Hinkelammert: Die Dialektik und der Humanismus der Praxis

 

 

Autor: Franz J. Hinkelammert
Erschienen: VSA Verlag, Hamburg, 2020
Seiten: 240
Preis: 16,80 €
ISBN: 978-3-96488-056-7
Rezensent: Thomas Heinrichs

 

 

 

 

Franz Hinkelammert, ein seit vielen Jahren in Lateinamerika lebender Befreiungstheologe, legt hier ein Buch vor, in dem er sich mit der bürgerlichen Kritik an Marx auseinandersetzen will. Hinkelammert hält das liberale Verständnis des Marktes für eine »Marktreligion«, zu der ein »religiöser Glaube« an die unsichtbare Hand des Marktes gehört (S. 12). Das liberale Verständnis der kapitalistischen Gesellschaft verlange, »sich diesem Markt als Gott zu unterwerfen« (S. 13).

Ob Hinkelammert dies metaphorisch oder wörtlich meint, wird leider nicht klar, da er die Begriffe der Religion und Gottes nicht definiert. Dass zwischen einem politischen Verständnis von Gesellschaft und einer Religion ein qualitativer Unterschied besteht, dürfte klar sein. Religion ist das seiner selbst unbewusste Bewusstsein von Gesellschaft. Der religiöse Mensch hat kein Verständnis von Gesellschaft. Er weiß nicht, dass er, wenn er über Religion redet, tatsächlich über Gesellschaft redet. Das liberale Verständnis von Gesellschaft dagegen ist wie alle Gesellschaftstheorie, wie sie sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt, ein bewusstes Verständnis der Gesellschaft und ihrer Strukturen. Das dieses Gesellschaftsverständnis möglicherweise falsch ist bzw. der Durchsetzung bestimmter Klasseninteressen dient, wie Hinkelammert unter Bezug auf Marx aufzeigt, ändert daran nichts. Religion ist kein falsches Bewusstsein von Gesellschaft, sondern ein seiner selbst nicht bewusstes Bewusstsein von Gesellschaft.

Diese religiöse Interpretation von Gesellschaftstheorie wirkt sich auf Hinkelammerts eigenen theoretischen Ansatz aus. Hinkelammert versteht Gesellschaftstheorie als eine defizitäre Form von Religion.

Dass die Menschen im 19. Jahrhundert beginnen, Gesellschaft bewusst zu verstehen, führt dazu, dass sie nicht länger Vorstellungen einer besseren Gesellschaft in den »Himmel« projizieren, sondern Projekte der Verwirklichung einer besseren Gesellschaft entwickeln, wie z.B. die Marktideologie, der Kommunismus und Anarchismus. Diesen Projekten wirft Hinkelammert vor, dass sie das Problem der »Faktibilität« (S. 23) übersehen hätten. Das Wissen darum, dass Gesellschaften nur in einem bestimmten Maße positiv veränderbar seien, sei mit der Säkularisierung verlorengegangen. »Der Glaube an den Himmel war realistischer als die bürgerliche Ideologie der Marktharmonie, denn er verlagerte die Vorstellung einer perfekten Gesellschaft in den Himmel und machte dadurch ihre Unmöglichkeit offensichtlich« (S. 23). »Produziert nicht angeblich der, der den Himmel auf Erden machen will, auch die Hölle? Kann man nicht in der Dritten Welt die Hölle studieren, die dieses bürgerliche Versprechen des Himmels erzeugt?« (S. 25).

Nun ist es sicher sinnvoll, das religiöse und das politische Weltverständnis miteinander zu vergleichen. Und man kann im Einzelnen aus dem religiösen Verständnis von Gesellschaft etwas lernen. Aber Gesellschaftstheorie von der Religion her zu sehen und sie am Maßstab der Religion zu messen, ist nicht sinnvoll, weil dies den qualitativen Bruch zwischen beiden negiert. Religiöse Kategorien sind per se ungeeignet gesellschaftstheoretische Konzepte zu beschreiben oder zu bewerten. Dies ist so, als würde man die moderne Chemie von der Alchemie aus zu verstehen und zu bewerten suchen. Eine religiös geprägte Gesellschaftstheorie, wie Hinkelammert sie vorlegt, ist eine unfruchtbare Kreuzung.

Was Hinkelammert an Marx schätzt, ist, dass dieser der erste Autor sei, der eine »Faktibilitätsgrenze« erkannt habe, nämlich die des Kapitalismus; da dieser zur Verelendung führe, sei er nicht vervollkommbar (S. 24). Allerdings habe Marx die Faktibilitätsgrenze seines Sozialismusentwurfs nicht erkannt (ebd.). Die bürgerliche Kritik an Marx komme nun als Utopiekritik daher. Sie bestreite die Möglichkeit des Sozialismus und kommt daher zur Alternativlosigkeit des Kapitalismus – wobei sie Marx‘ Kapitalismuskritik ignoriert (S. 26f) und damit die von Marx entdeckte Faktibilitätsgrenze negiert.

Nachdem Hinkelammert so den Rahmen seiner Fragestellung abgesteckt hat, beginnt er nun mit einer kleinteiligen Analyse der bürgerlichen Kritik an Marx. Hier behandelt er Max Weber, Friedrich Nietzsche, von dem Hinkelammert meint, er habe sich unausgesprochen mit Marx auseinandergesetzt, Karl Popper und Friedrich August Hayek. In diese Analysen eingeflochten sind immer eigene, theologisch hinterlegte Positionen. Dies führt dazu, dass der Text sperrig zu lesen ist und thematisch springt, vom Weberschen Bürokratiebegriff zur Hybris und Luzifer, von der Utopie der Anarchisten zur Utopiekritik als Utopie der Hölle, vom kollektiven Selbstmord zum Sinn des Lebens zum tausendjährigen Reich des NS (vgl. S. 63ff) usw. Dem Rezensenten kam der Text häufig recht wirr vor. Man fragt sich des Öfteren, was will uns der Autor sagen? Zum Beispiel, dass die Hölle auf Erden, die Utopie Nietzsches sei (S. 65). Das ist, um es freundlich zu sagen, eine sehr eigenwillige Interpretation.

Nietzsche »hat von der Sklavenbefreiung in den USA gehört, und glaubt, dass damit eine Welt untergeht, er will zurückschlagen. Vielleicht glaubt er sogar, dass sein durchaus bescheidenes Gehalt in Gefahr ist. So geht er spazieren, steigt die Berge herauf und wieder herunter, und gibt sich solchen Phantasien hin. Jetzt ist er Renaissancemensch, von unendlicher physischer Kraft, homerischer Held, Aristokrat, Wikinger. Wenn er mit sich selbst diskutiert, glaubt er sein Schwert zu ziehen, wenn er schreibt, glaubt er eine Schlacht zu kämpfen … er zieht sein Schwert: Es ist der Spazierstock, mit dem er zornig einen Ast abschlägt. Er sieht Blut spritzen und freut sich. Dabei ist es nur der Tau der Blätter« (S. 71f).

Schreibt Hinkelammert jetzt eine biographische Novelle über Nietzsche in den Bergen oder ist das Buch eine wissenschaftliche Analyse bürgerlicher Marx- und Utopiekritik oder ist das Buch eine theologisch-religiös inspirierte Kritik am Kapitalismus? Ich habe es bis zum Schluss nicht herausbekommen. Nun kann das Überschreiten von Genregrenzen durchaus produktiv sein, aber einen intellektuellen Mehrwert der bei Hinkelammert ständig aufzufindenden Vermischung der Genres und Kategorien habe ich nicht wahrgenommen.

Das Buch bestätigt die Auffassung des Rezensenten, dass religiös geprägt und theologische unterlegte gesellschaftstheoretische Ansätze heute nicht mehr produktiv sein können. Sich den Kapitalismus als Religion zu denken und das Geld als falschen Gott, bringt einen weder in theoretischer noch in praktischer Hinsicht irgendwie weiter. Mit einem religiösen Weltbild ist heute nichts mehr anzufangen. Daran ändert sich auch nichts dadurch, dass der Autor im linken Teil des politischen Spektrums verortet ist.

Die Rezension ist auch als zitierfähiges PDF verfügbar.

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