Humanismus heute: Über Sinn und Zweifel in der Gegenwart

 

 

 

 

 

Foto: Alexander Grey | Unsplash

Humanismus heute: Über Sinn und Zweifel in der Gegenwart

Beim folgenden Text handelt es sich um die schriftliche Fassung eines Vortrags, den der Autor beim Festakt zum 30-jährigen Jubiläum des Humanistischen Verbandes Deutschlands am 24. Juni 2023 in Neu-Isenburg hielt. In drei Panels stand die Frage nach Lebenssinn aus humanistischer Haltung zur Diskussion, wobei jeweils verschiedene Zeitdimensionen den Ausgangspunkt bildeten: Vergangenheit, Zukunft und – im vorliegenden Beitrag – Gegenwart.

Große Fragen

Nicht nur in krisengeschüttelten Zeiten fragen Menschen nach Sinn – nach dem Sinn des eigenen Handelns, der persönlichen Überzeugungen, Wünsche oder Befürchtungen, aber auch nach dem Sinn des Ganzen: Wo steuert die Menschheit hin? Gibt es überhaupt etwas, das uns Menschen, über alle Grenzen hinweg, verbindet? Was wäre ein wünschenswerter Entwurf, vielleicht sogar eine Utopie menschlichen Zusammenlebens? (Auch das ist eine der großen Sinnfragen.) Solche Sinnfragen stellen heißt: die Perspektive weiten, aus dem Tagesgeschäft auftauchen. Man sucht dann nach etwas von Bedeutung; nach etwas, wofür es sich zu leben, zu engagieren lohnt, manchmal auch zu kämpfen. Der Blick richtet sich nach vorne, auf eine Erwartung an Zukünftiges, auf Wünsche und Idealvorstellungen.

Sinnfragen treiben aber nicht nur uns Erwachsene um. Schon für Kinder sind Fragen des Lebenssinns ausgesprochen bedeutsam. In der schönen Rubrik ‚Kleine Menschen, große Fragen‘ im Philosophiemagazin antwortete neulich Alina, 8 Jahre alt, auf die Frage: „Wohin würdest du reisen, wenn du eine Zeitmaschine hättest?“ folgendermaßen: „Zum letzten Tag meines Lebens. Ich würde nämlich gerne wissen, ob ich ich selbst geblieben bin.“[1]

In dieser Antwort ist schon allerhand Sinn unterstellt. Alina, so dürfen wir spekulieren, möchte sich am Ende gerne treu geblieben sein. Sie möchte ihre eigenen Überzeugungen im Laufe des Lebens nicht verraten haben. Vielleicht hat sie so etwas schon bei anderen Menschen beobachtet: dass sie irgendwann, schleichend, ihre Ideale über Bord warfen. So möchte Alina jedenfalls nicht werden. Und deshalb hofft sie eben sehr darauf, sie selbst zu bleiben.

Nun ist das mit dem Wunsch nach Identität eine ziemlich vertrackte Sache. Geht das überhaupt, ein und dieselbe Person bleiben, ein Leben lang? Kann es nicht manchmal sogar wünschenswert sein, ein anderer Mensch zu werden? Bin ich heute noch der, der ich vor 30 Jahren war? Mit dem Problem von Identität und Veränderung im Leben hängt jedenfalls die Sinn-Thematik eng zusammen. Das macht Alinas Gedankenexperiment, ihre fiktive Reise in die Zukunft, deutlich. Was Alina dabei umtreibt, ist nämlich eine sehr ernste Frage: Hat mein Leben am Ende, wenn ich Bilanz ziehe, einen Sinn gemacht?

Je älter wir werden, desto realer wird ein solcher Modus des Rückblickens, desto weniger ist es ein bloßes Gedankenexperiment. Greifbar wird das an einem Buch, dessen Lektüre mich sehr berührt hat. Geschrieben hat es die 96-jährige Etel Adnan, libanesisch-amerikanische Malerin und Schriftstellerin, kurz vor ihrem Tod 2021. Titel: Die Stille verschieben — im Original Shifting the Silence. In diesem Essay voller poetischer Bilder blickt Adnan von ihrer Terrasse in einem kleinen Ort in der Bretagne auf den Atlantik. Dabei ziehen Eindrücke der Gegenwart vorbei, aber auch Erinnerungen aus ihrem langen Leben. Eindrücke voller Schönheit und zugleich von Angst und Grauen; philosophische Reflexionen und Gedanken zum Zeitgeschehen. Inmitten der schmerzlichen Erfahrung eigener Vergänglichkeit und Hinfälligkeit finden sich zahlreiche Einsprengsel kleinen Glücks. Momente, die das Leben lebenswert erscheinen lassen. Etwa, wenn Adnan sichtlich ergriffen erzählt, wie sie den „Tanz der Glühwürmchen“ beobachtet, „die um die Boote in der Bucht kreisen“.[2] — Wie aus heiterem Himmel jedoch holt uns die bedrohliche Realität ein, wenn es unvermittelt nach solchen Glücksschilderungen etwa heißt: „Wir erleben die letzten Tage der Zivilisation, wie wir sie kennen. Durch die Scheiben des Apartments beobachte ich den Ozean. […] Das Radio sagt, Paris erlebe eine Hitzewelle. Die Temperatur soll auf vierzig Grad steigen. Das ist tropisches Wetter, und nichts garantiert uns, dass die Hitze nicht weiter zunimmt. In der Bretagne ist es sogar noch heißer. Die Fische rufen um Hilfe. Wie ich, so oft in diesen Tagen.“[3]

Ihr nahendes Lebensende wird zum Sinnbild für den Zustand der Welt. In Adnans Rückblick auf ihr eigenes Leben gerät die Sinnfrage unter negative Vorzeichen: Angesichts der Klimakrise, die sich in zahlreichen Unwetterkatastrophen immer deutlicher zeigt, vermeldet sich in Adnans Essay ein nagender Zweifel an der Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns: „Und warum schreibe ich dann diese Zeilen, die der Welt nicht viel bringen? Eins von den Dingen, die Menschen tun, nichts weiter. In jedem von uns steckt der verborgene Glaube, irgendwie zu zählen, so wie wir sagen Black Lives Matter. Das stimmt.“[4]

Der tiefgreifende Zweifel, der sich in Adnans Worten äußert, scheint rückblickend den Lebenssinn fragwürdig zu machen. Keine Spur von Zuversicht, wie wir sie bei Alina unterstellen durften. Schließen sich Sinn und Zweifel also gegenseitig aus? Kann man nur entweder zweifeln oder einen Sinn finden? — Gehen wir dieser Frage im Folgenden einmal nach.

Verhältnis von Sinn und Zweifel 

Zweifel, der in einem aufsteigt, wird häufig als störend wahrgenommen. Bitte nicht, denkt man dann, ich habe gerade zu tun, ich muss mich konzentrieren, ich habe noch eine Liste an Erledigungen abzuarbeiten. (Sie alle kennen vermutlich ein solches Gefühl.) Der Zweifel kommt einem da nur in die Quere. Er steht plötzlich im Weg, erscheint als Verhinderung oder Ablenkung.

Trotzdem: es ist nicht nur vollkommen verständlich, dass Menschen immer wieder ins Zweifeln geraten. Mehr noch, Zweifeln ist eine zutiefst menschliche Fähigkeit. Wir können uns sogar glücklich schätzen, dass wir über diese Fähigkeit verfügen. Der Zweifel gehört gewissermaßen zur conditio humana – zu dem, was uns überhaupt erst zu Menschen macht. Zweifeln bedeutet nämlich auch: Dort, wo es notwendig ist, misstrauisch zu sein; sich an einer Sache stören, einer zweifelhaften Aussage nicht über den Weg trauen, also Begründungen und Argumente einfordern. Kurzum, Zweifeln bedeutet auch kritischen Vernunftgebrauch. Solche gesunde Skepsis ist der Nerv der eigenen Urteilskraft.

Selbst der existenzielle Zweifel hat so noch einen Sinn: Wer angesichts von Katastrophen nicht vielleicht sogar gelegentlich in Verzweiflung gerät, der scheint weder empathiefähig noch vertrauenswürdig. Ist es nicht tröstlicher, wenn jemand die ungeschminkte Wahrheit sagt, als wenn falsche Hoffnungen gemacht werden, falscher Trost gespendet wird? Das zwingt keineswegs zur Resignation. Aber es kuriert vielleicht von Allmachtsphantasien. Etel Adnans Nachdenken über den Sinn oder auch die Sinnlosigkeit ihrer literarischen Worte in einer krisenhaften Zeit bringen das schonungslos auf den Punkt. Zweifeln ist hier gleichbedeutend mit Unterbrechen und Innehalten. Wir sind genötigt, nachzudenken: Wie geht es weiter, wie soll es weitergehen? Was kann ich tun, welche Anstrengungen müssen wir gemeinsam unternehmen? (Welches ‚wir‘ überhaupt?) — Auch wenn man selten unmittelbare Antworten auf Fragen wie diese parat hat, sind solche skeptischen Fragen der erste Schritt in eine verändernde, verbessernde Praxis.

Skepsis gehört zum Humanismus also zweifelsohne dazu. Zweifel und Sinn bilden hier gewissermaßen zwei Seiten einer Medaille. Fragt Humanismus nach einem Sinn, dann möchte er keine bloß erbaulichen, vertröstenden Antworten geben. Vielmehr möchte er Handlungsmöglichkeiten suchen und eröffnen. Gleichzeitig ist Zweifel aus dieser Perspektive aber nur dann ein vernünftiger und gerechtfertigter, wenn er nicht nihilistisch wird, also allen Sinn komplett durchstreicht. Um es mit Wittgenstein zu sagen: „Ein Zweifel, der an allem zweifelte, wäre kein Zweifel.“[5] Das bedeutet: wer alles anzweifelt, verliert den Maßstab für berechtigten Zweifel. Gegenwärtige Verschwörungsideologien, die es ja auch mit Blick auf die Klimakrise gibt, sind ein sehr beredtes Beispiel dessen.

Obgleich man sinnvollen und wahnhaften Zweifel unterscheiden muss, so kann selbst der vernünftige Zweifel gelegentlich aufs Ganze gehen.

Gegenwart zwischen Vergangenheit und Zukunft

Damit komme ich noch einmal zu Alina, unserer jungen Zeitreisenden. Und zu der Frage, ob aus dem Wechselspiel von Sinn und (fundamentalem) Zweifel nicht auch eine Perspektive der Zuversicht resultieren kann. Auch bei der 8-jährigen Alina – wir erinnern uns: sie wollte an ihren letzten Lebtag reisen, um zu sehen, ob sie dieselbe geblieben ist – auch in Alinas Wunsch war schon ein leiser Zweifel zu vernehmen, ob sie denn wirklich sie selbst bleiben wird. Vielleicht zweifelt Alina aber nicht nur an ihrem individuellen Lebensweg, sondern, weitaus fundamentaler, auch daran, wie die Welt um sie herum am Ende ihres Lebens wohl aussehen mag; ob die Erde überhaupt noch ein für Menschen bewohnbarer Ort sein wird.

Kinder heute, davon zeugt die Bewegung Fridays for Future, haben ein ziemlich erwachsenes Bild ihrer Zukunft – und damit meine ich eine sehr ernüchterte Vorstellung. Sie sehen ihre Zukunft in extremer Gefahr, fühlen sich ihrer Möglichkeiten beraubt. Neben diesem tiefgreifenden Zweifel liegt im Engagement für eine bessere Zukunft aber zugleich auch eine starke Hoffnungsperspektive: Mit großer Kraftanstrengung ließe sich ‚das Ruder noch einmal herumreißen‘, ließe sich die Zukunft noch retten. Ohne diese Zuversicht bräuchte man nicht für ein besseres Klima auf die Straße zu gehen.

Sich um die Zukunft Gedanken und Sorgen machen, also zumindest in der Vorstellung auf Zeitreise zu gehen, das gehört ebenso zum Menschsein, wie skeptisches Denken. Solche Zukunftsaussichten schwirren aber nicht im luftleeren Raum, sie sind mit Erinnerungen an die Vergangenheit gesättigt. Und zwar so: Wir haben bestimmte Erwartungen, wie es mit uns Menschen auf unserem Planeten wohl weitergehen könnte, auch wenn wir das natürlich nicht abschließend vorhersagen können. Solche Erwartungen haben wir jedenfalls, weil wir um die Vergangenheit wissen. Noch einmal konkret: Alinas Generation und Fridays for Future haben schon gelernt, dass die Anstrengungen der Vergangenheit bislang bei weitem nicht ausgereicht haben, um die Klimakatastrophe abzuwenden. Ihre Sorge um die Zukunft erweist sich deshalb als gerechtfertigt. Konsequenzen aus solchen geschichtlichen Erfahrungen zu ziehen, um es besser zu machen, das kann man allerdings immer nur in der jeweiligen Gegenwart. Und darum drängt die Jugend heute so sehr auf schnelles Handeln in Sachen Klima. Jetzt – und nicht irgendwann.

Dass es in unserer Gegenwart auf gemeinsame Kraftanstrengungen, auf politisches Engagement und auf das Handeln ankommt, weil Geschichte eben keinen automatischen Fortschritt zum Besseren bedeutet, das erfahren wir in vielen Hinsichten. Unbestreitbar, dass es sogar immer wieder große Rückschritte gibt. Man denke nur an all die rechtspopulistischen Bestrebungen, erreichte Freiheiten in puncto Lebensweisen wieder rückgängig zu machen; oder aber an Rückschritte in Sachen sozialer Gerechtigkeit. Um zukünftiges Unheil abzuwehren, die Welt zu einem menschlicheren Ort zu machen, hilft gerade deshalb der Blick in die Vergangenheit. Wir sind ja keineswegs allein. Es gab schon vor uns Menschen, die sich engagiert haben für Gerechtigkeit, für Freiheit, für ein auskömmliches Verhältnis von Mensch und Natur und so weiter. Und von solchen Erfahrungen können wir lernen. Die Zuversicht besteht dann darin, bislang uneingelöste Zukunftshoffnungen zu verwirklichen. Aber nur im Handeln von uns jetzt Lebenden kann das Projekt einer Humanisierung der Welt weitergeführt werden.

Klimakrise

Die nicht ohne ein Minimum an Zuversicht mögliche Perspektive der Humanisierung möchte ich nun noch einmal an der Klimafrage verdeutlichen. Es klingt vielleicht paradox, aber gerade an der Klimakrise wird sich erweisen, ob eine Humanisierung der Welt zukünftig gelingt. ‚Natur‘ als solcher ist es nämlich ziemlich gleichgültig, wie es weitergeht. Irgendwie wird sich Leben immer durchsetzen, irgendwelche Arten werden sich anpassen können – und seien es nur Mikroorganismen, die eine neue Evolution in Gang setzen. Es ist aber ein zutiefst menschliches Interesse, dass die Welt eine auch für Menschen lebenswerte und überhaupt bewohnbare bleibt. Dazu gehört auch eine artenreiche, vielfältige Natur. Nicht nur als bloße Lebensgrundlage. Sondern auch, weil ein ausschließlich von Monokulturen und Industrie überzogener, erhitzter Globus eine ziemlich trostlose, wenig lebenswerte Umwelt für uns wäre. In den letzten Jahren hat sich für das von Menschen verwüstete Erdzeitalter der Name ‚Anthropozän‘ durchgesetzt. Das bedeutet: praktisch überall auf der Welt sind Spuren menschlicher Naturausbeutung und Zerstörung nachweisbar. Anthropozän, das ist für meine Begriffe allerdings ein Euphemismus. Denn es sind ja keineswegs menschliche – und damit meine ich: menschenwürdige – Ursachen, die zur Naturzerstörung geführt haben. In Abgrenzung zum Begriff des Anthropozäns wurde aus diesem Grund vorgeschlagen, besser von einem „Kapitalozän“ zu sprechen.[6] Demnach seien es ganz bestimmte Formen menschlicher Tätigkeit, die für die genannten Verhältnisse verantwortlich zu machen sind: Nämlich eine auf Gewinnmaximierung und stetiges Wachstum ausgerichtete Ökonomie.

Ob man dieser These nun zustimmt oder nicht: Fest steht, dass die menschgemachte Erderwärmung mit ihren verheerenden Folgen eine gesellschaftliche und globale Herausforderung darstellt, die sich weder allein durch individuelles Verhalten noch bloß technologisch bewältigen lässt. Es müssten sich auch die gesellschaftlichen Bedingungen ändern, die die Krise hervorgerufen haben: statt Wachstum um des Wachstums willen müsste es andere Ziele menschlichen Wirtschaftens und Handelns geben, um die Krise ‚nachhaltig‘ zu überwinden.

Notbremse

Walter Benjamin sprach einmal davon, dass die zerstörerische Ökonomie ungebremsten Wachstums keines natürlichen Todes sterben werde. Anders gesagt heißt das: es kommt auf die Menschen an, etwas daran zu ändern. Eine menschlichere Welt ergibt sich nicht von allein. — Es war ebenfalls Walter Benjamin, der ein Bild dafür fand, wie die Menschen das Heft des Handelns zurückgewinnen könnten, wenn die Ereignisse in dramatische Richtung zu laufen drohen: dann empfiehlt er politisches Handeln als Griff zur Notbremse.[7] Ob aktuelle Formen des Klimaprotest – Stichwort: ‚Klimakleber‘ – in diesem Sinne zu beurteilen sind, möchte ich offenlassen. Ich muss gestehen, dass ich in dieser Frage selbst ratlos bin.

Das Bild der Unterbrechung führt mich aber zurück zur Bedeutung, die das Innehalten hat, wenn wir die große Frage nach Sinn stellen. Wenn man nicht weiterweiß, wenn der Sinn fraglich wird, dann hilft es manchmal, aus der alltäglichen Betriebsamkeit auszusteigen – und die Aufmerksamkeit ganz auf den Augenblick zu richten.[8] Ein sehr poetisches Bild hierfür findet Etel Adnan in ihrem Essay Die Stille verschieben. Dort schreibt sie: „Die Energie der Welt zeigt sich an diesem besonderen Tag in den Gezeiten: Die längste Flut seit Jahren, hieß es, und ich beobachtete sie, ehe sie sich zurückzog. Ich saß am Rand der einzigen langen Straße [des Dorfes], ganz nah beim Ozean, und schaute und schaute auf die Meerenge, wo das steigende Wasser zu einem Fluss wurde, das tiefe leuchtende Grün von Pinien annahm, auf die Dünen zurollte, meine Sinne forttrug. Es lohnt sich, für einen Augenblick wie diesen [zu leben]“.[9]

Irgendwo aufs Meer blicken und das Spiel von Ebbe und Flut beobachten; vielleicht auch einfach nur einem Sommerregen oder einem Mozart-Konzert zuhören; das gute Essen mit Freunden (Sie haben jetzt vielleicht selbst noch jeweils eigene Bilder glückserfüllter Augenblicke im Kopf) — in Momenten wie diesen liegen Sinn und Lebensfülle.

Humanismus: Engagement für eine Gesellschaft mit Sinn

Dass es viel zu wenige solcher Augenblicke in unser aller Leben gibt, weil zu oft die Zeit dafür fehlt; und dass beileibe nicht alle Menschen entspannt am Meer sitzen können, weil sie in Sorge und Not leben, weil sie auf der Flucht sind, weil die klimabedingt steigenden Fluten ihre Lebensorte wegreißen werden – all das zeigt: Es bleibt eine drängende, unabgeschlossene Aufgabe, die Welt zu Humanisieren. Viel zu oft wären überhaupt erst einmal die basalsten Bedingungen dafür herzustellen, dass Menschen ihrem Leben ernsthaft Sinn geben können – selbstbestimmt und glückserfüllt. Wer Hunger leidet oder auf der Flucht ist, wird hingegen aufs nackte Überleben zurückgeworfen.

Schon immer hat es sich der praktische Humanismus zur Aufgabe gemacht, die menschlichen Verhältnisse in dieser Hinsicht zu verbessern. Er arbeitet unnachgiebig an einer Gesellschaft mit Sinn.[10] Nicht immer, da sollten wir uns keine Illusionen machen, sind humanistische Akteure dabei in vorteilhafter Position. Gesellschaftliche Gegenkräfte und Widerstände werden wir alle zur Genüge kennen …

Dennoch ist es nie vergebens, sich um die praktische Verbesserung der menschlichen Welt zu bemühen. Und zwar besonders dort, wo wir es eigentlich immer vermögen, so stark auch der gesellschaftliche Gegenwind sein mag: im täglichen Handeln. Hier nenne ich nur einige Beispiele, in denen der organisierte Humanismus des Humanistischen Verbandes bundesweit tätig ist: in pädagogischen Kontexten wie Kindergärten und Schulen, im Bereich von Kultur, Bildung und Forschung, in der Lebensberatung, der humanistischen Seelsorge, in medizinischen Einrichtungen und in der Vorsorge und Pflege, in der Flüchtlingshilfe, in der Jugendarbeit, im politischen Engagement und so weiter. (Die Übersicht über die Aktivitäten der einzelnen Verbände innerhalb des HVD ist wirklich beeindruckend lang …)

Sinngebung kann sich in all diesen Feldern aber nur zeigen, wenn wir nicht von den Aufgaben des Tagesgeschäfts vollkommen absorbiert und aufgezehrt werden. Sinngebung braucht immer Zeit, eine Perspektive, die über den Moment hinausreicht. Sie braucht den Rückblick und den Ausblick.

Blicken wir, im Wissen um die Vergangenheit, voraus, dann ist nur dies gewiss: Die Zukunft ist offen. Wir können zwar etwas erwarten. Aber wir müssen auch damit rechnen, dass es anders kommt. Und das ist auch ein Glück, denn sonst gäbe es keine Freiheit. Deshalb bin zumindest ich froh, dass es keine Zeitmaschine gibt, dass wir also nicht wirklich in die Zukunft reisen können. Sonst wäre unser Leben ja vorherbestimmt: ein unabänderliches Schicksal. Aber wir können die Zukunft verändern, und zwar, indem wir in der Gegenwart aktiv werden. Mit Blick auf die Klimakrise (und auf viele andere Bedrohungen) bedarf es dabei des skeptischen Denkens genauso wie unserer Sinnvorstellungen und auch einer gewissen Zuversicht: weder leben wir bereits in einer wirklich humanen Welt — noch ist die Sache der Menschheit schon verloren. Es ist noch nicht zu spät.[11] Deshalb bin ich überzeugt: Engagement macht Sinn – und kann Sinn stiften.

 

Anmerkungen

[1]    https://www.philomag.de/artikel/kleine-menschen-grosse-fragen-3 (Name geändert). Zugriff: 15.09.2023.

[2]    Etel Adnan: Die Stille verschieben, Hamburg: Edition Nautilus 2022, S. 22.

[3]    Ebd., S. 34 f.

[4]    Ebd., S. 54.

[5]    Ludwig Wittgenstein: Über Gewissheit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 117.

[6]    Der Begriff wurde vom Geohistoriker Jason Moore popularisiert; vgl. beispielsweise https://jasonwmoore.com/wp-content/uploads/2021/11/Jason-W.-Moore-im-Interview-uber-Kapitalozan-und-Anthropozan-GEO-2021.pdf. Zugriff: 15.09.2023.

[7]    Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, Bd. V, S. 819 (X II a, 3); sowie   Bd. I, S. 1232 (Ms 1100).

[8]    … im Übrigen ist das häufig eine sinnvollere Option als das Befolgen jener sprichwörtlichen, meist ironisch gemeinten Anweisung: „Wenn man nicht mehr weiterweiß, gründet man ’nen Arbeitskreis“.

[9]    Adnan: Die Stille verschieben, S. 44.

[10] Die neu gegründete Humanistische Hochschule Berlin hat sich, ganz in dieser Tradition, folgende Maxime gesetzt: „Ausbilden für eine Gesellschaft mit Sinn“; vgl. https://humanistische-hochschule-berlin.de (Zugriff: 15.09.2023). Zu einer umfassenden humanistischen Ausbildung gehört auch deren wissenschaftliche Reflexion, die nicht zuletzt skeptisches Denken befördert.

[11]Es ist nicht zu spät ist das neue Eine andere Welt ist möglich. Die richtige Antwort auf die jeweils herrschende Atmosphäre der Zeit.“ Bini Adamczak auf twitter, 1. August 2022 https://twitter.com/bini_adamczak/status/1553987641980252160 (Zugriff: 15.09.2023). —  Vgl. außerdem Alfred Schmidt: Kritische Theorie. Humanismus. Aufklärung, Stuttgart: Reclam 1981, S. 51.

 

Der Aufsatz ist auch als zitierfähiges PDF verfügbar.

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