnissen ist auch ein Desiderat der Forschung. Die soeben geäußerte Einengung schränkt die Leistungen des Autors allerdings nicht ein, denn es wurde ja ein Modell übertragen, das er umfänglich analysiert.

Zum Thema wird viel neues Material ausgebreitet. Beschrieben werden nahezu zweihundert Jahre Auseinandersetzungen über Sinn und Zweck eines Religionsunterrichts, teilweise mit Blick auf die USA, die Niederlande, auf Frankreich und Polen. Kreß baut seine Rechtserörterungen in eine kultur- und geistesgeschichtliche Rückschau ein. Er erläutert kritisch die gegenwärtige Rechtslage in der Bundesrepublik und in ausgewählten Bundesländern.

Gerade die Rückführung des Religionsunterrichts auf nachlutherische Strömungen des Altprotestantismus und des Pietismus zum einen und des Ethikunterrichts auf toleranzorientierte Ansätze (Basedow) zum anderen erhellt aufklärerische wie gegenläufige konservative frühe Ansätze gleichermaßen. Die Streitfragen schleppen sich jeweils bis in die Gegenwart fort. Gerade den Toleranzgedanken greift Kreß immer wieder auf, etwa wenn er die Verfechter des Antijudaismus und deren wirksam gewordenen Konzepte von Religionsunterricht erläutert (etwa Schleiermacher, vgl. S. 36 ff.) und in protestantischen und katholischen und in der Gegenwart in orthodoxen und islamischen Unterricht einführt.

Es ist ein Vorzug der Publikation, dass der Autor nicht einfach konträre Positionen vorstellt, sondern an einzelnen Personen Entwicklungen herausarbeitet, etwa wenn er die Ansichten von Hugo Preuß, der als Vater der Weimarer Reichsverfassung gilt, im Berliner Schulstreit der 1890er Jahre vorstellt und mit dessen späteren Haltungen in der Nationalversammlung vergleicht. Ähnliches gilt für Ernst Troeltsch.

Erkenntnisgewinne bringen auch Gegenüberstellungen der „Bonner“ mit der Weimarer Verfassung sowie der jeweiligen Verhandlungen in der Nationalversammlung bzw. im Parlamentarischen Rat. Er sieht einige Rückschritte des Grundgesetzes von 1949 gegenüber der Reichsverfassung von 1919, besonders die 1948 kirchlich lancierte Hereinnahme des Religionsunterrichts in den Grundrechtekatalog. (vgl. S. 85 ff.)

Jedenfalls wird klar, dass in jeder Phase des Kampfes um die Schule für nur eine kleine Zahl von Intellektuellen und Politikern eine Schule ohne Einführungen in Religion überhaupt denkbar war und ist. Deshalb sind für ihn Entdeckungen – etwa hinsichtlich der Genese eines Faches „Lebenskunde“ und seiner Unterrichtung in Berlin und Brandenburg durch den „Humanistischen Verband Deutschlands“ – unbedingt berichtenswert, inklusive der Zurückweisung kirchlicher Ansprüche durch Gerichte bzw. eine Volksabstimmung in Berlin. (vgl. S. 78)

Aber gerade der kurze Abschnitt über den HVD verweist auf eine Innovation der Weimarer Reichsverfassung, die der Verfasser weitgehend unerörtert lässt, nämlich die rechtliche Gleichsetzung von Religionsgesellschaften mit Weltanschauungsgemeinschaften und die dadurch gegebene Möglichkeit, eigene Schulen zu errichten und dort eigenen (etwa freireligiösen oder jüdischen) Unterricht einzuführen.

Darüber bestand Konsens in den sozialliberalen Fraktionen wie Heinrich Schulz in der Begründung der Schulartikel in der Nationalversammlung 1919 vortrug. Er war damals im Auftrag des Reichspräsidenten Ebert Verhandlungsführer der SPD und Koordinator der Verhandlungen zum Schulkompromiss.

Einen freireligiösen Unterricht gab es in der Weimarer Zeit in vielen Bundesländern und auch in der Bundesrepublik bis in die 1970er Jahre. Warum das Projekt scheiterte bzw. nur in Berlin als „Lebenskunde“ erfolgreich wurde, ist ebenfalls ein Forschungsdesiderat. Formaljuristisch folgt der HVD diesem tradierten Modell und nicht dem staatlichen Fach Lebenskunde/Religionsgeschichte an „weltlichen Schulen“. Es bietet nicht einfach eine Art weltlicher Ethik, sondern etwas, was wohl in keinem Ethikunterricht vorkommt: eine humanistische Unterweisung. Überhaupt kommt Humanismus, so zeigt ein Blick in die Lehrpläne, wenig bis gar nicht vor.

Auch das vorliegende Buch zeigt: Es gibt noch keine Geschichte des Ethikunterrichts, schon gar nicht der pädagogischen Methoden, Didaktiken, Stoffe, Lehrpläne usw. und ihrer Abfolge, ihrer Anleihen und ihren Ergebnissen. Kreß gibt allerdings einige deutliche Fingerzeige, etwa hinsichtlich der Vorleistungen im Umfeld der „Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur“ (DGEK) 1892 ff. (vgl. S. 79 f.)

Der Autor widmet sich ausführlich den Verfassungspassagen von 1919 und 1949, den Debatten und aktuellen Bedeutungen der „bekenntnisfreien (weltlichen) Schule“, d.h. Einrichtungen ohne obligatorischen konfessionellen Religionsunterricht, die ab 1920 (nur in Preußen) erlaubt wurden. Er erörtert insonderheit den Begriff der „Ausnahme“ (vom sonst pflichtigen Religionsunterricht, vgl. S. 136 ff.).

Selbstverständlich stimmt sein Urteil, dass diese „bekenntnisfreien Schulen“ weiterhin verfassungsrechtlich zulässig sind – wenn eine relevante Gruppe von Eltern sie gerichtlich erzwingen möchte, allerdings ist hier einzugrenzen: Wenn die Antragsteller nicht in einem Bundesland leben, in dem die „Bremer Klausel“ gilt. „Von oben“ (von Amts wegen) ist hier nichts zu erwarten, zumal dort und in der Rechtsprechung noch immer Verwechslungen mit „Weltanschauungsschulen“ grassieren.

Zwar hat der in der Revolution 1918 eingeführte „Elternwille“ die Stellung des Religionsunterrichts grundsätzlich verändert. Erst gegen die Kirchen eingeführt, dann von den „Volkskirchen“ gegen linke Politik gerichtet, 1933 ausgeschaltet, dann wieder seit den 1970ern und der „Entvölkerung“ der Kirchen von diesen nicht mehr einsetzbar – aber die Reformer haben nahezu gar keine Organisationen, die, auf den „Elternwillen“ sich berufend, eine Reform des Religionsunterrichts anstreben.

Am Schluss des Buches wagt sich der Autor auf das Feld des politischen Klärungsbedarfs. (vgl. S. 197 ff.) Er sieht drei mögliche Entwicklungspfade: eine Modifikation des konfessionellen Religionsunterrichts, die Transferierung des jetzigen Religionsunterrichts in einen multireligiösen und die Einführung eines Schulfaches Ethik/Religionskunde. Für die letztere Perspektive sieht Kreß drei Varianten: ein Pflichtfach Ethik/Religionskunde neben konfessionellem Unterricht, einen Unterricht in den schon erwähnten bekenntnisfreien Schulen und die Aufhebung der Garantie des herkömmlichen Religionsunterrichts im Grundgesetz.

Kreß formuliert Hoffnungen: „Die ‚klassischen‘, seit 1919 erhobenen Einwände gegen einen nichtkonfessionellen Religionsunterricht – erstens zu großer Widerstand der Kirchen; zweitens Überforderung der Lehrpersonen; drittens fehlende Lehrmaterialien – schlagen nicht durch.“ (S. 211) Angenommen, das Urteil könne allgemein werden, dann ergibt sich aber doch noch die Frage nach einer möglichen sozialen Situation und politischen Konstellation, die Politiker motiviert, überhaupt dieses Thema bzw. einen der Vorschläge aufzugreifen. Auch eine breite, bundesweite sozialliberale akademische Bewegung, gar Organisation, wie 1892 ff. die DGEK, ist nicht in Sicht.

Der Rezensent sieht deshalb auf absehbare Zeit keine maßgeblichen Kräfte, die politisch initiativ werden könnten und ihre Karrieren wegen des Religionsunterrichts aufs Spiel setzen. Dafür sind die Probleme für eine Mehrzahl der Wählerinnen und Wähler zu wenig lebensbewegend, gerade bei einem vorherrschenden „Christentum light“, einem „Ersatz“ Ethik und einer Überzeugung, die besagt, auch uns Eltern hat der Religionsunterricht nicht geschadet.

Die Kirchen haben zudem historisch immer wieder gezeigt, dass, wenn es für sie tatsächlich ernst wird, sie geschickt, gemeinsam und militant zu handeln vermögen: 1848/1849, 1918/1919, 1948/1949. Kreß belegt dies.

Und umgekehrt: Wie groß, handlungsfähig und zielorientiert wäre denn die andere Klientel? Was könnten ihre Motive sein? Ich sehe eher die Perspektive, dass sich die Kirchen der Ethik annehmen – wie es ja praktisch schon passiert. (vgl. S. 146 ff. u.a.) Sie haben den Anspruch, möglicherweise den Willen, die politische und verwaltungsjuristische Unterstützung, das Personal, das öffentliche Geld, die Universitäten, eigene Schulen und Hochschulen, Akademien, Ausbildungskapazitäten … und sind ebenso erfindungs- wie einflussreich, auch juristisch und hinsichtlich einer Begründungslyrik. Das zeigt die Minderheitenkirche im Osten Deutschlands, die auch mit der regionalen Presse eng verbunden ist.

Die Rezension ist auch als zitierfähiges PDF verfügbar.

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