Alexei Nawalny: Schweigt nicht! Reden vor Gericht

Autor: Alexei Nawalny
Titel: Schweigt nicht! Reden vor Gericht
Verlag: Droemer, München 2021
Seiten: 96 Seiten
Preis: 8,00 €
ISBN: 978-3-426-27880-2
Rezensentin: Irina Spiegel

 

 

 

„Habt keine Angst!“

Alexei Nawalny ist tot. Umgebracht. Systematisch und sukzessive. Aber seine Entschlossenheit und Furchtlosigkeit, sein Kampf für Recht und Gerechtigkeit, für Freiheit werden weiterleben. Im Kampf gegen immer repressivere Autokratien wird Nawalny, dieser postheroische Held unserer Zeit, ein Vorbild für die Oppositionellen überall auf der Welt bleiben, und durch seine Videos und Worte viele Bürger*innen dazu animieren, nicht zu schweigen und sich nicht einschüchtern zu lassen, wenn Unrecht geschieht.

Vor zweieinhalb Jahren ist ein Büchlein von Alexei Nawalny erschienen: „Schweigt nicht! Reden vor Gericht.“ Es sollte spätestens jetzt gelesen werden.

Das Buch beleuchtet die dunklen, kafkaesken Zustände der russischen Justiz im Putins Regime. Es gibt Einblick in die brutale Realität der Oppositionellen in Russland und macht so die Willkür, das Unrecht und die Gewaltstrukturen des Regimes sichtbar. Es vermittelt die Atmosphäre der politisch-motivierten Prozesse, sogenannter Schauprozesse, im heutigen Russland. Nawalnys klare und starke Ausdrucksweise führt die Leser*innen direkt in seine Gedanken und Emotionen ein. Diese Reden vor Gericht gehen über die bloße rechtliche Verteidigung deutlich hinaus. Sie sind Aufrufe zum Widerstand gegen das Unrechtsregime und für die Menschenrechte.

Das Vorwort von Gerhart Baum und die Anmerkungen von Alexandra Berlina ordnen die Reden Nawalnys historisch und gegenwartspolitisch ein. Die deutsche Übersetzung ist gut gelungen, denn sie schafft es, Nawalnys Ton und seine Art zu sprechen abzubilden. Auf den letzten 30 Seiten sind die Reden auch auf Russisch abgedruckt. So können die nach Deutschland geflüchteten Russinnen und Russen die Reden im Original lesen.

Gleichschaltung der Justiz als ein Aspekt des „Wiederkehr-Totalitarismus“

Alexei Nawalny hielt diese Reden von Mitte Januar bis Ende Februar 2021, nachdem er infolge seiner Vergiftung, seiner Genesung in Deutschland und seiner Rückkehr nach Russland noch am Flughafen verhaftet worden war. Er wurde direkt vom Flughafen aus in ein Polizeirevier gebracht, wo eine Anhörung der Anklage stattfand. Nicht in einem Gericht, sondern bei der Polizei, was selbst in einem autoritären Staat wie Russland ein äußerst seltener Vorgang ist.

Nawalny hat einen Anschlag durch eine chemische Waffe aus der Gruppe Nowitschok überlebt und ist jetzt, nur 3 Jahre später tot, getötet von Putins Regime – durch die Folter der Isolationshaft und durch etwas, von dem wir keine Vorstellung haben. Und selbst wenn wir eine hätten, dann hätten wir noch lange kein treffendes Empfinden dafür, wie es ist, in einer russischen Strafkolonie in der Polarregion inhaftiert zu sein. Um das etwas nachempfinden zu können, müssten wir wieder intensiver die Gulag-Literatur lesen. Für Lev Gudkov, Direktor des Lewada-Zentrums, kehrt der Gulag teilweise zurück, wenn auch etwas angepasst an die Realitäten des 21. Jahrhunderts. In Anlehnung an die „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ von Hannah Arendt spricht er sogar von einem „Wiederkehr-Totalitarismus“[1].

In diesem Rollback-Prozess war Nawalny eine Ausnahmeerscheinung innerhalb der russländischen Opposition. Es gibt viele Kämpfer*innen in Russland, nur hatte keine/keiner eine solche Reichweite wie Nawalny. Er war nicht nur charismatisch, humorvoll und ziemlich clever, sondern auch voller Glauben an das bessere Russland. Ob Julia Nawalnaya seine Sache fortsetzen kann, wird sich in der Zukunft zeigen.

Mit seinen Reden richtet sich Nawalny nicht an die kleinen Apparatschiks und Statisten im Gerichtssaal, sondern vor allem an die russischen und internationalen Oppositionellen und Widerstandskämpfer*innen. Die Menschen in der Russischen Föderation und der ganzen Welt sollen sehen und hören, wie Justiz im Putins Regime funktioniert, wie es das Recht missachtet, aber auch wie korrupt Putin und sein Clan sind, wie sie sich alle hemmungslos bereichern und Macht- und Gelddynastien installieren bzw. bereits installiert haben. Die Menschen sollen sehen, wie perfide durch „Telefonate von oben“ gleichgeschaltete Richterinnen und Staatsanwälte verfahren, wie sie auch ohne Telefonate im vorauseilenden Gehorsam ihre juristische Profession Tag für Tag verraten:

„Diese ganze Sache ist eine Farce. [ – Sagt Nawalny ins Gesicht der Richterin.] Und alles, was ich hier sage, spiegelt meine Haltung zu der Farce wider […]. Manchmal sind die Gesetzlosigkeit und Willkür die Essenz eines politischen Systems, und das ist schlimm. Aber etwas anderes ist noch schlimmer. Wenn Gesetzlosigkeit und Willkür sich als Staatsanwälte oder Richter verkleiden.“ (28) Die russischen Richter*innen weisen fast alle Anträge der Verteidigung zurück. Sie übernehmen die Anklageschrift weitestgehend, wobei sie auf zynische Weise versuchen, den formalen Anschein eines echten Verfahrens doch noch zu wahren. Nawalny macht ihre Blendungsversuche zunichte, indem er statt juristisch politisch argumentiert. So kann er das Unrecht ohne Umschweife benennen. Was Nawalnys Reden so einzigartig macht, ist nicht nur seine Unerschrockenheit, sondern auch seine phänomenale Entschlossenheit, sein Wille, um jeden Preis und ohne Rücksicht auf Verluste die für alle unbequeme Wahrheit ans Tageslicht zu bringen.

Nawalnys Redestil: Zynische Ironie oder ironischer Zynismus?

In seinen Gerichtsappellen macht Nawalny den Präsidenten und seine Schergen lächerlich; er lacht ihnen völlig furchtlos ins Gesicht. Warum tut er das? Und dies sogar mit ziemlich derben Worten und eigentlich beleidigenden Sprüchen; solchen, die auch Putin selbst oft und gern benutzt. Warum tut er das? Schließlich drohen ihm dadurch zusätzliche Strafen. Und tatsächlich wurden ihm daraufhin weitere Prozesse gemacht (u.a. wegen Beleidigung der Richter*innen, wegen Beleidigung eines Veteranen); seine Strafe erhöhte sich dadurch auf 19 Jahre. Also, warum tat er das? Warum kehrte er überhaupt nach Russland zurück? Und warum sprach er selbst auf so eine hardcore ironische Weise? Wohl um zu zeigen, dass er keine Angst hat vor dieser „Kröte, die da auf dem Rohr sitzt“ (16), keine Angst vor einem, „der im Bunker sitzt und vor Angst schlottert“. (17) Er spricht so, um auf diese Weise diesem Gauner in der Rolle eines „Führers der Nation“[2] (Lev Gudkov), jeglichen Respekt zu versagen. In der Hauptverhandlung zur Beschuldigung, gegen Bewährungsauflagen verstoßen zu haben, rief Nawalny am 2. Februar 2021 den Anwesenden zu, in einem – durch zynische[3] Ironie verzerrten – patriotischen Eifer: „Wir hatten Alexander den Befreier, wir hatten Jaroslaw den Weisen, und jetzt haben wir Wladimir den Unterhosenvergifter. So geht er in die Geschichte ein!“ (25)

Das Publikum im Gerichtssaal lacht. Die Richterin versucht, Nawalny zu unterbrechen, doch sie kommt nicht durch; Nawalny ist zu stark, zu entschlossen und durch nichts zu stoppen: „Hier stehe ich, bewacht von der Polizei; die Nationalgarde ist hier, und halb Moskau ist abgesperrt, weil der kleine Mann im Bunker durchdreht […]“. (25) „Wovor haben diese Diebe in ihren Bunkern am meisten Angst? Ihr wisst es selbst! Sie haben Angst davor, dass die Menschen auf die Straße gehen. Denn das ist ein politischer Faktor, der nicht ignoriert werden kann. Das ist das Wichtigste, das Entscheidende. Das ist die Essenz der Politik.“ (16) „Ich fordere alle auf, keine Angst zu haben. Dieses ganze Regime basiert auf Angst.“ (27)

Ja, so ist es. Angst und Gewalt sind in Russland omnipräsent. Sie sind teilweise durch die mehrfachen Traumata aus der blutigen russischen und sowjetischen Geschichte bedingt. Das ist eine unselige Ressource, die das Regime Putin mal taktisch, mal willkürlich bedient.

Nawalny ist der einzige Oppositionelle in Russland – gewesen, der es direkt mit Putin aufgenommen hatte, mit diesem „gnadenlosen Genie der Mittelmäßigkeit“[4], der Nawalny öffentlich nie beim Namen nannte. Putin hatte (und hat immer noch) Angst vor der Person – jetzt Ikone – namens „Nawalny“. Nomen est omen? Der Name „Nawalny“ enthält die russische Wurzel von „Menge“, „Anhäufung“, „Mauer“. Und Putin ist mangels Bildung äußerst abergläubisch.

„Ich habe ihn tödlich beleidigt [fährt Nawalny fort], indem ich überlebt habe – dank guter Menschen, dank Piloten und Ärzten. Dann habe ich ihn noch ärger beleidigt: Nicht nur bin ich am Leben geblieben, ich habe mich nicht versteckt, habe mich nicht irgendwo in einem bewachten Bunker verzogen […]. Und schließlich kam es noch schlimmer: Nicht nur bin ich am Leben geblieben und habe mich nicht einschüchtern lassen – ich habe mich auch noch an Recherchen zu meiner eigenen Vergiftung beteiligt, und wir konnten beweisen, dass es Putin war, der mithilfe des Föderalen Sicherheitsdienstes das Attentat verübt hat“. (24) Und es ist wieder Putin, der jetzt mithilfe der gleichgeschalteten Justiz und Strafkolonie-Verwaltung Nawalny umgebracht hat.

„Russland wird frei sein!“

Nawalnys Reden wecken Erinnerungen an die sowjetischen Schauprozesse, die den Dissidenten in der UdSSR gemacht wurden, und die zum Beispiel in den Texten von Alexander Solschenizyn, Nadeschda Mandelstam, Jewgenija Ginsburg und Josef Brodsky und vielen anderen literarisch aufgefangen wurden. Der Ton von Nawalny ist derb-ironisch, ja a-ästhetisch. Er ist im Gegensatz zu den Untergrund-Literaten und -Künstlerinnen in den 60-70er Jahren weder episch noch poetisch noch konstruktivistisch oder gar postmodern.  Wegen seiner groben und zynischen Ironie ist Nawalny in seinen Reden viel weniger pathetisch, als man es von einem glühenden russischen Patrioten erwarten würde.

Nawalny möchte direkt das Unrecht ansprechen, ohne es äsopisch oder ästhetisch zu verkleiden oder gar zu reflektieren. Seine Reden und Videos enthalten kein Nachdenken, etwa über liberale Demokratie, soziale Gerechtigkeit oder gar den (universellen) Humanismus der Menschenrechte. Nawalnys Adressaten sind nicht das gebildete oder intellektuelle Publikum oder die akademischen Kreise (wie dies noch im sowjetischen Dissidententum oft der Fall war). Seine Zielgruppe sind die User des Internets im 21. Jahrhundert, der modernen Social Media, wo er Millionen Anhänger hat. Seine Social-Media-Orientierung wertet jedoch seine Worte nicht ab. Eher umgekehrt können sie politisch nicht hoch genug eingeschätzt werden, weil sie sehr viele Menschen erreichen und mobilisieren können, in Russland und weltweit.

Ich bin fest davon überzeugt, dass Alexei Nawalnys Videos und Worte Generationen von Oppositionellen und Regime-Kritikerinnen in Russland und weltweit dazu inspirieren werden, nicht zu schweigen, wenn Unrecht geschieht: „Habt keine Angst!“ Mit diesem Slogan wird Alexei, der Unerschrockene weiterleben.

Anmerkungen

[1]  Lev Gudkov: Wiederkehr-Totalitarismus, Moskau 2022, Bd. 1. und 2. Die Studie ist nicht ins Deutsche übersetzt. [Лев Гудков: Возвратный тоталитаризм. М., НЛО, 2022, том 1, 809 с. и том 2, 716 с.].

[2]  Lev Gudkov: Der „Führer der Nation. Putin und das Kollektivbewusstsein in Russland. OSTEUROPA, 73. Jg, S. 23–71. Online unter: https://zeitschrift-osteuropa.de/hefte/2023/5-6/der-fuehrer-der-nation/ (Zugriff: 26.02.2024).

[3]  Der Zynismus ist im heutigen Russland sehr verbreitet. Vgl. Lev Gudkov „Russlands Systemkrise. Negative Mobilisierung und kollektiver Zynismus“ (S. 221ff.). In: Lev Gudkov: Wahres Denken. Analysen, Diagnosen, Interventionen, Edition OSTEUROPA 2, Berlin 2017.

[4]   Lev Gudkov: Der „Führer der Nation“. Putin und das Kollektivbewusstsein in Russland. OSTEUROPA, 73. Jg, S. 56. Online unter: https://zeitschrift-osteuropa.de/hefte/2023/5-6/der-fuehrer-der-nation/ (Zugriff: 26.02.2024).

Die Rezension ist auch als zitierfähiges PDF verfügbar.

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