Ein Jahr Krieg und keiner sucht nach Frieden
von Ralf Schöppner
(1) Bei starken gesellschaftlichen Polarisierungen – gender, Corona, Ukraine usw. – besteht eine humanistische Haltung eher darin, sich für Annäherung und Ausgleich zu engagieren als sich auf eine der beiden Seiten zu schlagen, so verführerisch das auch sein mag. Sie versucht, die Beweggründe beider Seiten zu berücksichtigen und die vermeintlich klaren und oftmals vereinfacht konstruierten Fronten aufzuweichen. Diese Haltung ist schon eine Art und Weise, zum Ausdruck zu bringen, dass Humanismus auf der Seite des Friedens ist.
(2) Die bundesdeutschen Debatten zum russischen Überfall auf die Ukraine sind von einer eklatanten medialen und politischen Einseitigkeit geprägt: Die russische Seite kann nur niedere Beweggründe haben, die ukrainische nur die edelsten. Die Binse, dass zu einem Konflikt immer zwei Seiten gehören, steht hier im Verdacht, die „Opfer“ zu verraten. Das gilt auch für die Analyse der historischen Vorgeschichte: Auf das Wirken der Nato-Staaten wie auf dasjenige der Mitglieder der EU darf kein Schatten fallen. In einer derart unausgewogenen Debattenlage, demokratie- und pluralismusfern, besteht die humanistische Haltung vor allem darin, diese Scheuklappen zu kritisieren und die vernachlässigte Seite mit in den Diskurs zu bringen.
(3) Dabei ist aber nicht das berühmte Kind mit dem Bade auszuschütten: Es ist die ukrainische Bevölkerung, die täglich Beschuss befürchten muss, deren Häuser, Städte und Infrastruktur zerstört wird, die verletzt und getötet wird, bis hin zu mörderischen Verbrechen an der Zivilbevölkerung durch russische Soldaten. Die Inhumanität geht von Russland aus und betroffen ist nicht die russische Bevölkerung, selbst wenn dank der russischen Regierung russische Soldaten völlig sinnlos ihr zumeist noch junges Leben lassen müssen. Es ist die Ukraine, die Solidarität und Unterstützung durch die Mitglieder von Nato und EU braucht und verdient hat.
(4) Thomas Mann hat 1936 in einer Rede etwas ausgesprochen, das auch für den aktuellen Krieg in der Ukraine und insbesondere für die Frage nach dem Verhältnis von Humanismus und Pazifismus von Belang ist: „Was heute Not täte, wäre ein militanter Humanismus, welcher gelernt hat, dass das Prinzip der Freiheit und Duldsamkeit sich nicht ausbeuten lassen darf von einem schamlosen Fanatismus; daß er das Recht und die Pflicht hat, sich zu wehren. Europa ist ein mit der humanistischen Idee eng verbundener Gedanke. Aber Europa wird nur sein, wenn der Humanismus seine Männlichkeit entdeckt, wenn er lernt, im Harnisch zu gehen, und nach der Erkenntnis handelt, daß die Freiheit kein Freibrief sein darf für diejenigen, die nach ihrer Vernichtung trachten.“ [1] Wenn wir nicht vergessen, dass Militanz und Männlichkeit in erster Linie sicherlich eher Teil des Problems als seine Lösung sind, dann weist uns Mann gleichwohl doch zutreffend hin auf die politischen Grenzen eines Pazifismus, der die Anwendung von Waffengewalt prinzipiell, d.h. in jedem Fall ablehnt.
(5) Humanismus beinhaltet keinen prinzipiellen gesinnungsethischen Pazifismus, sondern einen pragmatistischen und verantwortungsethischen Pazifismus. Dessen Verantwortung ist primär Verantwortung für den Frieden: das prophylaktische Engagement für den Abbau globaler struktureller Kriegsursachen wie Armut und Verteilungsungerechtigkeit, Herrschaft und Unterdrückung oder Folgen des Klimawandels, das stete Ringen um friedliche Konfliktlösungen und Abrüstung, das bleibende Unbehagen, dass das Unsummen für Waffen ausgegeben und diese dann auch noch in alle Welt exportiert werden. In begründeten Ausnahmefällen, deren Vermeidung eigentlich oberstes Ziel ist, kann es aber auch in humanistischer Perspektive vertretbar sein, den Einsatz von Waffengewalt zu befürworten. Verantwortungsethisch zu handeln bedeutet, dass man die jeweiligen Folgen abwägt: Sorgt der Einsatz von Waffen für weniger Zerstörung, Leid, und Tod als der Verzicht auf den Einsatz von Waffen? Zur Folgenabwägung gehört auch die Frage, ob man durch die Hinnahme völkerrechtswidriger Gebietseroberungen weiteren zukünftigen Überfällen das Tor öffnet. Pragmatistisch zu handeln bedeutet, sich in bestimmten Ausnahmefällen trotz aller Gewissensnöte und trotz der nicht zu unterschätzenden Unsicherheit des Wissens über die jeweiligen Folgen dennoch für das nach bestem Wissen und Gewissen festgestellte kleinere Übel zu entscheiden.
(6) Eine solche Entscheidung ist dann in humanistischer Perspektive aber nicht Anlass für vollmundige Reden von einem gerechten Krieg oder militaristische Begeisterung. Sie wird immer eher das zerknirschte Gesicht des Außenminister Fischer angesichts seiner Befürwortung des Nato-Einsatzes im Kosovo haben – ob man sie ihm damals abgenommen hat oder nicht – als dasjenige der sich an ihrem neuen Waffen-Knowhow ergötzenden Strack-Zimmermanns und Hofreiters. Dem verantwortungsethischen Pazifismus des Humanismus wohnt angesichts solcher Entscheidungen eine Trauer inne, die zu seiner modernen melancholischen Einfärbung gehört. Von solch einer Trauer weiß ebenso wenig jemand, der stolz die Erhöhung des prozentualen Anteils der Verteidigungsausgaben verkündet und 100 Milliarden für die Bundeswehr rausreicht, die so sehr an anderen Stellen fehlen werden. Und auch die Kritiker*innen des Zauderns und Zögerns wissen davon nichts, Männlichkeit und Militanz scheinen ihnen näher zu sein.
(7) Ist es humanistisch, einem völkerrechtswidrig überfallenen Land wie der Ukraine Waffen zu seiner Verteidigung zu liefern? Handelt es sich um eine Ausnahmesituation des kleineren Übels? Wir wissen es nicht. Und das sollten wir besser auch zugeben. Denn wir können es gar nicht wissen. Die verantwortungsethische Folgenabwägung ist in solch komplexen geopolitischen Problemlagen eines Krieges durch erhebliche epistemische Unsicherheiten geprägt. Wir können gar nicht genau wissen, welches die Folgen militärischer Unterstützung oder der Unterlassung sein werden. Was wir aber wissen: Seit über einem Jahr ist nun Krieg in der Ukraine und es gibt, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keine pazifistischen Stimmen in der deutschen Debatte. So gut wie niemand sucht nach Frieden. Die Regierung nicht, die Parteien nicht, EU und Nato nicht, die Ukraine nicht und schon gar nicht der Angreifer Russland, der wahrlich dran wäre, hier einen Anfang zu machen. Stattdessen verkünden auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2023 europäische Regierungschefs, dass dieser Krieg noch lange dauern wird. Sie halten das für eine realistische Auskunft, in Wirklichkeit ist es ein erschütterndes Armutszeugnis. So gut wie niemand sucht nach Frieden: Diesen Mangel einzuklagen und auf dem Naheliegendsten zu beharren, so fern es gerade auch zu liegen scheint, ist eine humanistische Haltung. Es muss nach Wegen gesucht werden, dass die Waffen ruhen können.
[1] Thomas Mann: Humaniora und Humanismus. In: Thomas Mann: Altes und Neues, Frankfurt a.M. 1965, S. 438-447, S. 447.
Der Debattenbeitrag ist auch als zitierfähiges PDF verfügbar.
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Beim Versuch ausgewogen zu sein, was durchaus zu begrüßen ist, sind Ralf Schöppner offenkundig Werte und Maßstäbe verloren gegangen.
1. Von einem humanistischen Standpunkt aus gilt, dass der militärische Überfall auf die Ukraine durch nichts zu rechtfertigen ist und die Art wie Putins-Russland diesen Krieg führt schon gar nicht. Daran ändert auch eine historische Analyse des Konflikts, wie immer sie ausfallen mag, nichts. Täter und Opfer stehen hier eindeutig fest. Die „Binse“ gilt hier nicht. Nicht die Ukraine bedroht Russland oder stellt territoriale Forderungen. Putins-Russlands hat die Ukraine überfallen.
2. Natürlich ist es humanistisch einem völkerrechtwidrig angegriffenen Land Waffen zu liefern. Bitte was ist die Alternative? Das Recht des Stärkeren zu akzeptieren, ist es jedenfalls nicht. Schon aus moralischer Sicht, dem Opfer ist beizustehen, aber auch aus politischer. Wenn Russland einmal damit durch kommt, besteht die Gefahr, dass weitere militärische Drohungen/Aktionen von Russland ausgehen und andere Länder (z. B. China) sich ein Beispiel nehmen. Dabei ist natürlich nicht nur moralischer Rigorismus sondern auch Pragmatismus gefordert, um den Konflikt nicht zu eskalieren.
3. Die Behauptung „so gut wie niemand sucht nach Frieden“ ist einfach falsch. Diverse europäische Politiker*innen haben sich bemüht, Putin von seiner Invasion abzuhalten bzw. diese zu beenden und versuchen auch weiterhin mit ihm im Gespräch zu bleiben. Zudem weiß niemand von uns genau, was auf der Ebene der internationalen Diplomatie im Hintergrund alles vor sich geht. Auch diejenigen, die sich auf westlicher Seite mit schrillen Tönen hervortun, werden sich einem fairen Frieden nicht verweigern.
4. Die „Binse“ ist, dass es für den Frieden einen Partner braucht. Putin zeigt täglich durch sein Handeln, dass er solch ein Partner nicht sein und höchstens einen Unterwerfungsfrieden akzeptieren will. Entsprechend ist die Aussicht, dass dieser Krieg noch lange dauern kann, nicht schön, aber leider realistisch. Frieden mit einem Aggressor lässt sich nicht herbeireden. Wie 1939 die Westmächte müssen wir lernen, dass Frieden und Freiheit einen hohen Preis von uns fordern können, wenn jemand mit militärischer Macht Frieden und Freiheit bedroht.
Michael Schmidt