Katja Hoyer: Diesseits der Mauer

Autorin: Katja Hoyer
Titel: Diesseits der Mauer. Eine neue Geschichte der DDR (1949-1990)
Verlag: Hoffmann und Campe, Hamburg 2023
Seiten: 592 Seiten
Preis: 28,00 €
ISBN: 978-3-455-01568-3
Rezensent: Horst Groschopp

 

 

 

Auslaufende Gischt. Ein polemisches Essay zu einem umstrittenen Buch

Gleich einer verebbenden weißlichen Gischt an Stränden, wo sie stets ausläuft, aber immer wiederkommt, wenn Wasser und Luft sich mengen, entsteht regelmäßig um den sogenannten Tag der deutschen Einheit herum ein aufwallendes Gebräu, das Gedächtnis an die untergegangene DDR. Es mischt sich dabei widerspenstiger Atem anderen Erinnerns, schwerem Wasser gleich, mit der als offiziell anerkannten Wahrheit der Delegitimation des ostdeutschen Landesteils, der, mit Ausnahme Westberlins, ein Staat war, bis er am 3. Oktober 1990 dem Geltungsgebiet des Grundgesetzes der BRD rechtlich bindend beitrat.

Auch dieses Jahr (2023), wenngleich etwas früher als sonst, nämlich schon im Vorsommer, schwamm ein von England her schipperndes Papierboot auf der schäumenden Gischt. Die Gischt verlief sich zum Herbst hin wie seine Vorgänger im Sand des deutschen Einheitsufers. Den kühnen Kahn spülte es an Land. Er hatte das Buch von Katja Hoyer geladen, fast 600 Seiten schwer. Es kam ihm vielleicht zugute, dass es ursprünglich „Jenseits der Mauer“ hieß, wer weiß? Jedenfalls wandte sich der Text zuerst an ein ausländisches Publikum. Kaum hier erschienen, hatten die hiesigen Schnellleser – wohl, weil sie beruhigt in den Sommerurlaub wollten – fix ihre abwertenden Urteile parat. Als Speerspitze erwies sich wieder einmal die FAZ (John Connelly; 26.6.2023): Die Autorin Hoyer erzähle ihrer Leserschaft Märchen über die SED.

Aber der Gischt, die das Boot immer weiterschob und es nicht untergehen ließ, war diesmal schwerer beizukommen als sonst, schien doch das Papierwerk Segel zu haben, wahrscheinlich eher nimmermüde Ruderer, die das geladene Erzählstück zu einem Bestseller erhoben – und das ausgerechnet im Spiegel. Das fehlte gerade noch unter den inzwischen mehr als zehntausend Büchern über die doch so langweilige DDR, ein Werk, das sich gut lesen lässt und „menschelt“, auf allen Ebenen spielt, im Kreml wie in Eisenhüttenstadt, im Politbüro und in Brigaden, in der Wandlitzer Sondersiedlung der Parteiführung und den Wohnstätten von Werktätigen.

Diese gegebene Übersicht der Unglaubwürdigkeit zu bezichtigen, erforderte den kraftvollen, schnellen und breit gestreuten Einsatz derjenigen, die das gängige, offizielle DDR-Bild geschaffen hatten. Um dieses zu verteidigen, genügte es nicht mehr, der Autorin vorzuwerfen, letztlich wolle sie als Spätgeborene des Systems (1985) und in Jena studiert, ihre Eltern (er Offizier, sie Lehrerin) und sicher auch einige ihrer Lehrer rechtfertigen. Katja Hoyer in die sonst oft zweckdienliche Schublade der „Nostalgie“ einzuordnen, dafür war die Autorin zu jung. Obwohl sie in einem Interview kundtat, sie habe gerne im Osten gelebt (in einem Plattenbau!) und dort sogar noch das Mopedfahren auf einer Simson S 51 gelernt, was ja nun tatsächlich ein Fanobjekt sondergleichen ist und jährlich größere Mengen Menschen aller Altersgruppen zu lautstarken Versammlungen zusammenführt. Dagegen helfen, wie auch bei den „Trabant“- und den W 50-Treffen, keine grünen Verbotsandrohungen wegen Umweltschutz.

Den vorläufigen Abschluss bildete das Resümee von Jens Gieseke am 31. August 2023 mit einem Rezensionsessay in der respektablen Internetzeitschrift H-Soz-Kult, wahrscheinlich angestachelt von der Reduktion seines Œuvres durch die Autorin, er sei ein „Stasi-Experte“ (S. 351).[1] Es wäre besser gewesen, so Gieseke, das Werk als „subjektives Lesebuch einer Vertreterin der ‚Dritten Generation Ost‘ auszuweisen, die sich bemüht, sich das Leben ihrer Elterngeneration anzueignen“. Doch dieses Urteil genügt ihm nicht, denn er sieht in dem Buch „eine neue Spielart des Geschichtsrevisionismus“.

Es sind besonders die beiden Substantive „Lesart“ und „Revisionismus“, die der Kritiker wohl seinen breiten Kommunismus-Forschungen entnommen hat. Sie verweisen auf eine gewisse Affizierung durch die Tonlagen der Ideologie- und SED-Parteigeschichte der DDR. Katja Hoyer hat, folgen wir dem Verdikt, etwas Gefährliches publiziert. Dass so etwas gut Lesbares Kreise zieht, dagegen bauen ihre Kritiker, wenn schon keine Mauern, so doch Hürden. Sie entnehmen Stein für Stein aus ihrem Textgebäude. Auch der kleinste ärgerliche Fehler wird gefunden, aufgelistet, eingeordnet und aufgebauscht, um das Bannurteil zu sprechen: „Historiographisch ist Hoyers Buch ohne Belang und stellt methodisch und in seinen analytischen Befunden einen deutlichen Rückschritt dar.“ Darauf komme ich abschließend noch einmal zurück.

Dabei besteht der eigentliche Gewinn der Lektüre von Hoyers Buch im Versuch einer Gesamtschau auf 45 Jahre Ostdeutschland, inklusive vierzig Jahre DDR. Sich dies vorzunehmen, bedingt einen großen Anspruch und Fleiß, setzt starkes Selbstbewusstsein voraus. Die Autorin hielt ihre ursprüngliche Absicht durch, Engländer und Engländerinnen über die untergegangene DDR und deren Vorgeschichte aufzuklären. Daraus speiste sich wohl ihre unermüdliche Arbeit an einem allgemeinverständlichen Geschichtspanorama. Nicht das akademische Fachpublikum war ihr vorrangiger Adressat, sondern eine Leserschaft, die wohl noch geringeres Interesse an diesem befremdlich anderen Deutschland hat als die im benachbarten anderen Deutschland, dem westlichen.[2]

Das ist wohl die Ursache dafür, dass Katja Hoyer gelegentlich mit ihren belehrenden Einschüben übertreibt, wenn sie sagen will: So war das, so kann man das sehen … sehen Sie das nicht auch? Und manches wirkt in der Rückübersetzung ins Deutsche, eine ebenfalls zu würdigende Leistung, etwas apodiktisch, besonders wenn sie die Alltagswelt dort beurteilt, wo ihre Kritiker es genau anders sehen, sehen wollen und sich mächtig aufregen über solche Sätze wie diesen: „Sie [die DDR-Bürger, HG] nickten [Ende der 1950er Jahre, HG] der in ihrer Straße patrouillierenden VoPo [Volkspolizei, HG] höflich zu, schickten ihre Kinder in FDJ-Ferienlager und lächelten stolz [sic] über die neuen Uniformen ihrer Söhne.“ (S. 195)[3]

Aussagen wie diese sind begründete Vermutungen und nachträglich schwer zu verifizieren, höchstens aus Erinnerungen zu filtern. Katja Hoyer will unbedingt die Sichtweisen einbringen, die quer zu den Ergebnissen der Diktaturforschung liegen, die entweder nur einen negativen Blick auf die DDR werfen oder die wirklichen Befindlichkeiten der Leute in ihren Alltagen gänzlich ausklammern. Die Autorin gibt alles andere als einen sonnigen Blick auf eine schöne DDR. Das wird ihr aber trotzdem vorgeworfen, etwa von Christian Eger am 23. Mai 2023 in der Mitteldeutschen Zeitung: „Historikerin Katja Hoyer erfindet das Bild einer glücklichen DDR-Gesellschaft: Endlich sorgenfrei … Ist das noch Geschichtsschreibung oder schon Revisionismus?“ Der Rezensent „reibt sich die Augen: Die DDR ein kollektives Sanssouci?“

In Hoyers Buch geht es im Gegenteil tragisch zu. Ihre Beispiele für Glück sind eingebettet in Beispiele misslingender Anstrengung. Aber die Autorin ist immer an der Seite derer, die sich mühen und versuchen, ihr Leben erfolgreich zu leben. Ihr Material schöpft sie aus zahlreichen Erinnerungen derer oben und unten. Dabei betreibt sie keine Oral History. Auch das ist ihr zum Vorwurf gemacht worden.

Fußnoten sind kenntlich gemacht, ihre Verortung erfolgt am Ende des Buches. Die Angaben beschränken sich wesentlich auf Zitatnachweise. Die entsprechende Bibliografie findet sich auf den Seiten 551-565. Es wäre für die interessierte Leserschaft sicher hilfreich gewesen, weiterführende Hinweise zu finden.[4] Das Register am Ende ist nützlich.[5] Katja Hoyer hat wahrscheinlich die dreibändige Kulturgeschichte der DDR von Gerd Dietrich und andere neuere Beiträge zur Alltagsgeschichte nicht gelesen, in denen erfolgreich versucht wird, die DDR-Geschichte als eine ambivalente Historie darzustellen.[6] Das hat für die in dieses Thema seit Jahren involvierte Leserschaft den Vorteil neuen Stoffs, besonders dessen Komposition.

Ihre Quellen führen die Autorin auch zu neuen zeitlichen Abschnitten, kürzeren Intervallen als bisher meist üblich, die sie nicht nur eigenwillig benennt, sondern auch stets mit einem Zitat-Spruch einführt, später im Text autorisiert. Weil dies die Gliederung des Werkes ebenso wie die einzelnen Kapitel und den Charakter eines Lesebuches anzeigt, sei die Inhaltsangabe zwischen Vorwort und Epilog hier umfänglich zitiert:

  1. Gefangen zwischen Hitler und Stalin (1918-1945): „In Sibirien wird dir dein großes Maul zufrieren!“
  2. Auferstanden aus Ruinen (1945-1949): „Befreiung? Seltsames Wort.“
  3. Geburtswehen (1949-1952): „So wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben.“
  4. Der Aufbau des Sozialismus (1952-1961): „Was ist diese DDR denn schon?“
  5. Stein auf Stein (1961-1965): „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“
  6. Das andere Deutschland (1965-1971): „Unser Arbeiter- und Bauernstaat gilt also etwas in der Welt.“
  7. Planmäßige Wunder (1971-1975): „Wir waren mitten im Kalten Krieg, da wurde auf beiden Seiten nicht mit Samthandschuhen gearbeitet.“
  8. Freunde und Feinde (1976-1981): „Der Kaffee geht aus!“
  9. Existenzielle Sorglosigkeit (1981-1986): „Sein oder Nichtsein, das war die Frage.“
  10. Alles nimmt seinen sozialistischen Lauf (1987-1990).[7]: „Vorwärts immer, rückwärts nimmer.“

Auf das erste Kapitel verweist die Rezension von Dieter Segert im Neuen Deutschland am 25. Mai 2023, nämlich die Verwurzelung der DDR in der Geschichte der KPD. „Das erste Kapitel beginnt mit einer Schilderung des Schicksals eines deutschen Kommunisten, der 1937 in einem sibirischen Gefängnis sitzt. Der Leser stutzt, aber dieser Verweis auf die Emigration in die Sowjetunion, die an die Hoffnungen der deutschen Kommunisten erinnert und an die Katastrophe der stalinschen Diktatur für jene, ist dann doch nachvollziehbar. Geschichtliche Perioden wurzeln in vorherigen Ereignissen und deren Interpretation. Die DDR wurzelt in der Geschichte der deutschen Kommunisten und ihren Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und der Sowjetunion der 30er Jahre.“[8]

Wenn man diese Voraussetzungen 1945 zu den Ergebnissen 1989 in Beziehung setzt, wird ein großer Lernvorgang sichtbar, der eben nicht erklärbar ist, wenn immer wieder nahezu allein der Unterdrückungsapparat in den Fokus gerückt wird. Was wurde von den Sozialdemokraten übernommen? Mindestens die Prinzipien einer Sozialversicherung. Hier zeigt sich ein Mangel in Hoyers Geschichtsdarstellung, die vom Erleben ausgeht, das Konzeptionelle weniger zum Thema macht, es aber hier und da zur Sprache bringt. Das wird deutlich in den regelmäßigen Auseinandersetzungen der SED-Führung mit der sowjetischen Führungsspitze.

Hoyer zeigt Ulbricht als einen deutschen Kommunisten, der sich in den Kreml-Augen zu sehr sozialdemokratisiert und verselbständigt hat, weil er gegenüber Leonid Breschnew den Oberlehrer gibt. Erich Honecker, zunächst dessen Mann in Ostdeutschland, wird in den 1980ern immer wieder an eigenen Entscheidungen, besonders die deutsch-deutschen Belange betreffend, gehindert. Die Lehre dieser alten Männer der SED-Parteiführung, viele von Anfang an dabei, die Vorgänge 1953 bis 1968 erinnernd, lautete 1987/1989: Wer zu sehr und zu schnell auf Moskauer reformerisches Geheimdienstgeflüster hört, kann sehr flink bestraft werden. So kam man zu spät und die DDR ging für weniger und gründlicher weg als 1952/1953 Lawrenti Beria anzettelte.

Die in meinen Augen erschütterndsten Abschnitte, auf die Hoyer immer mal wieder zurückkommt, beziehen sich auf die Eroberung Ostdeutschlands (diesmal bis zur Memel gedacht) durch die Rote Armee, die deutsche Frauen als Vergewaltigungen, Vertreibungen und Plünderungen erleben. Nikolaj Bersarin, in der DDR als humanitärer Militärführer und Stadtkommandant geehrt, habe Berlin zur offenen Stadt erklärt und seinen Soldaten freie Hand gegeben. Hoyer setzt dies in Verbindung zu den Gräueltaten der Deutschen in der Sowjetunion, aber sie schildert das hiesige Geschehen als große Heimsuchung, die jahrzehntelang Spuren hinterlässt.

Die Rote Armee stand seit 22. Juni 1941 im Krieg „gegen die Deutschen“.[9] Ab Februar 1945 wurden Übergriffe durch sowjetische Soldaten gegen die Zivilbevölkerungen teilweise drakonisch bestraft,[10] doch die massenhaften Vergewaltigungen setzten sich fort.[11] Mitte April 1945 gab es erste öffentliche Vorschläge in Moskau, die deutsche Bevölkerung human zu behandeln. Dennoch wurde bis Kriegsende geduldet (aber nicht angewiesen) – auch in Berlin – eroberte Städte kurzzeitig zur Plünderung durch die siegreichen und überlebenden Soldaten freizugeben – anderes wäre nicht durchsetzbar gewesen angesichts der Verbitterung und der Gnadenlosigkeit der Kämpfe.

Der wohl erste Beleg einer Änderung dieser Haltung findet sich kurz vor Kriegsende. „Am 14. April 1945 erschien in der Moskauer Prawda ein Grundsatzartikel Georgi F. Alexandrows [1908-1961], der zu einer humanen Behandlung von Deutschen aufrief“ („Genosse Ehrenburg vereinfacht zu sehr“).[12] Alexandrow war Philosophiehistoriker an der Akademie der Wissenschaften der UdSSR und Spezialist für westliche Philosophien. Die Rote Armee schlug die letzten Schlachten mit brutaler Härte und ohne Gnade, so, wie der Feind auch ihr begegnete. General Heinrich Graf von „Einsiedels Berichte erschütterten [das „Nationalkomitee Freies Deutschland“ und den „Bund Deutscher Offiziere“, HG], weil sie bewiesen, daß auch ein Artikel Alexandrows gegenüber Ehrenburgs Haßaufrufen machtlos geblieben war.“[13]

Unter Berufung auf die Menschenfreundlichkeit des russischen Feldherrn Suworow berichtete die Berliner Zeitung am 22. Mai 1945 über ein Gespräch mit dem Minister für Handel und Versorgung der UdSSR Anastas Mikojan. Er führte aus, dass „es sowohl unsere Moral als auch unsere Tradition nicht zu[lassen], Not und Leiden der friedlichen deutschen Bevölkerung gleichgültig mit anzusehen.“[14]

Änderungen im Verhalten der Angehörigen der Roten Armee traten eher langsam ein, was die Reaktion der Führungen auf Übergriffe betrifft, wenn sie bekannt wurden. Offiziell war dies ab dem 9. Juni 1945 der Fall, vier Wochen nach Kriegsende. Zu diesem Zeitpunkt nahm in der „sowjetisch besetzten Zone“ die „Sowjetische Militäradministration“ ihre Arbeit auf. Sie hatte in allen Fragen des öffentlichen Lebens die oberste Gewalt und das letzte Wort.

In den Landesteilen, die ab 1. Juli 1945 von den Amerikanern aufgegeben und von den Russen übernommen werden, z.B. Westsachsen, wurden in der Regel für die neuen Besatzungstruppen grün umzäunte Kasernen („Dörfchen“) eingerichtet, teils mitten in den Städten, aus denen auch niedere Offiziere keinen Ausgang bekamen, schon gar nicht allein. Auf ihren Patrouillen kam es, wie meine Verwandten mir berichteten, aber dennoch zu Uhren- und Fahrraddiebstählen.

Mein Großvater Hans war Kraftfahrer bei der Post in Zwickau und vom Wehrdienst deshalb freigestellt. Aber er musste, wie jeder Postbeamte, Uniform tragen. Diese war dunkelblau und sah der schwarzen der SS auf den ersten Blick sehr ähnlich, auch der Kragenspiegel. Opa wurde nach dem Einmarsch der Roten Armee Anfang Juli 1945 verhaftet, aber das Problem konnte relativ schnell geklärt werden, auch, weil der Postbetrieb wieder in Gang kommen sollte. Er bekam für kurze Zeit eine rote Armbinde mit dem provisorischen Aufdruck „пóчта“ (Post).

Immer wieder verweist Katja Hoyer auf die hohe Zahl der Vertriebenen, die in der DDR ansässig wurden und nicht in den Westen Deutschlands weiterzogen. Dem Beitrag, den diese Schlesier, Sudentendeutschen, Ostpreußen usw. zum Aufbau der DDR leisteten, ist endlich einmal wissenschaftlich nachzugehen. Viele Vertriebene, die alles verloren hatten, sahen hier, wie modern gesagt wird, Karrierechancen gerade in Bereichen, wo neu begonnen wurde, wie in der Armee, und wurden dort, wie Katja Hoyers Vater, Offizier.

Durch die Konzentration auf authentische Lebensberichte lässt sich Katja Hoyer einen weiteren wesentlichen Unterschied zur Sowjetunion entgehen, der nach soziologischen Studien zum wesentlichsten Unterschied gegenüber Westdeutschland führt. Sie zitiert Walter Ulbrichts „groteske Liste mit ‚Zehn Geboten’“ vom Juli 1958 (S. 209, das Zitat vgl. S. 209 f.), der sie zum „Bitterfelder Weg“, Tanzmusik und betrieblichen Bibliotheken hinführt.[15]

Der Unterschied zur Sowjetunion bestand darin, dass Ulbricht die Einführung der siebten Gesetzmäßigkeit des Sozialismus,[16] der Kulturrevolution, dank seiner freidenkerischen Sozialisation nicht lediglich als Bewusstseinsveränderung sah, sondern als neue Lebensweise, eingeschlossen weltliche Rituale von der Wiege bis zur Bahre (Stichwort: Jugendweihe). Es war seine Reaktion der „Lückenfüllung“ nach Stalins Tod. Dabei wurde noch das meiste naiv gedacht, in Tradition von linken Kulturvorstellungen der 1920er Jahre. Es ging ihm nicht nur darum, wie in Sowjetrussland, Kirchen einfach zu schließen oder umzuwidmen, Religion zu bekämpfen, sondern mit Klubs, Kulturhäusern und durch Bildungspolitik Alternativen zu schaffen. Das ist alles gut erforscht, auch mit Beiträgen von mir zum Thema.

1997 gaben sechzig Prozent der ostdeutschen Konfessionsfreien an, schon immer konfessionslos gewesen zu sein, nur vierzig Prozent waren getauft und dann aus der Kirche ausgetreten. Fast achtzig Prozent der unter 30-Jährigen wurden nicht getauft (70%) oder sind ausgetreten (9%). Das führte dazu, dass heute im Osten ganze Familien seit Jahrzehnten konfessionsfrei sind, so dass der Theologe Wolfgang Tiefensee von einem „Volksatheismus in der dritten Generation“ sprach. Die östliche Region Deutschlands sei (und dies sei der wesentlichste Unterschied beider deutscher Teilgesellschaften) – dem Soziologen Heiner Meulemann folgend – „von der Religion weiter abgerückt … als der Westen; … [der Osten] ist stärker säkularisiert“.[17]

In einem anderen Text zum „Wertwandel in Deutschland“ widerlegt Meulemann den Mythos, die Kirchen als Orte der Opposition hätten die DDR zu Fall gebracht. „Wie alle vorliegenden Trends zeigen, gewinnen in Ostdeutschland Kirche und Christentum, ja Religion überhaupt, nach der Vereinigung kein Terrain zurück. Vermutlich ist der Grund dafür, dass die Ostdeutschen mit dem Ende der staatlich forcierten Kollektivorientierung ihr Leben der Selbst- und Mitbestimmung widmen können. Sie müssen sich nicht auf Kirche, Christentum und Religion besinnen, sondern können sich endlich der Selbst- und Mitbestimmung verschreiben, deren Suche ihnen jahrzehntelang verwehrt war.“[18]

Meulemanns Thesen zur Kultur in der DDR sind viel radikaler als die der mit Vorwürfen zugeschütteten Katja Hoyer: „Dass die politisch gewünschte Kollektivorientierung in der DDR zu guten Teilen auch soziale Realität geworden war, wird daraus ersichtlich, dass die Bevölkerung sich einer entfremdeten Arbeitsethik unterwarf, bei den Inszenierungen ‚gesellschaftlicher Aktivitäten‘ mitspielte und eine Moral hochhielt, die mehr durch Gebote definiert als durch Prinzipien begründet war. Das waren die positiven Seiten der Säkularisierung der DDR.“[19]

Dass Katja Hoyer vieles ähnlich sieht, provozierte die Generalkritik durch Jens Gieseke und andere. Ein Rückschritt liege vor, so Gieseke. Was aber definierte wer in der DDR-Forschung als Fortschritte? Wie kamen die „ewigen Wahrheiten“ über die DDR zustande und was spricht gegen die These von Hoyer (S. 20), die Geschichte werde von Siegern geschrieben?

Die Sieger sagen, dass sie keine Sieger sind. Es gehe ihnen um Wissenschaft. Gut, aber was ist mit den Werturteilen darin? Dazu ein paar Worte. Es gilt doch zunächst einmal anzuerkennen, dass gerade in der Zunft der Historiker ein großes Aufräumen stattgefunden hat. Ein Gesellschaftssystem war gescheitert, letztlich abgewählt worden. Zu den Verteidigern dieses Systems (jedes Systems) gehören immer auch Historiker, darunter solche mit großem Können und jede Menge Claqueure. Wie Max Weber in „Wissenschaft als Beruf“ geschrieben hat, wirken bei der Gewinnung von Professorentiteln auch ganz profane, wissenschaftsferne Triebkräfte.

Es ist also historisch üblich und normal bei historischen ‚Wendungen‘, dass neue Leute sich anbieten, um nun an die Kanzel zu treten. Ihre Aufgabe ist es, es gibt auch hier Könner und Claqueure, dass sie das neue (hier: das alte westdeutsche) System fürderhin bewerben und das zu Überwindende widerlegen. Hierbei ist doch klar, dass zuerst diejenigen ausgewählt werden, die schon immer antikommunistische Positionen vertraten, wussten, dass die DDR irgendwann untergeht, oder sich beim Sturz des Regimes hervorgetan hatten. Das haben die über Fördergelder befindenden Politiker zu berücksichtigen.

2011 veröffentlichte Carola S. Rudnick das Buch „Die andere Hälfte der Erinnerung“.[20] Es ist eine detaillierte Studie über die Geschichtspolitik Ost nach 1990, ihre Anwendungen vor Ort, die Interessen der Geförderten und die entsprechenden Debatten. Sie zitiert zahlreiche Belege. Im Interview mit ihrem Verlag liest sich dies so: „Eine Forschungsdebatte [zu dieser Geschichtsaufarbeitung, HG] fand leider bisher nicht statt – weil nach den ersten Auseinandersetzungen Anfang der 90er Jahre niemand die ‚Büchse der Pandora‘ wieder öffnen wollte. Selbst die Sabrow-Kommission ‚umschiffte‘ noch 2006 eine Grundsatzdiskussion um geschichts- und erinnerungspolitische Schieflagen. Sie ist aber inzwischen längst überfällig. Mein Buch wagt hier einen ersten Schritt und begibt sich bewusst in den ‚geschichtspolitischen Dschungel’, um mit gebotener Distanz kritische Anstöße zu geben.“

Ein Dutzend Jahre später macht Katja Hoyer einen weiteren Schritt und legt ihre Sicht dar – in einem umfänglichen Werk. Die Reaktion darauf ist eifriges Bemühen, die ‚Büchse der Pandora‘ geschlossen zu halten.

Nun ist Herbst. Der amerikanisch-russische Krieg um die Ukraine dauert an, der um Israel ist wieder einmal hinzugekommen und Deutschland sorgt sich um Gasheizungen und Zuwanderungen. Unterschichtung der Unterschichten ist zwar dem reicheren Teil der Bevölkerung stets willkommen, doch es erheben sich rechtsorientierte Stimmungen, die den Unterschichteten empfehlen, die Gäste als Gegner zu sehen, als Mitesser am kleiner werdenden Kuchen. Das wäre historisch nichts Neues, man kennt dies aus der Geschichte der deutschen Judenverfolgungen und dem Kampf gegen das „slawische Untermenschentum“. Neu ist, dass sich diese Leute zugleich als Interessenvertretungen der gebeutelten Ostdeutschen ausgeben. Dass dies weiterhin geschehen kann, liegt auch daran, dass Erinnerungsgerechtigkeit ausbleibt, wie der Umgang mit Katja Hoyer zeigt. Doch die Sache ist im Fluss. Michael Rutschky gab 1996 dem Band 72 seiner Zeitschrift „Der Alltag“ den hellseherischen Titel „Die DDR entsteht erst jetzt“.

 

Anmerkungen

[1] Jens Giesecke: Rezensionsessay. H-Soz-Kult: https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-135972 (Zugriff: 16.11.2023).

[2] Vgl. hierzu den 700 Seiten-Band: Befremdlich anders. Leben in der DDR. Mit Nachbetrachtungen von Dietrich Mühlberg. Hrsg. von Evemarie Badstübner. Berlin 2000.

[3] „Neu“ bezieht sich auf die vorherigen Uniformen der kasernierten Volkspolizei, die russischem Vorbild folgten. Zart deutet sie auch die Geschichte des besonderen NVA-Stahlhelms vom Typ M56 an (1956 eingeführt), der auf den damals nicht mehr hergestellten, neuartigen Wehrmacht-Helm M45 (für 1945) zurückgeht. Er kostet heute im Internet, ausgestattet mit Tarnnetz, zwischen siebzig und hundert Euro, ist aber etwas billiger auf jedem ostdeutschen Trödelbasar erhältlich, zusammen mit den passenden Orden und Ehrenzeichen aller „bewaffneten Organe“, der Preis gestaffelt nach Seltenheitswert.

[4] So wäre es bei der Erzählung des Falls Pfarrer Brüsewitz (S. 363 ff.) sicher hilfreich gewesen, auf die Studie von Karsten Krampitz zu verweisen: Der Fall Brüsewitz. Das Verhältnis von Staat und Kirche in der DDR infolge der Selbstverbrennung des Pfarrers am 18. August 1978 unter besonderer Berücksichtigung der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen. Berlin 2016.

[5] Ihr erstes Buch von 2021 ist noch nicht ins Deutsche übersetzt: Blood and Iron. The Rise and Fall of the German Empire 1871-1918. Da sie in einem Interview erwähnte, sie gehe darin einige gängige Narrative an, wird wohl bald wieder eine Gischt aufschäumen.

[6] Vgl. Gerd Dietrich: Kulturgeschichte der DDR. 3 Bände. Band I: Kultur in der Übergangsgesellschaft 1945-1957. Band II: Kultur in der Bildungsgesellschaft 1957-1976. Band III: Kultur in der Konsumgesellschaft 1977-1990. Göttingen 2018. – Wolfgang Herzberg: Jüdisch & Links. Erinnerungen 1921-2021. Zum Kulturerbe der DDR. Berlin 2022. – Die DDR als kulturhistorisches Phänomen zwischen Tradition und Moderne. Hrsg. von Dorothee Röseberg und Monika Walter. Berlin: 2020.

[7] Der Spruch lautete: Alles geht seinen sozialistischen Gang.

[8] Dieter Segert: Katja Hoyer. „Diesseits der Mauer“: Die Sehnsucht nach einem Sinn. In: Neues Deutschland, 24.05.2023, online unter: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1173498.ddr-geschichte-katja-hoyer-diesseits-der-mauer-die-sehnsucht-nach-einem-sinn.html (Zugriff: 16.11.2023).

[9] Der folgende Abschnitt ist entnommen aus Horst Groschopp: Der ganze Mensch. Die DDR und der Humanismus. Ein Beitrag zur deutschen Kulturgeschichte. Marburg 2013, S. 200 f.

[10] Vgl. Jan Foitzik: Die Besetzung Ost- und Mitteldeutschlands durch die Rote Armee 1944/1945 im Lichte des Kriegsvölkerrechts. In: Rotarmisten schreiben aus Deutschland, Briefe von der Front und historische Analysen. Hrsg. von Elke Scherstjanoi, München 2004, S. 369-395.

[11] Ausführlich dazu Norman M. Naimark: Die Russen in Deutschland. Die sowjetische Besatzungszone 1945 bis 1949. Berlin 1999, S. 86-168.

[12] Jan Foitzik: Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) 1945-1949. Struktur und Funktion. Berlin 1999, S. 67.

[13] Bodo Scheurig: Freies Deutschland. Das Nationalkomitee und der Bund Deutscher Offiziere in der Sowjetunion 1943-1945. Köln 1984, S. 156.

[14] Aufzeichnung über ein Gespräch mit … A. I. Mikojan, betreffend die Lebensmittelsituation in Berlin und Dresden. In: Um ein antifaschistisch-demokratisches Deutschland, Berlin 1968, S. 35. – Ähnliche Aussagen gibt es von den sowjetischen Marschällen Tschuikow (15.10.1945; S. 175) und Shukow (14.11.1945; S. 204 f.).

[15] Hier hätte sehr gut ein Bezug auf Versuche gepasst, einen DDR-eigenen Tanz einzuführen, den „Lipsi“.

[16] Vgl. Erklärung der Beratung von Vertretern der kommunistischen und Arbeiterparteien der sozialistischen Länder, die vom 14. bis 16. November 1957 in Moskau stattfand. In: Einheit, Berlin 1957, 12. Jg., H. 12, S. 1473-1485, hier S. 1479.

[17] Heiner Meulemann: Aufholtendenzen und Systemeffekte. Eine Übersicht über Wertunterschiede West- und Ostdeutschland. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament Nr. 40/41, Bonn 1995, S. 28 ff.

[18] Heiner Meulemann: Wertwandel in Deutschland von 1949-2000, S. 5 f. (Online unter: http://www.theologie-online.uni-goettingen.de/pt/meulm.htm, Zugriff: 16.10.2023). – Als Hauptgrund für das Ende der DDR nennt der Autor die Entsolidarisierung des Warschauer Pakts mit der DDR. – In der Rezension von Connelly liest sich die andere Sicht so: „Die Revolutionäre kamen aus den Kirchen und wurden von Pfarrern angeführt, doch in den von Hoyer liebevoll erzählten Geschichten kommen keine Christen vor.“

[19] Meulemann: Wertwandel, S. 4. – Vgl. Horst Groschopp: Atheismus in der DDR – eine kulturelle Hinterlassenschaft. In: Marxistische Religionskritik. Von den Junghegelianern über Marx und Engels bis zu Lukács, Bloch und Gramsci. Hrsg. von Horst Junginger und Richard Faber. Würzburg 2023, S. 359-374 (Religionskritik in Geschichte und Gegenwart, Band 4).

[20] Carola S. Rudnick: Die andere Hälfte der Erinnerung. Die DDR in der deutschen Geschichtspolitik nach 1989. Bielefeld 2011. – Vgl. hierzu meine Rezension in: humanismus aktuell: https://humanismus-aktuell.de/die-andere-haelfte-der-erinnerung-von-carola-s-rudnick/ (Zugriff: 16.11.2023).

Die Rezension ist auch als zitierfähiges PDF verfügbar.

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