Islam, Muslime, Muslimfeindlichkeit: zwei Neuerscheinungen

Autor: Alexander Flores
Titel: Islam und Muslime. Religion und Politik
Verlag: Westfälisches Dampfboot, Münster 2023
Seiten: 225 Seiten
Preis: 25,00 €
ISBN: 978-3-89691-084-4

 

 

 

 

 

 

Muslimfeindlichkeit – Eine deutsche Bilanz 2023. Erstellt vom unabhängigen Expertenkreis Muslimfeindlichkeit. Hrsg. vom Bundesministerium des Innern und für Heimat. Kostenlos zu beziehende Publikation der Bundesregierung (Artikelnummer: BMI23006)

Rezensent: Thomas Heinrichs

 

 

Mit den in dem Band von Alexander Flores gesammelten, in den Jahren zwischen 2000 und 2019 publizierten, teilweise überarbeiteten Aufsätzen und zwei noch nicht publizierten Vorträgen will der Autor, Islamwissenschaftler und emeritierte Professor für Wirtschaftsarabistik über den Islam und die Muslime aufklären.

Denn in der öffentlichen Wahrnehmung erscheint „der Islam vielfach als das ganz andere, er wird als monolithisch und unwandelbar wahrgenommen, er soll das Verhalten der Muslime in einem Ausmaß determinieren, wie es andere Religionen nicht kennen. Er gilt als fortschrittsfeindlich, aufklärungsfeindlich, säkularisierungsresistent, antidemokratisch, frauenfeindlich, harsch, gewaltbetont, aggressiv“. (S. 7) Gegen diese falsche, islamophobe Vorstellung schreibt der Autor an und gibt stattdessen ein realistisches Bild des Islams und der Muslime; eine Unterscheidung, die der Autor zu Recht betont (S. 8), denn es gibt keine ungebrochene Identität zwischen einer Religion und den Menschen, die sich zu ihr bekennen.

Die Aufsätze kreisen um das Thema, inwieweit die heutige, überwiegend kritische Beurteilung des Islams in der „westlichen Welt“ und die ihm gegenüber erhobenen Vorwürfe (s.o.) zutreffend sind.

Flores geht zur Beantwortung dieser Fragen zunächst in die Geschichte zurück. Vor dem Beginn der Moderne in den Staaten, die wir heute als „den Westen“ bezeichnen, gab es zwischen den Regionen Europas und des Nahen Ostens, in denen einerseits die christliche Religion dominant war und in denen andererseits der Islam dominant war, keine Unterschiede, aus denen sich ableiten ließe, der Islam sei im Gegensatz zum Christentum mit den Entwicklungen der Moderne nicht kompatibel. Im Gegenteil ist der Islam, weil es in ihm keine Kirche gibt, also keine Institution, die den Zugang der Gläubigen zu Gott verwaltet, offener für die Trennung des politischen vom religiösen Bereich einer Gesellschaft (S. 39, 43); andererseits aber wurde diese Trennung in den christlichen Staaten mit ihren starken Kirchen, als der Prozess der Säkularisierung begann, sehr viel klarer durchgeführt. Die damit verbundenen politischen Konflikte prägten hier die Säkularisierung.

In den islamischen Reichen dagegen, in denen die Verbindung von Politik und Religion vor allem durch die islamischen Rechtsgelehrten vermittelt wurde (S. 40f), waren die auch im Mittelalter vorhandenen Säkularisierungstendenzen weniger klar wahrnehmbar und fanden eher unterschwellig statt.

Dieser grundsätzliche Gleichklang ähnlicher politischer Systeme und religiöser Vorstellungen der feudalen Welt des Mittelmeerraums endete, als sich die europäischen Staaten mit ihrem bürgerlichen Gesellschaftssystem und ihrem kapitalistischen Wirtschaftssystem entwickelten und gegenüber den weiterhin durch feudale Strukturen geprägten Staaten des Nahen Ostens eine zunehmende ökonomische und dann auch militärische Überlegenheit entwickelten. Diese Überlegenheit nutzten die modernisierten europäischen Staaten ab dem 19. Jahrhundert aus, um den Nahen Osten politisch und ökonomisch zu dominieren und teilweise auch zu kolonialisieren.

Dieser Prozess einer gewaltförmigen Unterwerfung des Nahen Ostens unter die Dominanz Europas ist sehr viel prägender für das Verhältnis der westlichen Staaten zu den Staaten des Nahen Ostens als die dort vorherrschende religiöse Orientierung.

Dieser Prozess löste in den Gesellschaften des Nahen Ostens eine zwiespältige Reaktion aus. Zum einen begann man mehr oder weniger – und mehr oder weniger freiwillig – die politisch/ökonomische Ordnung des Westens zu übernehmen. Hierzu war man schon gezwungen, um die eigene Gesellschaft weiterzuentwickeln und so die politisch/ökonomische Unterlegenheit zu verringern. Auch wurde das auf einem wissenschaftlichen Weltbild, allen Menschen gewährten Grundrechten und einer hohen persönlichen Freiheit beruhende Gesellschaftssystem von vielen als positiv wahrgenommen. Diese Entwicklung stellte die bestehende religiöse Ordnung in Frage; religiöse Weltbilder sind mit einer modernen Gesellschaft nicht auf Dauer vereinbar. Dies gilt für den Islam nicht weniger als für das Christentum. Zum anderen aber handelt es sich bei diesen Errungenschaften der Moderne um das gesellschaftliche System feindlicher Staaten. Verständlicherweise gab und gibt es daher Widerstände gegen die Übernahme der modernen Ordnung, verständlicherweise versucht man dagegen das Eigene stark zu machen. Die islamische Religion scheint vielen so etwas Eigenes zu sein (vgl. S. 58f).

Es gab – und gibt – im Nahen Osten bis heute eine Diskussion über das Verhältnis von Religion und Staat, in der sich zumeist eine mittlere Position, des „Reformismus“ durchgesetzt hat (S. 59f), in der sich allerdings auch eine große Spanbreite von säkularen Positionen bis hin zu Positionen der Modernisierung des Islam finden. Flores referiert hier die Anfang des 19. Jahrhunderts geführte Debatte zwischen dem säkular orientierten Intellektuellen und Herausgeber Farah Antun und dem Mufti von Ägypten Muhammad Abduh, einem islamischen Reformer (S. 60ff). Diese Debatte zeigt, dass vor hundert Jahren säkulare Positionen in islamischen Diskursen offensiver vertreten wurden als heute. Heute dominieren dagegen islamistische Positionen – die letztlich aber auch erst aus islamischen Modernisierungsdiskursen entstanden sind. Dass säkulare Positionen in die Defensive geraten sind, liegt daran, „dass sich große Teile der arabischen Bevölkerung nicht der positiven Aspekte der Moderne erfreuen, dass sie diesen Umstand mit der nach wie vor zu verzeichnenden westlichen Hegemonie in Verbindung bringen und dass sie daher eine Moderne, die sie als westlich verstehen, ablehnen“. (S. 76f)

Dennoch wird die Debatte um einen säkularen oder einen integralistischen Islam weiterhin geführt und zwar als innerislamische Debatte. Es geht um die richtige Interpretation des Koran, um das richtige Verständnis des Islam. Beide Seiten berufen sich mit mehr oder weniger Überzeugungskraft auf den Koran.

Diese ganze, in der arabischen Welt seit über hundert Jahren geführte Debatte, zeigt, dass der Islam offen ist für ein säkulares Verständnis von Religion. Der Koran ist wie alle religiösen und philosophischen Texte offen für Auslegung. Er ist auslegungsfähig und auslegungsbedürftig. Wäre er dies nicht, hätte ihn spätestens 50 Jahre nach seiner Entstehung niemand mehr gelesen. Der Islam ist insofern nicht anders als die anderen Buchreligionen. Er muss, um handlungsfähig zu bleiben, sich an sich verändernde gesellschaftliche Verhältnisse anpassen und er tut dies durch die Neuinterpretation seiner grundlegenden Schriften. Dass solche Adaptionsprozesse strittig sind und unterschiedliche Positionen um die Vorherrschaft ringen, versteht sich von selbst. In dem Aufsatz zur Säkularismusdebatte in Ägypten zeichnet Flores dies nach.

Auch in den weiteren Aufsätzen über die Lage der arabischen Christen, den Islam und die Demokratie, die Frage nach der Gewalt im Islam und dem Fortschrittsbegriff zeigt Flores auf, dass die aktuellen Debatten von der genannten Grundkonstellation bestimmt sind, dem Changieren der arabischen Muslime zwischen der Anziehungskraft der westlichen Moderne und der Ablehnung ihrer neokolonialen Dominanzansprüche.

Dies zu wissen, ist für das Verständnis des Islam und der Muslime wichtig. Islamistische Positionen ergeben sich weder unmittelbar aus dem Koran – was eigentlich jedem klar sein sollte, denn in Bezug auf das Christentum würde jeder, der „behaupten wollte, die Vorstellungen und Verhaltensweisen der heutigen Christen leiteten sich unmittelbar aus der Bibel ab, […] sich der Lächerlichkeit” aussetzen (S. 8) – noch sind sie typisch für den Islam. Sie sind vielmehr eine Reaktion auf die koloniale und neokoloniale Unterdrückung der arabischen Welt durch den „Westen“. Wer im Westen einen gleichberechtigten Dialog mit den Muslimen sucht, sollte sich also zunächst einmal selbst an die Nase fassen.

Dies findet aber, wie der jetzt vorliegende Bericht des vom Bundesinnenministerium eingesetzten „Unabhängigen Expertenkreis Muslimfeindlichkeit“ (die Mitgliederliste dieses Kreises findet sich Seite 21 des Berichts) aufzeigt, nicht statt. Vielmehr werden Vorurteile gegenüber den Muslimen gepflegt und die islamische Kultur gegenüber der eigenen abgewertet – und genau diese Haltung erscheint in der historischen Betrachtung als Ursache des Islamismus.

Dass es feindliche Einstellungen gegenüber dem Islam und Muslimen gibt und Muslime in Deutschland – wie viele andere Minderheitengruppen – diskriminiert werden, ist unstrittig. Forschungen hierzu gibt es schon seit längerem. Dabei darf man Muslimfeindlichkeit nicht mit Kritik am Islam und an Muslimen verwechseln. Die Autoren untersuchen daher auch beispielhaft u.a. die Debatten um das Kopftuch, die Beschneidung, den Moscheenbau, „Ehrenmorde“, religiöse Karikaturen darauf, inwieweit dabei differenzierte Positionen eingenommen wurden oder pauschale Kritik geübt wurde (78ff). Erst wenn Kritik pauschalierend geübt wird, Vorurteile und Stereotype reproduziert und die Rechte anderer ignoriert, kann sie Ausdruck einer grundsätzlich ablehnenden Haltung gegenüber Muslimen sein.

Eine solche ist nach den Untersuchungen der Autoren leider in vielen Bereichen unserer Gesellschaft aufzufinden, in Schulbüchern, in den Medien und auch im Kulturbereich finden sich zumeist Darstellungen des Islam und der Muslime, die diese als schwierig und als Problem beschreiben. Das ist nichts

Neues, wird hier aber nochmal detailliert aufgezeigt. Der Islam und die Muslime werden von großen Teilen der deutschen Gesellschaft immer noch nicht als selbstverständlicher Teil dieser Gesellschaft akzeptiert.

Was ist dagegen zu tun? Bedauerlicherweise wird in dem Bericht nicht gefragt, was die Ursachen dieser Muslimfeindlichkeit sind. Schließlich fällt so etwas nicht vom Himmel. Und wenn man wissen will, was man dagegen tun kann, sollte man sich zunächst fragen, warum es so etwas gibt. Sind die Muslimfeinde einfach nur dumm oder böse, oder was ist das Problem? Hier fehlen nicht nur die Antworten, es fehlt schon die Frage bzw. soweit eine solche Frage denn gestellt wird, setzt sie erst auf der Sekundärebene an. Der Bericht untersucht, warum es häufig eine negative Berichterstattung über Muslime in den Medien gibt. Vereinfacht gesagt, ist seine Antwort, dass es bei den Journalisten selbst muslimfeindliche Einstellungen gibt und dass man mit solchen Themen hohe Quoten erreicht und damit Geld verdienen kann (S. 186ff). Das wird stimmen, funktioniert aber doch nur deswegen, weil ein großer Teil der Bevölkerung positiv auf eine negative Berichterstattung über Muslime anspricht. Und dass dies so ist, ist kein Produkt der Medien, die Medien wirken hier nur als Verstärker.

Die Handlungsvorschläge, die in dem Bericht gegeben werden, sind nicht neu und haben sich bislang als nicht ausreichend erwiesen. Dass Aufklärungs- und Bildungsmaßnahmen hilfreich sind, um ein realistisches Bild des Islam und der Muslime zu schaffen und die Angst vor dem Fremden zu nehmen, dürfte unstrittig sein. Ob aber der Aufbau weiterer bürokratischer Strukturen wie Melde-, Beschwerde- und Dokumentationsstellen oder die Einrichtung weiterer Sachverständigenräte hilfreich sein kann, darf bezweifelt werden. Soziale Konflikte, wie sie sich in der Muslimfeindlichkeit zeigen, lassen sich damit nicht lösen.

Auf eines sei noch hingewiesen. Der Bericht führt neben dem Begriff der Muslimfeindlichkeit einen Begriff des „antimuslimischen Rassismus“ ein (S. 9), den er mit Muslimfeindlichkeit gleichsetzt (S. 24). Rasse ist ein biologischer Begriff. Die richtige Erkenntnis, dass es keine „Menschenrassen“ gibt und dass der Rassenbegriff hier ein kulturelles Konstrukt ist, hat sich erfreulicherweise inzwischen weit durchgesetzt. Es erscheint sinnvoll, es bei dieser Dekonstruktion eines biologistischen Begriffs der „Menschenrassen“ zu belassen und den Rassebegriff nicht als kulturellen Begriff weiter zu benutzen. Er schleppt zwangsläufig biologische Konnotationen mit sich fort und macht als kultureller Begriff keinen Sinn. Die Autoren können auch nicht erklären, was sie unter „antimuslimischem Rassismus“ eigentlich anderes verstehen als unter Muslimfeindlichkeit. Mir wäre nicht bekannt, dass sich muslimfeindliche Positionen „rassistisch“ im klassischen, auf „Menschenrassen“ bezogenen Sinne artikulieren würden. Warum man dann eine solche Zuschreibung vornimmt, leuchtet nicht ein; es sei denn, man wolle an Fördergelder für Antirassismusprojekte herankommen. Die Handlungsempfehlung Nr. 2 (S. 16) lässt so etwas vermuten. Sollte dies tatsächlich das Motiv gewesen sein, so kann man dies nur als daneben bezeichnen. Sozialwissenschaftliche Begrifflichkeiten müssen der Sache nach Sinn machen und nicht im Hinblick auf staatliche Fördergelder.

 

Die Rezension ist auch als zitierfähiges PDF verfügbar.

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