Alexander Wierzock: Ferdinand Tönnies

 

Autor: Alexander Wierzock
Erschienen: Königshausen & Neumann 2022
Seiten: 94
Preis: 9.80 €
ISBN: 978-3-8260-7573-5
Rezensent: Horst Groschopp

 

 

 

Tönnies als humanistischer Soziologe

Die vorliegende Broschüre über Ferdinand Tönnies (1855-1936) als Soziologen und Ethiker ist der neunte Band der bei Königshausen & Neumann erscheinenden Reihe „Humanistische Porträts“. Der Autor Alexander Wierzock ist kulturwissenschaftlich tätiger Soziologe. Er arbeitet derzeit an einem DFG-Projekt zur digitalen Edition von Tönnies-Briefen und an seiner Promotion. 2015 und 2017 erschienen von ihm für die Forschung wichtige Texte, einmal über Tönnies als Republikaner und dann über seine Haltung zur Sozialdemokratie, der er 1930 demonstrativ beitrat, was ihm die Nationalsozialisten nicht verziehen.

Das Erscheinen das Bändchens in der oben genannten Reihe nahm der Autor zum Anlass, das Humanistische in Werk und Person von Ferdinand Tönnies zu benennen (vgl. den tabellarischen Lebenslauf, S. 9 f.; die Literaturliste, in der leider Uwe Carstens fehlt; das Fußnotenverzeichnis belegt 279 Zitate bzw. Hinweise). Wierzock kommt immer wieder auf die Rolle und das Wirken von Tönnies in der Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur zurück. Auf dieser Beziehung soll auch der Schwerpunkt der Rezension liegen, die einige Ergänzungen versucht. Doch zunächst ein Überblick.

Der Autor nähert sich eingangs der Person und dessen Werk. In der Broschüre kommen viele Freunde und Widersacher vor und einmal wird auch eine Kritik von ihm an seiner Frau zitiert. Ansonsten scheinen Bio-graphien über Wissenschaftler leider immer ohne deren anderen Eheteil und die gemeinsamen Kinder auszukommen, auch hier. Bei einer humanistischen Biographie sollte der „ganze Mensch“ in den Blick geraten, zumal bei einem Soziologen, der über die Perspektive der Familie publiziert.

Aber Familie kommt vor, besonders die Herkunft von „feinen Leuten“, von der sich Tönnies geistig abnabelt, „abtrünnig“ wird (vgl. S. 27 ff.), aber dennoch wohl Zeit seines Lebens vom materiellen Erbe abhängig bleibt, er Wohlstand vorzuzeigen vermag, trotz seines Status als (fast) ewiger Privatdozent.

Der Abschnitt 1.2 schildert Tönnies als Humanisten ohne systematischen Humanismusbegriff, der Zeit seines Lebens als praktischer Humanist auftrat und sich in seinen sozialethischen wie sozialreformerischen Schriften entsprechend deutlich äußerte. Im dritten Band (erst postum veröffentlicht) seiner Studie Geist der Neuzeit sieht Tönnies im Humanismus den Vorgang der Humanisierung, wie sich die Menschheit aus einem Zustand der Rohheit und Wildheit erhoben und in einer soziokulturellen Evolution zu einer freien und hohen Denkungsart gefunden hat. (vgl. S. 12) Als Beleg liefert Wierzock Tönnies‘ Analyse des Hafenarbeiterstreiks 1896/1897. „Seine Soziologie trägt … das Gepräge einer kooperativ begründeten Sozialtheorie.“ (S. 19)

Interessant ist hier sowohl die kritische Aneignung des Denkens von Karl Marx und Friedrich Engels (vgl. S. 22 ff.) als auch die Offenheit gegenüber den „Kathedersozialisten“, wobei Tönnies besonders Werner Sombart schätzt.

In diesem Zusammenhang schildert Wierzock Tönnies als jemanden, der Gesellschaft als sich polarisierend sieht und der die Hauptgegnerschaft in der Plutokratie (Reichtumsherrschaft) verortet. Hier wäre der Begriff, wie ihn Tönnies benutzt, deutlich abzuheben gewesen von dessen nationalsozialistischem späteren Gebrauch.

Tönnies, so Wierzock in seinem Resümee (vgl. S. 61 ff.), habe Soziologie als ethische Kultur betrieben. Das führt er auf dessen Wirken in der DGEK zurück, von der Gründung am 18. Oktober 1892 (nicht am 19.10. wie S. 49) bis zu seinem Austritt am 20. Mai 1900. Das Austrittsschreiben wird dokumentiert (S. 62-67). Das ist möglich, weil Tönnies‘ Nachlass, der sich in der Landesbibliothek Schleswig-Holstein befindet, zugänglich ist und mit ihm gearbeitet wird. Darin befinden sich nahezu alle wesentlichen frühen Papiere der DGEK, einschließlich der ersten Mitgliederliste und der höchst seltenen Mitteilungen der deutschen Gesellschaft für ethische Kultur, die von 1892 bis 1896 für die Mitglieder erschienen.

Zur Charakteristik der ethischen Kulturgesellschaft gehört es unbedingt (und ist bisher ungenügend aufgearbeitet), dass mindestens ein Drittel der Gründungsmitglieder jüdischer Herkunft waren, aber von ihrem Glauben her viele eher „säkulare“ Einstellungen besaßen, jedoch die Rituale pflegten.

Ohne etwa die Führungsrolle des Geheimen Sanitäts-Rats Dr. Kristeller, der in der Berliner Jüdischen Gemeinde eine herausragende Position hatte und der nahezu alle Vorversammlungen leitete, hätte es die DGEK wohl nie gegeben – und ohne die Gelder jüdischer Fabrikanten und Bankiers sowie der praktischen Sozialarbeit einiger ihrer Töchter auch nicht. Das Ziel der in der DGEK versammelten Juden, darunter nicht wenige Frauen (wie überhaupt der Frauenanteil relativ hoch war), bestand darin, eine Organisation zu haben, die sich für ihre Normalstellung in der Gesellschaft einsetzte, aber religiös neutral war. Tönnies galt hier als einer der Garanten, wollte er doch die Ethik selbst zur Religion machen.

Die Zeitschrift Ethische Kultur, ab 1893 bis 1936 herausgegeben (zunächst quasi privat von Georg von Gizycki, aber im Verbund mit der DGEK), war erst ab 1897 auch ein Organisationsblatt, zuvor als eine Theoriezeitschrift gedacht, so dass darin lediglich kürzere Informationen „[a]us der ethischen Bewegung“ erschienen. Allerdings sind die großen Richtungsstreite 1895 und 1899 der DGEK dort in den jeweiligen Positionen nachlesbar, so auch Texte von Tönnies. Wierzock hat fünfzig gezählt, immerhin dreißig davon nach Tönnies‘ Ausscheiden.

Im Richtungsstreit 1895 ging es um die Herausgeberschaft der Ethischen Kultur und um die sozialpolitische Orientierung der DGEK nach dem Tod von Georg von Gizycki im März 1895, der stark sozialistisch dachte, was seine Frau Lily von Gizycki (spätere Braun) durchzusetzen versuchte und am Widerstand besonders von Friedrich Jodl scheiterte. Das Ergebnis bestand, verkürzt gesagt, im Austritt beider.

Dass, wie Wierzock belegt (S. 60), der Gründungsvorsitzende Wilhelm Foerster 1896 im Vorfeld des Gesellschaftstages, der im Mai 1896 stattfand, versuchte, Jodl und Tönnies gemeinsam an die Spitze zu bringen, war sicher eine Illusion, denn Tönnies gehörte zu der Gruppe im Vorstand, die Jodls Zugriff verhinderte und Lily von Gizycki stützte, die sich aber dann doch wenig später aus der DGEK in die Sozialdemokratie zurückzog. Foerster selbst, und dies war sicher ein Motiv seiner Idee, war als Direktor der Berliner Sternwarte und wegen internationaler Verhandlungen, etwa über die Einführung des Meter-Grundmaßes, überlastet. Er erklärte Anfang Dezember 1896 seinen zeitweisen Rücktritt als Vorsitzender (bis 1903).

Tönnies Austritt aus der DGEK ging der Richtungsstreit 1899 voraus, zehn Jahre vor Gründung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, deren erster Vorsitzender er wurde. Ausgangspunkt war die erste große Krise der DGEK, sichtbar am Rückgang der Mitgliederzahlen. Tönnies schätzte ein: Erstens fehle es dem eigenen öffentlichen Auftreten an Freimut und Radikalismus; zweitens könne man sich nicht auf „bestimmte sozial-wertvolle Zwecke, Wohlfahrtsbestrebungen dgl.“ beschränken. Wo bleibe dann der große Anspruch?

Diese Kalamität sei für ihn Anlass gewesen, einen Satzungsänderungsantrag zu stellen, um den Namen in „Verein für Sozialethik“ zu ändern. Wenn die DGEK weiter Sozialarbeit betreibe und Lesehallen unterhalte, dann müsse sie ihren Anspruch, einen Zustand der ethischen Kultur zu erreichen, reduzieren oder ganz aufgeben und sich völlig der praktischen „Sozialethik“ widmen. Dann könne sie kooperieren mit allen, die mehr Humanität wollen, welchen Glauben sie auch haben; sie könne auch öffentliche Mittel beantragen beim Staat, ohne sich verbiegen zu müssen. Oder sie bleibt bei ihrem großen Ziel, eine Ethik durchzusetzen, die der Religion nicht bedarf. Dann kann sie bei ihrem Namen und Programm bleiben, muss aber radikaler werden und, so fügt er pessimistisch hinzu, wird wohl Schiffbruch erleiden.

Es ist hier nicht der Ort, diesen konzeptionellen Grundsatzstreit über praktischen Humanismus in all seinen Argumenten, Nuancen und Teilhaberschaften zu erzählen, aber: Indem Tönnies die Abstimmung auf dem fünften Gesellschaftstag im Oktober 1899 krachend verlor, sich aber noch einmal in den Hauptvorstand wählen ließ, schien für die DGEK alles in Butter zu sein, bis ein halbes Jahr später das Rücktrittsschreiben eintraf.

Tönnies‘ Austritt 1900 ist grundsätzlicher als Wierzock schildert, was jedoch der bisher veröffentlichten Forschungslage entspricht. Gegenwärtig ist die DGEK wesentlich hinsichtlich ihrer Bildungspolitik untersucht worden („weltliche Schule“, „Lebenskunde“ usw.), ohne Würdigung ihrer praktischen Sozialarbeit. Der eigentliche Streit 1899 geht darum, und der ist sehr aktuell, ob die ethische Bewegung einer sozialen Praxis bedarf, was Tönnies verneint. Er meint, sie solle es lassen oder sich umbenennen.

Gizyckis Soziale Ethik, von seiner Frau postum noch im Todesjahr 1895 herausgegeben und in der Ethischen Kultur beworben, beförderte den Zukunftsstreit 1896. Auch Gizycki lehnte die Sozialpraxis ab. Er hoffte auf den Sozialismus, der keiner Sozialarbeit bedarf. Auch Tönnies setzte auf den großen Wandel. Das Ergebnis für die DGEK und eine mögliche Theorie des praktischen Humanismus war – nachträglich betrachtet – verheerend. Es gab eine für die damalige Zeit progressive soziale Praxis der DGEK, angelehnt an die jüdische Zedaka-Kultur bis hin zu Vorstellungen und Anfängen einer eigenen Seelsorge. Es gelang aber nicht, diese Praxis theoretisch zu verarbeiten, auf modernen Humanismus zu beziehen.

Das Ergebnis war 1933, dass diese Praxis in christliche Hände fiel, unter NS-Aufsicht geriet, die jüdischen Frauen vertrieben wurden (auch wenn sie, wie Alice Salomon, zum Christentum konvertiert waren) und das, was dann entstand, 1945 im Westen wiederbelebt wurde, als hätte es die ethische Kulturbewegung nie gegeben. Der Sozialismus in der DDR brauchte nach eigener Ansicht keine Sozialarbeit, weil der Kapitalismus als abgeschafft und die soziale Frage als gelöst galt. Gizycki, obwohl vergessen, stand dieser Ansicht Pate.

Meine Einwürfe laufen darauf hinaus, wie es auch Wierzock positiv vorführt, die ethische Kulturbewegung ernster zu nehmen hinsichtlich einer Reihe sehr aktueller Fragestellungen, sowohl einige Personen betreffend, hier Tönnies, aber auch wegen wesentlicher Fragen des Humanismus, sehr aktuell die Debatten in der DGEK über Pazifismus.

Wir haben hier eine sehr gute, sehr gebildete und darüber hinaus mit zahlreichen Abbildungen angereicherte Lektüre vorliegen, in der ein Autor nicht Abfolgen referiert, sondern mit der angenommenen Leserschaft diskutiert, was wiederum einiges Wissen voraussetzt. Das Ergebnis ist eine vor allem anschauliche und gut lesbare Broschüre über einen politisch links engagierten Gelehrten als Intellektuellen in einer sozialkulturellen Bewegung. Man darf auf die Dissertation gespannt sein.

Die Rezension ist auch als zitierfähiges PDF verfügbar.

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