Die kritische Sicht einer praktizierenden Humanistin…

 … auf die Bewältigung der Epidemie von nationaler Tragweite

Rainhard Wiesinger | Pixabay

 

 

 

 

 

 

 

Ursula Neumanns Buch Unerhört! Kommentare, Analysen und Einschätzungen zur Corona-Politik und Berichterstattung dokumentiert wesentliche Teile des Blogs der Autorin „UN über Politik, Gesellschaftskritik und Menschenrechte“. Die Datenselektion aus dem Blog und Gestaltung des Buches erfolgte durch ihre Kinder Joachim und Hannah als Geschenk zu einem Jubiläum Ende 2021.[1]

Die Autorin ist Diplom-Theologin und Diplompsychologin, seit 1986 analytische Psychotherapeutin in eigener Praxis und nach eigenen Angaben stehend in den bürgerlich-republikanischen Traditionen des Rheinischen Liberalen Katholizismus. Dieser war, wir folgen hier Ursula Neumann, vor allem sozialistischen Ideen nicht abhold, man sah vielmehr die soziale Frage deutlicher als die Liberalen – sofern diese sie überhaupt an sich ranließen. Geboren in Lörrach, studierend in Würzburg, heute 20 km von Offenburg und 50 km von Rastatt entfernt wohnend ist sie ganz und gar Süddeutsche, die Jahre 1848/49 lassen grüßen.[2]

Aktuell zeigt sie mit ihrer humanistischen Praxis und in ihrem Blog, was unerschrockener, kritischer Humanismus in diesen Tagen zu leisten vermag. Die Reise im Buch beginnt am 7. März 2020 und endet am 9. Oktober 2021, also während des Hochlaufens der Delta-Variante der Epidemie von nationaler Tragweite und des Findungsprozesses der Nachfolge von Frau Merkel durch Herrn Scholz, bis dahin ihr langjähriger Stellvertreter in der Regierung, während des in diesem Zeitraum stattfindenden Bundestagswahlkampfes und seiner Ergebnisse.

Ursula Neumann bringt sich ein als kritische Beobachterin der führenden bundesdeutschen Printmedien und zitiert auch aus dem deutschen Hörfunk; persönlich durch das Leben geschult, erkennbar an ihren und den Beiträgen ihres langjährigen Partners Johannes Neumann; nachzulesen in den Bänden 5 (Johannes Neumann: Humanismus und Kirchenkritik, Beiträge zur Aufklärung) und 6 (Ursula Neumann: Tätiger Humanismus. Historische Beiträge zu aktuellen Debatten) der im Alibri Verlag erscheinenden Reihe Humanismusperspektiven, herausgegeben von Horst Groschopp.

Zugute kommen der Autorin dabei ihre langen Jahre sozialer Kontakte mit geimpften und ungeimpften Patientinnen und Patienten, womit sie zweifellos der Mehrheit der schreibenden oder redenden Zunft und der in den Parlamenten tätigen, gewählten Abgeordneten an Erfahrung voraus ist.

20.03.2020

An diesem Tag notiert die Autorin, als Credo für die kommenden merkwürdigen Zeiten und vielleicht auch darüber hinaus, eine bekannte Botschaft aus dem 20. Jahrhundert: Gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann. / Gib mir den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann. / Gib mir die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

29.03.2020

Pandemie von nationaler Tragweite – Parlamentarische Selbstentmächtigung im Zeichen des Virus.

Unter diesem Datum und mit diesem Text verweist Ursula Neumann auf den dazu im Verfassungsblog erschienenen Artikel von Prof. Möllers zu einem in Deutschland durchaus seltenen Ereignis.[3] Es geht hier um die Wertung und Bewahrung republikanisch-freiheitlicher Traditionen auf deutschem Boden durch die vom jeweiligen Staatsvolk gewählten Abgeordneten. Am 24. Februar 1793 fanden die Wahlen zum ersten nach allgemeinem Wahlrecht gewählten Parlament auf deutschem Boden statt. Es handelte sich hier um die kurzlebige „Mainzer Republik“ befördert durch die damalige bürgerlich-republikanische, französische Besatzungsmacht.

Der erste Versuch, 1848 eine bürgerliche Verfassung durch die gewählten und in der Frankfurter Paulskirche tagenden Abgeordneten einzurichten, scheiterte, weil man glaubte, den amtierenden preußischen König dafür gewinnen zu müssen, der dieses Ansinnen empört ablehnte.

Die zweite, um den im Artikel von Professor Möllers verwendeten Begriff „Parlamentarische Selbstentmächtigung“ zu gebrauchen, erfolgte im August 1914 im Deutschen Reichstag, als die Abgeordneten die von der Kaiserlichen Regierung beantragten Kriegskredite unterstützten.  Wilhelm II., Kaiser von Gottes Gnaden und König von Preußen, äußerte dazu in seiner sogenannten Balkonrede vom 1. August 1914: „Ich kenne keine Parteien und auch keine Konfessionen mehr; wir sind heute alle deutsche Brüder und nur noch deutsche Brüder“ (Zitat im Buch S. 318).

Der nächste und bis heute folgenschwerste Fall der „Parlamentarischen Selbstentmächtigung“ eines rechtmäßig gewählten deutschen Parlaments begab sich im März 1933. Die am 5. März 1933 gerade einmal mit 43,9 Prozent der Wählerstimmen versehenen deutschen Faschisten, schafften es am 23. März 1933 mit der geforderten Zwei-Drittel-Mehrheit, das von ihrem Führer eingebrachte sogenannte Ermächtigungsgesetz vom Reichstag beschließen zu lassen und somit den Grundstein zur anschließenden folgenschweren Hitlerdiktatur zu legen.

Warum geht der Autor so ausführlich auf diese Vorgänge ein? In der bestehenden repräsentativen Demokratie unseres Landes ist der Bundestag das höchste gewählte Organ. Durch deren Repräsentanten sind unter Einhaltung des Grundgesetzes die gesetzlichen Regelungen zu beschließen und deren Einhaltung durch sie zu kontrollieren. Kommen wir zum oben zitierten Artikel Professor Möllers: Darin heißt es auf Seite 2: „Die gestern im Bundestag beschlossene Novellierung sieht im Kern die Feststellung einer Epidemischen Lage von nationaler Tragweite durch den Bundestag selbst (ursprünglich erstaunlicherweise durch das Bundesministerium für Gesundheit als Selbstermächtigung angelegt) vor“. Es stellt sich die Frage, warum innerhalb weniger Wochen eine derartige Aufregung entstand, die dazu führte, das genannte Gesetz innerhalb von 48 Stunden einstimmig im Bundestag durchzubringen und anschließend in der gleichen Art und Weise durch den Bundesrat und zur Unterschrift durch den Bundespräsidenten zu führen.

25.04.2021

Nach zwölf Monaten legte Professor Maurizio Bach, gleichfalls im Verfassungsblog, eine Kritik der Angst, diesmal vom Bundesinnenministerium entwickelt, veröffentlicht und betrieben, vor.[4] Zum gleichen Zeitpunkt äußerte sich auch Heribert Prantl zu den Folgen der unter den Ermächtigungen der Epidemischen Lage erlassenen gesetzlichen Regelungen.[5]

Aufmerksame und nachdenkliche Leser der von Ursula Neumann auch unter der Rubrik TROTZ und weiteren Rubriken subsumierten Reaktionen gewinnen durchaus den begründeten Eindruck, dass unter Nutzung diffamierender Begriffe wie Covidioten, Querdenkern oder einer aktuellen Pandemie der Ungeimpften einer inhaltlichen Auseinandersetzung bewusst aus dem Wege gegangen wird.

Die Aufarbeitung begründeter Hinweise in 2021 und 2022 beispielsweise von Heribert Prantl, im Verfassungsblock oder anderweitig vorgetragenen Positionen werden auch aktuell von den im Bundestag vertretenen Parteien und vom Bundeskanzler, seiner Regierungsumgebung und Ratgebern nicht berücksichtigt; Untersuchungskommissionen, wie von Prantl vorgeschlagen, sind offensichtlich nicht erwünscht.

Nach wie vor fehlen nach mehr als zwei Jahren wesentliche statistische Daten zur Lageeinschätzung der andauernden Epidemie in der Bundesrepublik und nach wie vor werden von Einrichtungen des Gesundheitsministeriums strittige Erlasse im Stil des kassierten Ermächtigungsgesetzes bundesweit zur verpflichteten Anwendung veröffentlicht (bestes Beispiel aktuell das Desaster zur Impfdauer).

Kommen wir zum zweiten im Rahmen der Rezension zu behandelnden Komplex. Er bezieht sich auf ein Spiegel-Interview vom 28.04.2020 mit Gerhart Baum, Ex-Innenminister und Verteidiger der Bürgerrechte.

Zitat: „Möglicherweise werden wir irgendwann vor die unbequeme Frage gestellt werden, ob wir mit den bisherigen Entscheidungen die wirtschaftliche Existenz unseres Gemeinwesens und die Handlungsfähigkeit des Staates aufs Spiel setzen.“

Vorab noch einige Erläuterungen

Ursula Neumanns Blog nimmt auch zu anderen Problematiken Stellung, die die „Epidemie nationaler Tragweite“ begleiten. Sie wird als „Pandemie“ bezeichnet, weil sie global präsent ist und wirkt. Sie überlagert die globale Finanzkrise von 2008 und die weltweite ökologische Krise, die bereits 1972 vom „Club of Rome“ auf die globale Tagesordnung gesetzt wurde.

Diese Faktoren berücksichtigt, erlangt die von Gerhart Baum (und natürlich nicht nur von ihm) gestellte Frage nach den aktuellen Geschäftsmodellen bzw. deren Überwindung für ein Gemeinwesen wie die Berliner Republik eine existenzielle Bedeutung.

Ursula Neumann, aktive Achtundsechzigerin und aus der Friedensbewegung kommend, ist die Bedeutung des aktuellen Momentums zweifellos klar. Sie konzentriert sich in diesem Zusammenhang auf die „Daseinsvorsorge“, aktuelle Entwicklungen dazu in den zurückliegenden Jahren, die Wirkungen auf die davon betroffenen Menschen und weist auf viele bisher offensichtlich bewusst nicht vorgenommene dringend notwendige Korrekturen hin. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass auf viele der notwendigen Korrekturen bereits im oben zitierten Papier des BMI vom April 2020 hingewiesen wurde.

In Hinsicht auf das Baum‘sche Interview am 29.03.2020 schreibt Ursula Neumann: Mal sehen, ob Corona imstande war, nicht nur der FDP einzubläuen, dass der Staat die Aufgabe der Daseinsvorsorge hat. Es lässt sich eben nicht alles durch Privatisierung, durch Wettbewerb, durch den Primat betriebswirtschaftlichen Denkens regeln, schon gar nicht besser regeln.

Dem ist zuzustimmen: Denn es wird in der aktuellen Situation oft nicht darauf hingewiesen, dass wir in einer Klassengesellschaft mit zunehmender Differenzierung leben, zwischen Armen und Reichen, Gebildeten und Ungebildeten, sogenannten Arbeitgebern und abhängig Ausgebeuteten wie beispielsweise saisonalen Arbeitskräften, Anhängern und Anhängerinnen unterschiedlicher Religionen, Weltanschauungen und Kulturen.

Dazu bemerkt Ursula Neumann mit Datum vom 18.04.2021 im Vorwort des vorliegenden Buches: „Es ist Zeit Brücken zu bauen. Eine klare Position zu haben und für sie zu werben, ist das eine. Aber (auch wenn es mir im Moment noch sehr, sehr schwerfällt): ich will VertreterInnen einer anderen Sicht mit Achtung begegnen, will hinhören, will darauf vertrauen, dass sie respektable Gründe für ihre Überzeugung haben.“

Als aktuelles Beispiel für diese Ansicht der Autorin möchte ich auf ihren Text vom 22.01.2022 hinweisen.[6] Es ist nicht möglich, die vielfältigen sachlich-kritischen Befunde einer aufgeklärten Bürgerrechtlerin in dieser Rezension darzustellen. Ich empfehle Interessenten unvoreingenommenes Lesen – es lohnt sich.

Drei kurze Bemerkungen aus dem besprochenen Buch zum Abschluss:

Erstens: Das beste Mittel gegen Verschwörungstheorie ist die Offenlegung von Fakten, also Transparenz (im vorliegenden Fall: bis hin zur Offenlegung von Verträgen zum Einkauf von Impfstoffen, Tabletten, Test-Kits usw. usf., ergänzt durch den Autor).

Zweitens: Aus dem Leitartikel der „Süddeutschen Zeitung“ vom 13. Februar 2021: Gekommen um zu bleiben: Geht alles gut, erreicht Deutschland im Spätherbst Herdenimmunität. Doch Corona ist deshalb nicht aus der Welt. Alles deutet auf eine dauerhafte Koexistenz von Mensch und Virus hin.

Drittens ein Zitat von Hans-Jürgen Papier, Ex-Präsident des Bundesverfassungsgerichts: Politik und Gerichte (in Zusammenarbeit mit der Bürgerschaft, der Rezensent) müssen die Corona-Eingriffe dringend aufarbeiten, das Vertrauen vieler Bürger sei schwer beschädigt. Der Ex-Präsident des Verfassungsgerichts stellt klar: „So etwas darf sich nicht wiederholen. Es wurde nicht generell, aber doch zeitweise ziemlich irrational, widersprüchlich, kopflos und im Übermaß reagiert“.[7]

 

Anmerkungen

[1] Ursula Neumann: Unerhört! Kommentare, Analysen und Einschätzungen zur Corona-Politik und Berichterstattung. Norderstedt: Books on Demand 2021.

[2] Vgl. https://ursula-neumann.de/zum-ersten-mai-das-buergerlied-von-1848-oder-ein-bisschen-vorher-immer-noch-aktuell/ (Zugriff hier und im Folgenden stets 04.04.2022).

[3] https://verfassungsblog.de/parlamentarische-selbstentmaechtigung-im-zeichen-des-virus/

[4] Vgl. https://verfassungsblog.de/angst-und-politik-in-der-pandemie/ – Das im Artikel von Professor Bach zitierte Papier des BMI vgl. 2020 BMI Szenarienpapier-covid19.pdf wurde inzwischen gelöscht, kann beim Verfasser der Rezension als PDF-Dokument angefragt werden.

[5] https://www.sueddeutsche.de/politik/prantls-blick-coronavirus-infektionsschutzgesetz-ausgnagssperren-1.5275601

[6] Vgl. https://ursula-neumann.de/mein-text-zur-karlsruher-corona-demo-am-22-1-22-nur-mut-grosse-ziele-sind-erreichbar/

[7] Ausführlicher dazu unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/hans-juergen-papier-freiheit-in-gefahr-erkaempftes-nicht-100.html

Frank Roßner, Jahrgang 1946, geboren in Pößneck, Thüringen, 1970 Dipl. Ing. für Elektrotechnik, 2009 Mitglied des HVD LV Thüringen, 2015 Vorstand HVD Landesverband Thüringen, Mitglied der HAD

Der Artikel ist auch als zitierfähiges PDF verfügbar.

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