Ein neues Denken für eine neue Zeit

 

 

 

 

Bildausschnitt von Johann Gottlieb Becker (1720-1782)

Ein neues Denken für eine neue Zeit

Die anhaltende Bedeutung von Kants transzendentaler Wendung in der Philosophie für den praktischen Humanismus*

Drei eigentlich einfache, aber doch kompliziert zu erfassende und zu vermittelnde Gedanken sind klärend zu entfalten:

  • Erstens die anhaltende Bedeutung der von Kant errungenen Befreiung des Philosophierens von dem falschen Ziel einer letzten, absoluten Begründung und die damit grundsätzlich gewonnene Freisetzung der eigenen ‚Logiken‘ der unterschiedlichen Zweige menschlicher Tätigkeit, von den Wissenschaften und Technologien über Lebensweisen und Politiken bis hin zu künstlerischer Darstellung und ‚weltanschaulichen‘ Selbstverständigung in allen ihren Formen;
  • zweitens die tiefe Krise der Moderne, wie sie sich im 20. Jahrhundert entfaltet hat – mit ihren zentralen Auswirkungen gerade auch in der Krise des Marxismus und der Blockierung der Entwicklung der Psychoanalyse;
  • drittens die im Rückgriff auf Kant zu eröffnenden Möglichkeiten, die spezifischen Aufgaben zu begreifen, welche dem praktischen Humanismus angesichts der realen Krisen der Gegenwart zukommen können, in denen die Menschheit mit dieser Krise der Moderne praktisch konfrontiert ist – gerade in der Zeit des ‚Solange‘, nämlich bevor nachhaltige Formen der Krisenüberwindung gefunden werden können.
  1. Kants radikal reflexive Wendung des Philosophierens

Kant hat etwas gesehen und klar philosophisch artikuliert, das weit über seine Zeit und auch die Grenzen seiner eigenen konkreten Anschauungen hinausweist, deren eurozentrische, patriarchalische, ja sogar schon antiproletarische und antiökologische Ausrichtung nicht zu bestreiten sind. Er hat nämlich auf einer ganz elementaren Ebene – was etwa Nietzsche einfach nicht verstehen wollte – die Philosophie von allen Ansprüchen befreit, ‚letzte Gründe‘ liefern zu müssen, wie sie etwa Karl Raimund Popper so weit zu Recht zurückgewiesen hat.[1] Also nicht etwa davon, ‚Gründe‘ und ‚Argumente‘ liefern zu müssen, um ihre Fragestellungen und ihre Untersuchungsergebnisse zu vertreten,[2] sondern vielmehr davon, eine Art von ‚höherem Grund‘ zu liefern, der allem weiteren Fragen ein Ende bereitet.

An die Stelle der Versuche einer derartigen ‚Letztbegründung‘ – wie sie seit Descartes und Bacon, seit Hobbes und Locke, die vorwärtstreibende Philosophie der Neuzeit geprägt hatten – setzt Kant mit guten Gründen die neue und bescheidenere Denkfigur einer schlichten Konstatierung der ‚Fakta der Vernunft‘.[3] Auch wenn dies von ihm nur in seiner Kritik der praktischen Vernunft, also seiner kritischen Wiederaufnahme der Probleme und Fragen der Tradition der ‚praktischen  Philosophie‘ einigermaßen klar ausgearbeitet ist, ist diese Denkfigur der Sache nach von ebenso konstitutiver Bedeutung für seine Kritik der reinen Vernunft und seine Kritik der Urteilskraft: Die erstere setzt die Wahrheit der modernen Physik – in ihrer klassischen, newtonianischen Gestalt – als gegebenes Faktum voraus und beansprucht nicht etwa, diese Wahrheit irgendwie ‚philosophisch zu begründen‘. Sie beschränkt sich vielmehr darauf, zu rekonstruieren, worin die anzunehmenden Voraussetzungen, wie Kant sagt, die ‚Bedingungen der Möglichkeit‘, dieser ihrer Wahrheit liegen. Und sie verteidigt damit das so gewonnene Paradigma des Rückbezugs der philosophischen Reflexion auf wirkliche, faktisch gegebene Wissenschaft gegen alle Versuche, der Philosophie doch wieder eine Letztbegründungsfunktion überzuhelfen. Ich denke, es lässt sich gut begründen, dass in einer mit Kant aufgeklärten Perspektive auch etwa die Weiterentwicklung der modernen Physik seit dem späten 19. Jahrhundert – wie sie mit den Namen von Einstein, Planck und Bohr verbunden ist – unverzerrt aufgenommen und reflektiert werden kann. Und die letztere geht vom Faktum der Existenz der modernen Literatur und Kunst (einschließlich der Musik) aus, welches sich für Kant in einem entsprechenden Urteilsvermögen des Publikums widerspiegelt.

Für wichtiger als die Erinnerung an diese Zusammenhänge halte ich allerdings etwas, was Kant erst in der Weiterarbeit wirklich aufgegangen zu sein scheint: Die transzendentale Abwendung von allen Versuchen einer Letztbegründung als ebenso unnötig wie unmöglich ist nicht nur für einen adäquaten philosophischen Umgang insbesondere mit den Erfahrungswissenschaften[4] von entscheidender Bedeutung, sie lässt sich auch auf andere elementare Errungenschaften der Moderne übertragen – nämlich auf die moderne Praxis der Ethik (sowie, was Kant durchaus klar gewesen ist, damit auch auf die moderne Politik[5]), wie Kant sie unter dem offenbar bewusst breit angelegten Titel der ‚Kritik der praktischen Vernunft‘ reflektiert hat,[6] sowie auf die auf die breite Praxis der modernen Ästhetik, wie sie Kant[7] (und dann vor allem auch Hegel[8]) bereits in ihren frühen klassischen Gestalten haben reflektieren können.

Diese Einsicht in die grundlegende Bedeutung der von Kant vollzogenen reflexiven Wendung der Philosophie – wie sie dann Fichte in seiner Analyse der Doppelstruktur des cogito[9] und Schelling und Hegel dann in einer umfassenden Reflexion der aufkommenden „Einzelwissenschaften“[10] aufgegriffen, weitergeführt und zugleich auch ‚blockiert‘ haben, ist heute noch elementar, um wirklich zeitgenössisch philosophieren zu können – d. h. immer auch, sich analytisch und reflexiv[11] auf wirkliche Prozesse der wissenschaftlichen, ästhetischen oder auch im weitesten Sinne der sozio-ökonomisch-politischen (Re-)Produktion zurückbeziehen zu können.  Das wiederzugewinnen, wird nach den intellektuellen Ruinen, wie sie das 20. Jahrhundert in der Philosophie hinterlassen hat, zu einer entscheidenden Aufgabe eines erneuerten Philosophierens auf der Höhe der Zeit – und Kants Bruch mit den gescheiterten Letztbegründungsversuchen der Philosophie der Neuzeit, wie sie dem radikalen Skeptizismus des ‚Alleszermalmers‘ David Hume erlegen waren, ist dafür immer noch ganz elementar – zumal die Versuche eines theoretischen und praktischen Ausbruchs aus den herrschaftsaffirmativen Paradoxien der Philosophie der Neuzeit, wie sie Marx und Freud initiiert hatten[12], in der ‚Nacht des 20. Jahrhunderts‘[13] sich, jedenfalls ‚erst einmal‘, historisch nicht haben voll entfalten und durchsetzen können.

  1. Die ‚Nacht des 20. Jahrhunderts‘, die Krisen von Marxismus und Psychoanalyse – und die Krise der Philosophie

Während das Scheitern der demokratischen Revolutionen in Kontinentaleuropa – außer in der Schweiz[14] – in der Mitte des 19. Jahrhunderts auch die philosophische Politik zum Erliegen brachte, wie sie bis 1848 etwa für die Hegel-Schule – und auch noch die Junghegelianer[15] – charakteristisch gewesen war, führte die ‚Nacht des 20. Jahrhunderts‘ zu einer Krise der Politik, die von der herrschenden Gestalt der (immer noch ‚bürgerlichen‘) Wissenschaften nicht begriffen oder gar bewältigt werden konnte. Mit dem Scheitern des ‚Realsozialismus‘ als Form menschlicher Emanzipation sowie aufgrund des Scheiterns des weltweiten Aufbruchs von ‚1968‘ scheint diese Krise erst einmal ‚auf Dauer gestellt‘ worden zu sein. Diese dauerhafte Realität einer komplexen Krise wird begleitet von immer wieder neuen Versuchen, eine Philosophie zu entwickeln, welche dazu in der Lage ist, dieser realen Krisenlage zumindest auszuweichen – etwa in ein selbstgeschaffenes Reich einer ‚versöhnlerischen‘ dialektischen Reflektion (Robert A. Brandom) oder in das infrahistorische Reich des ‚eigenleiblichen Spürens‘ (Hermann Schmitz).

Damit hat sich die Vorstellung, auf die kritische Untersuchung der ‚Bedingungen der Möglichkeit‘ einer gelingenden menschlichen Tätigkeit verzichten zu können, als vorschnell gezeigt – und es bleibt daher immer wieder produktiv, auf die elementare Problemebene einzugehen, wie sie Kant der Philosophie eröffnet hat.

Demgemäß können und sollten wir heute nach den ‚Bedingungen der Möglichkeit‘ fragen, wie sie für eine wahre Erkenntnis der gegenwärtigen Lage der Menschheit bestehen und objektiv bestimmt werden können. Die harte, fast unüberwindliche Schwierigkeit dieser Frage liegt allerdings darin, dass hier kein Faktum ihrer gelungenen Beantwortung zu reflektieren ist, sondern umfassend und selbstkritisch zu untersuchen, warum das Unternehmen, eben diese elementare Frage zu beantworten, im 20. Jahrhundert immer wieder gescheitert ist.

Diese Untersuchung muss offensichtlich mit der schwierigen Frage beginnen, ob diese Frage überhaupt sinnvoll gestellt werden kann. Denn in der Tat ist – wie sich in der kritischen Auseinandersetzung mit der hegelschen Philosophie herausgestellt hat – nicht jede imaginierte ‚Totalisierung‘ einer auf ein gegebenes ‚konkretes Ganzes‘ bezogenen Erkenntnis eine sinnvoll durchhaltbare Operation.[16] Auch wenn Karl Raimund Poppers Einschränkung der wissenschaftlich gestützten Bewältigung von Problemen auf Stückwerk-Technologien eine Überreaktion darstellt – es gibt auch (relative) Gesamt-Lösungen, wie dies etwa die Ozon-Krise und ihre nachhaltige Lösung exemplifiziert hat –, so bleibt es doch erforderlich, falschen ‚Totalisierungen‘ entgegenzutreten.

In der gegenwärtigen komplexen Krise, welche die Menschheit letztlich jedenfalls wird bewältigen müssen, um überhaupt weiter bestehen zu können, wird dies in zwei Richtungen dringlich: Zum einen wird es immer schwieriger, allen Versuchungen zu widerstehen, die jeweils als besonders dringlich erlebte existenzielle Krise – sei es die Klimakrise, sei es die Krise der internationalen Beziehungen in den immer mehr entfesselten Kriegen – zur Krise schlechthin zu totalisieren; zum anderen nehmen auch die Schwierigkeiten zu, argumentativ zu verhindern, dass immer wieder Versuche gemacht werden, eine ‚totale Krise‘ zu imaginieren, welche das konkrete ‚patchwork‘ der sich überlagernden und überdeterminierenden Krisen verdeckt und derart eine konkrete Untersuchung der gegebenen Krisensituationen blockiert und letztlich eine praktische Krisenlösung vom Denken her zu verhindern hilft.

Ich denke, von Kant ist hier zu lernen, dass eine Akzeptanz der immer wieder gegebenen, letztlich irreduziblen Pluralität der ‚Fakta der Vernunft‘[17] entscheidend dazu beitragen kann, auch komplexe Lagen zu analysieren, theoretisch zu rekonstruieren und im Hinblick auf ihre jeweils entscheidenden Determinanten zu behandeln.

In diesem Sinne ist offenbar – insofern durchaus im Rückgriff auf Kants ‚transzendentale Wende‘ – die Frage nach der wahren Erkenntnis der gegenwärtigen Lage der Menschheit in zwei Richtungen zu präzisieren:

  • Unter Nutzung der im Deutschen möglichen Differenzierung von ‚Lage‘ und ‚Situation‘ könnten wir sagen, dass das Streben nach einer völlig umfassenden Erkenntnis der ‚Lage‘ in die Sackgasse einer wissenschaftlich unmöglichen Totalisierung führt, während eine Erkenntnis der zuspitzend und vereinfachend rekonstruierten ‚Situationen‘, in denen jeweils zu handeln ist, im Erfolgsfall dazu führen wird, die jeweils dringlichsten Probleme zu lösen – auch ohne dadurch gleich alle anderen Probleme mit zu lösen;
  • die Rede von der Menschheit der Gegenwart hat bekanntlich ein kontrafaktisches Moment, das sich allerdings gut rechtfertigen lässt – denn diese Menschheit ist tief gespalten und ihre Fähigkeiten zur Lösung gemeinsamer Probleme sind nicht selbstverständlich gegeben, sondern müssen in schwierigen Prozessen allererst (und immer wieder) erkämpft werden.

Immerhin kann das Beispiel des International Panel on Climate Change (IPCC) hier genutzt werden, um auch in anderen Feldern der Auseinandersetzung die gegebenen Möglichkeiten von kritischer Wissenschaft in Bezug auf spezifische Krisen zu nutzen und derart zu einer Stärkung der öffentlichen Rationalität beizutragen. Es lehrt allerdings auch zweierlei, nämlich:

  • dass die Übersetzung in wirksame Handlungen immer wieder der politischen Organisierung und Institutionalisierung bedarf, wie sie auf der internationalen Ebene immer zeitaufwändig und außerdem auch fragil bleibt, sowie
  • dass ohne den Rückgriff auf die bestehenden Formen einzelstaatlicher Macht (und überstaatlich geltender Regelwerke und international agierender Institutionen) ein rechtzeitiges Krisenbewältigungshandeln völlig unmöglich íst.

Es wäre ein Missverständnis, in diesen Anforderungen eine grundsätzliche Absage an radikale, sogar revolutionäre Transformationen zu sehen. Diese sind nicht nur durchaus vernünftigerweise möglich, sondern sogar – nach allem, was für heute schon über die Ursachen und auch die Verursacher der gegenwärtigen Strukturkrisen wissen – ganz dringend anzustreben. Allerdings liegt darin auch die Absage an einen neuartigen, nämlich besonders radikal auftretenden ‚revolutionären Attentismus‘, der nämlich einfach darauf verzichten will, sich an den dringlichen Maßnahmen zur Krisenüberwindung zu beteiligen, wie sie erforderlich und möglich sind, solange die tieferen Ursachen und Krisenprozesse in der gegenwärtigen Weltlage noch nicht wirklich angegangen werden.

Die gegenwärtige Lage, wie sie von sich überdeterminierenden Prozessen und Krisen geprägt ist, macht es zu einer dringlichen Aufgabe, das Geflecht dieser krisenhaften Prozesse theoretisch zu durchdringen und in seiner Struktur und Dynamik zu erfassen. Allerdings wird die Bewältigung dieser Aufgabe immer noch dadurch erschwert, dass in der Nacht des 20. Jahrhunderts die beiden zentralen wissenschaftlichen Durchbrüche in der sich vollendenden Moderne verdrängt und deformiert worden sind: Marx‘ theoretische Rekonstruktion der Dynamik der Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise, wie sie die marxsche Theorie wohlgemerkt in ihrem idealen Durchschnitt erfasst und begreift, und Freuds Einsicht in das Unbewusste als letztlich unaufhebbare Dimension unserer Subjektivitäten. Hier ist noch viel wissenschaftliche Untersuchungsarbeit zu leisten, um wieder auf einen Erkenntnisstand zu kommen, der als Leitfaden einer wirklich befreienden Praxis dienen kann – und zwar sowohl in der kritischen Destruktion der ideologischen Deformationen, wie sie sich in der marxistischen ebenso wie in der psychoanalytischen Tradition weitgehend durchgesetzt haben, als auch in der Durchdringung der ideologischen ‚Oberfläche‘ der modernen Gesellschaften, wie sie sich immer wieder verfestigt hat.[18]

Die kritische Reflexion der Bedingungen der Möglichkeit wirklicher wissenschaftlicher Erkenntnis in diesen umkämpften Feldern, wie sie Kant für das konsolidierte Feld der modernen Physik untersucht hatte, bleibt hier eine unausweichliche, sicherlich schwierige, aber grundsätzlich lösbare Aufgabe. Und deren Lösung bleibt ein dringend notwendiges Moment der wissenschaftlichen Klärung, durch die dann die Feststellung der einschlägigen wissenschaftlichen Wahrheiten wieder möglich wird und der in den strittigen Feldern heute noch grassierende skeptische Relativismus überwunden werden kann. Nach meiner Überzeugung wird diese Klärung zu einer kritischen Erneuerung der Einsichten von Marx und Freud führen – und auch die Perspektiven wieder rechtfertigen und neu eröffnen, die sich aus den wissenschaftlichen Durchbrüchen beider heraus künftig für eine kritische Erneuerung einer radikalen, befreienden Politik erarbeiten lassen.

Aber da sind wir noch nicht. Das ist unbedingt zuzugestehen. Und das bedeutet, dass wir uns in einer Übergangszeit befinden, in einer Zeit des ‚Solange‘, in der wir alle uns an Praktiken und Untersuchungen beteiligen müssen, mit denen die unmittelbar dringlichsten Gefahren abgewehrt bzw. bewältigt werden können. Wie können wir aber in dieser Zeit des ‚Solange‘ die nötigen übergreifenden praktischen Orientierungen gewinnen? Hier kommt dann m.E. der praktische Humanismus ins Spiel.[19]

  1. Aufgaben des praktischen Humanismus in der Zeit des ‚Solange‘

Dem praktischen Humanismus kommt in der Zeit, die es brauchen wird, nachhaltige Auswege aus der gegenwärtigen ‚Komplex-Krise‘ zu finden und dann auch zu gehen, eine wichtige Funktion zu, die erheblich über das hinaus geht, was ihm in ‚normalen Zeiten‘ abverlangt wird: Während sich in Zeiten einer weniger krisenhaften und daher spontan unangefochtenen[20] Reproduktion der jeweils gegebenen modernen Herrschaftsverhältnisse der praktische Humanismus in den Feldern der konkreten Applikation bewegt,[21] die als grundsätzlich unproblematisch erscheinen,[22] werden in Krisenzeiten eben auch die grundsätzlichen Orientierungen problematisch, an denen eine konkrete Praxis sich ausrichten kann und soll.

Hier kann sich ein Rückgang auf Kants oft beklagten ‚Formalismus‘ in Fragen der praktischen Orientierung als hilfreich erweisen – insbesondere, wenn dieser von seiner bei Kant immer wieder auftretenden Blindheit gegenüber der Komplexität der konkreten praktischen Anwendung ethisch-politischer Orientierungen befreit wird. Denn in diesem Formalismus steckt zum einen die Ablehnung jeglicher Art von substanziellen Voraussetzungen für eine freie und gleiche Teilnahme an humaner Praxis, wie sie das Jeder-Mensch-Prinzip kategorisch einfordert und praktizieren lässt,[23] sowie zum anderen der unbedingt zu verteidigende Gedanke, dass diese gleiche Freiheit aller individuellen Subjekte selbst ein ‚höchstes Gut‘ ist, das für keinerlei ‚höheren Zweck‘ instrumentalisiert werden darf.

Das heißt keineswegs, dass eine befreiende Praxis für alle verantwortlichen Akteure[24] keine materialen Inhalte haben darf: Ganz im Gegenteil muss sie daran arbeiten, eine reale Befreiung gerade auch von den modernen Herrschaftsverhältnissen zu erreichen, die alle – analog zum Lohnvertrag – auf formell freien Vereinbarungen zu beruhen scheinen. Das ist aber, wie die Erfahrung des ‚kurzen 20. Jahrhunderts‘ (etwa von 1913/14 bis 1989/90) so schlagend gelehrt hat, alles andere als ein einfacher und rasch zu durchlaufender Weg. Und zugleich ist unwiderleglich die konkrete Dringlichkeit einzelner Krisen so gestiegen, dass diese bekämpft und überwunden werden müssen, lange bevor an eine Befreiung von Kapitalherrschaft, modernem Patriarchat, moderner Dependenz (und den ihr subjektiv entsprechenden Rassismen) und ökologisch destruktivem ‚Industrialismus‘ wirklich konkret herangegangen werden kann.

Genau hier kann und muss der praktische Humanismus daher heute etwas Entscheidendes leisten: Indem seine Vertreter*innen nämlich den spontanen Sinn zur Überwindung inhumaner Situationen und Praktiken aufgreifen und verstärken, wie er sich faktisch immer wieder in der Tätigkeit von Menschen ergibt – und darüber hinaus immer wieder sich anbietende konkrete Möglichkeiten einer Humanisierung zu erkennen und praktisch zu ergreifen helfen. Dabei kann ihnen Kants kategorischer Imperativ – insbesondere in der auf konkrete Praxis orientierenden Fassung, die ihm der junge Marx gegeben hat – als ein ebenso tragfähiger wie verlässlicher ‚Leitfaden‘ dienen, nämlich „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (MEW 1, 385).

Das bleibt immer wieder neu inhaltlich zu füllen – indem wir als Menschen darauf achten, inhumane Situationen und Praktiken als solche zu erkennen (humanistische Achtsamkeit), und konsequent daran arbeiten, immer wieder Wege zu finden, wie sie überwunden oder zumindest zurückgedrängt werden können (humanistische Resilienz). Darüber hinaus lässt sich für einen praktischen Humanismus die Aufgabe begründen, auch immer dafür aufmerksam zu bleiben, wo sich reale Möglichkeiten und Chancen für eine – wie immer auch begrenzte – Humanisierung bestehender Verhältnisse finden lassen. Das kann zu gesellschaftlichen Bewegungen, politischen Initiativen und staatlichen Programmen führen – aber eben immer wieder auch damit beginnen, entsprechende Möglichkeiten eines gemeinschaftsbildenden Widerstandes zu (er)finden.

Damit wird es denkbar und bei entsprechenden bewusst organisierten Anstrengungen auch real möglich, dass die beschränkten Tätigkeiten des praktischen Humanismus in wichtiger Weise dazu beitragen, immer wieder Räume zu schaffen und zu finden, in denen die modernen Probleme der Menschheit angegangen und behandelt werden können – und damit die Perspektive dafür offenbleibt, dass sie schließlich auch vollständig erkannt und radikal politisch gelöst werden können.

 

Literatur

Althusser, Louis (1970): Freud und Lacan. Merve, Berlin: Merve.

Ders. (2011): Für Marx, Berlin: Suhrkamp.

Henrich, Dieter (1967): Fichtes ursprüngliche Einsicht, Frankfurt a. M.: Klostermann.

Hilgendorf, Eric, hg. (2017): Kritischer Rationalismus und Einzelwissenschaften, Tübingen / Mohr Siebeck.

Höffe, Otfried, hg. (2002): Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, München: Beck.

Sturma, Dieter / Ameriks, Karl, hg. (2004): Kants Ethik, Paderborn:  Mentis.

Wieland, Wolfgang (2001): Urteil und Gefühl. Kants Theorie der Urteilskraft, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Wolf, F. O. (2002). Radikale Philosophie. Aufklärung und Befreiung in der neuen Zeit, ²Münster 2009: Westfälisches Dampfboot.

 

Anmerkungen

* Systematische Überlegungen zum 300jährigen Geburtstag.  – Als Versuch einer grundsätzlichen Bestimmung der Bedeutung Kants für den praktischen Humanismus vermeidet dieser Aufsatz sowohl Detaildiskussionen als such eine Erörterung der jüngeren Kant-Literatur, wie sie Irina Spiegel in ihrem Jubiläumsartikel schön diskutiert: Irina Spiegel: Kant zum 300. Geburtstag, in: humanismus aktuell 15/1, 25.03.2024 (Zugriff: 18.04.2024).

[1] Auch wenn er nicht verstehen wollte, inwiefern etwa Marx und Freud, aber auch schon Hegel, eben dieser Vorwurf, sie nähmen eine derartige ‚Letztbegründung‘ in Anspruch, nicht zu Recht gemacht werden kann – im Unterschied zu den sich auf sie berufenden bedeutenden Denkern, die im 20. Jahrhundert die Wendung zum Stalinismus (so auch etwa Varga) oder zum Faschismus (so auch etwa Gentile und Heidegger) propagiert haben.

[2] D.h., wie ich das zu formulieren vorschlage, ‚wahrheitspolitisch‘ zu agieren (vgl. Wolf 2002, 91ff.).

[3] Daran knüpft noch der späte Wittgenstein und vor allem sein Schüler an, indem sie die Konstatierung „This language game is played!“ als unwidersprechlichen Endpunkt aller philosophischen Untersuchungen akzeptierten.

[4] Die ‚Kritik der reinen Vernunft‘ müsste eigentlich den Titel einer ‚Kritik der reinen theoretischen Vernunft‘ tragen. – Etwa Platon hatte dagegen im Umgang mit den historischen Durchbrüchen der antiken Geometrie und Zahlenlehre die Möglichkeit gesehen, ein rein apriorisches Wissenschaftsverständnis zu begründen – was erst Aristoteles zumindest hat relativieren können.

[5] Seine im 19. Jahrhundert vernachlässigte und verkannte Schrift ‚Zum ewigen Frieden‘ mag als einfacher Nachweis dafür dienen, dass Kant auch dazu wirklich Relevantes zu sagen hatte, vgl. jüngst etwa Ebert 2024.

[6] Auch hier wäre eine Betitelung als ‚Kritik der reinen praktischen Vernunft‘ deutlich verständnisfördernd, vgl. zum Stand der philosophischen Debatte zu diesem Werk immer noch Beck 1974, sowie zur neueren Diskussion Höffe 2002 und Sturma/Ameriks 2004.

[7] Vgl. seine ‚Kritik der Urteilskraft‘, also seine Bearbeitung des zuvor bereits von Baumgarten zusammengefassten Feldes der Ästhetik. Zum Stand der philosophischen Debatte zu diesem ebenso bahnbrechenden Werk Kants vgl. immer noch Wieland 2001.

[8] Vgl. seine ‚Vorlesungen zur Ästhetik‘, wie sie aufgrund von Nachschriften sein Schüler Heinrich Gustav Hotho herausgegeben hat).

[9] Vgl. klassisch Dieter Henrich 1967.

[10] Vgl. als allerersten Einstieg in eine darauf bezogene Diskussion Hilgendorf 2017.

[11] Die Trennung zwischen einer analytischen und einer (zumeist historisierend eingefärbten) reflexiven Tradition gehört – neben der Ausgrenzung der wissenschaftlichen Durchbrüche von Marx und Freud – zu den schwerwiegendsten Blockaden der Entfaltung der philosophischen Debatten im 20. Jahrhundert.

[12] Vgl. Althusser 2011 u. 1970.

[13] Also, ganz grob gesagt, zwischen 1913/4 und 1945/6.

[14] Die siegreiche demokratische Revolution in der Schweiz – deren Grenzen Gottfried Keller dann plastisch artikuliert hat – hat dann später, mit der Berufung von Friedrich Albert Lange nach Zürich, mit dem Projekt, sich an der Entwicklung einer radikal demokratischen Philosophie zu beteiligen, einen wichtigen Anteil an der reflexiven Erneuerung des Philosophierens im deutschsprachigen Raum nach der Niederlage von 1848.

[15] Vgl. die soweit zutreffende Polemik in der ‚Heiligen Familie‘ von Marx und Engels (1845).

[16] Louis Althusser hat – anknüpfend an Marx – diese sinnvolle Eingrenzung von wissenschaftlicher Untersuchung und philosophischer Reflektion begründet.

[17] Hegels zentrale Illusion ist es gewesen, diese der menschlichen Praxis (und dem darin eingebetteten Denken) vorgegebene Konstellation begründend ‚einholen‘ zu können, um sie ‚dialektisch‘ als umfassende Einheit zu rekonstruieren und auf dieser Grundlage auch zu behandeln – anstatt die irreduzible Pluralität ihrer sich überdeterminierenden Prozesse immer wieder konkret zu erkennen und dies dann jeweils produktiv für eine situierte Diagnose der jeweiligen konkreten Lage zu nutzen.

[18] Das schließt offenbar die Aufgabe mit ein, kritisch zu dekonstruieren, wie ein faschistisches Denken unter diese Oberfläche von Freiheit, Gleichheit und Eigentum eine ‚falsche Tiefe‘ von Herrschaft und Unterwerfung, von Führertum und Gefolgschaft, projizieren kann.

[19] Die seit Beginn des 20. Jahrhunderts immer wieder propagierte ‚Rückkehr der Religionen‘ – in der Philosophieentwicklung begleitet von einer ‚Rückkehr der Metaphysik‘ – setzt genau an diesem Punkt an, blockiert aber jede Möglichkeit einer rational offenen Bewältigung dieser historischen Aufgabe.

[20] Im Unterschied zu ihrer explizit gewaltsamen Affirmation in allen Arten von Faschismus.

[21] Wie sie traditionell in der Disziplin der Kasuistik bearbeitet worden sind.

[22] Dem praktischen Humanismus obliegt dann zumindest die Aufgabe, für eine humane Applikation und Umsetzung jener als unproblematisch geltenden Orientierungen zu sorgen.

[23] Vgl. Wolf 2002, 66-80.

[24] Nach dem gegenwärtigen Stand von Entwicklung und Debatte sind dies offenbar alle Menschen.

 

Der Aufsatz ist auch als zitierfähiges PDF verfügbar.

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