Natasha A. Kelly: Rassismus

 

 

Autorin: Natasha A. Kelly
Erschienen: Atrium, Zürich, 2021
Seiten: 130
Preis: 9,00 €
ISBN: 978-3-85535-114-5
Rezensentin: Astrid Hackel

 

 

 

 

Rassismus ist Teil des Systems

Seit den Protesten der Black-Lives-Matters-Bewegung im Sommer 2020 gibt es auch in Deutschland ein neues Problembewusstsein für Rassismus. Zugleich scheint sich hinsichtlich einer (selbst)kritischen Auseinandersetzung mit den Wurzeln, Formen und Funktionen rassistischer Positionen in der deutschen Gesellschaft jedoch wenig zu bewegen. Das hat mit Bequemlichkeit und Unsicherheit, aber auch mit Feigheit und Schuldabwehr zu tun – und damit, wer wie und mit wem über Rassismus spricht: auf der Straße und im Büro, in Zeitungen, Blogs und Talkshows, im Hörsaal und im Klassenzimmer, im Theater, auf dem Bau und in der Kantine. Die Reaktionen der „Mainstream-Medien“ (9) auf die weltweiten Proteste nach der Ermordung von George Floyd etwa beschreibt die Kommunikationssoziologin, Kuratorin und Publizistin Natasha A. Kelly in ihrem im Frühjahr erschienenen Buch Rassismus. Strukturelle Probleme brauchen strukturelle Lösungen! wie folgt: „Sie versäumten es, über die weiße Position hinauszugehen und das Leben Schwarzer Menschen getreu dem Motto ‚Black Lives Matter‘ tatsächlich in den Mittelpunkt zu rücken. Stattdessen kam ihre Haltung – bewusst oder unbewusst – dem Ruf nach ‚All Lives Matter‘ gleich.“[1] (9) Dass kein vernünftig denkender Mensch diesem universellen moralischen Prinzip widersprechen dürfte, ist klar. Was an dieser Verallgemeinerung indes problematisch ist, hat David Theo Goldberg schon 2015 auf den Punkt gebracht: Sie lenkt davon ab, dass das Leben Schwarzer Menschen in der US-amerikanischen Gesellschaft – und eben nicht nur dort – oft als weniger wichtig erachtet wird.[2] So werden Schwarze Menschen deutlich häufiger Opfer tödlicher Polizeigewalt als an andere Bevölkerungsgruppen. Der Ruf „Black Lives Matter” weist auf den schmerzlichen Gegensatz zu „allen Leben“ hin, den ebenjener universelle Anspruch in der Realität häufig negiert und kaschiert.

Was Natasha Kelly an der Berichterstattung zur BLM-Bewegung störte, war ganz im Sinne einer solchen Ausblendung, dass weder das Wissen und die Einschätzung Schwarzer Expert*innen aus Wissenschaft und Gesellschaft gefragt waren, noch Schwarze Subjektpositionen, die sich von der ihnen zugewiesenen Opferrolle emanzipiert hatten; auch Schwarze deutsche Geschichte war kein Thema in diesem Zusammenhang. Infolge eines sicherlich gut gemeinten, jedoch schlicht falschen und verkürzten Rassismusverständnisses, so die Autorin zu Beginn ihrer pointierten Analyse, wiederholte sich ein allzu bekanntes Muster: „[D]ie gesellschaftliche Position von Schwarzen Menschen in Deutschland [wurde] schlichtweg unsichtbar gemacht.“ (9) Und diese Praxis der Ausblendung und Ignoranz von Meinungen, Geschichte(n) und Erfahrungen Schwarzer Menschen ist Teil des strukturellen Problems, das „sich in alle Ebenen der Gesellschaft eingeschrieben hat“ (14). Sie prägt wirkmächtige Institutionen wie Familie und Schule, Polizei und Justiz: zentrale Orte, die Zugänge schaffen und Ausschlüsse produzieren, die Wissen hervorbringen und verbreiten, Wertvorstellungen und habituelles Verhalten prägen, Auffassungen von Recht und Ordnung konstituieren, (Vor-)Annahmen und Vorurteile nähren sowie spezifische Perspektiven auf eine Welt eröffnen, die sich durch weiße Dominanz und rassistische Unterdrückung auszeichnet (vgl. 103).

Charakteristisch für das zu kurz greifende Verständnis von Rassismus ist, so Natasha A. Kelly, dass er im öffentlichen Diskurs oft auf die Erfahrung Einzelner und ohnehin auf ‚Betroffene‘ reduziert wird – ohne den Fokus auf die Täter*innen und die Rassismus (re)produzierenden gesellschaftlichen Strukturen zu richten. Rassismus dürfe jedoch nicht „als eindimensionales Konstrukt betrachtet werden. Wir befinden uns nämlich in einer komplexen Machtmatrix und nicht in einem linearen Machtgebilde.“ (12) Und um dies zu verstehen, sei eine strukturelle Analyse insbesondere von Anti-Schwarzem Rassismus, auf den Kelly ihr Hauptaugenmerk legt, vonnöten.[3] Ziel ihres Buches ist es, einen Beitrag zur Professionalisierung der Antirassismusdebatte in Deutschland zu leisten (14), denn Rassismus ist kein exklusiv rechtes und rechtsextremes Phänomen – er ist das Problem aller und jedes einzelnen weißen Menschen und er ist Teil des Systems, in dem er lebt. Dieses System ist mehrheitlich weiß und marginalisiert Schwarzes Wissen.

In ihrem Buch benennt Natasha A. eine Reihe von Fragen und Problemen im Zusammenhang rassistischer Gesellschaftsstrukturen und verweist auch auf alternative Deutungs-, Interventions- und Handlungsmöglichkeiten. Knapp und anschaulich skizziert sie die Geschichte deutschen Kolonialismus und Rassismus einschließlich der darauf Bezug nehmenden Erinnerungsdiskurse und -derivate (Kapitel 1 und 2), nimmt den institutionalisierten Rassismus in Hochschulen und Schulen ins Visier (Kapitel 3), in Erkenntnissystemen und im (alltäglichen) Sprachgebrauch (Kapitel 4) sowie selbstredend bei der Polizei (Kapitel 5).

Einführend legt die Autorin ihr Verständnis von Rassismus als einer komplexen Herrschaftsstruktur dar. Kelly definiert Rassismus als „spezifische Form der Diskriminierung, die sich aus institutionellem Rassismus, internalisiertem Rassismus, interpersonalem Rassismus und Alltagsrassismus speist. Auf diesen Ebenen werden Machtverhältnisse geschaffen, die die gesellschaftlichen Strukturen und sogar globale Hierarchien zwischen Ländern und zwischen Kontinenten herstellen. Der Begriff ‚struktureller Rassismus‘ bezeichnet dementsprechend rassistische Machtmechanismen, die in Individuen, Gesellschaften oder Institutionen verankert sind und diese negativ beeinflussen. Auch wenn struktureller Rassismus und institutioneller Rassismus häufig synonym verwendet werden, darf der strukturelle Rassismus weder auf seine institutionelle noch auf seine individuelle Ebene reduziert werden.“ (10)

Selbstverständlich gebe es neben Anti-Schwarzem Rassismus auch andere Rassismen wie antimuslimischen Rassismus oder Rassismus gegen Rom*nja und Sinti*zze; auch Antisemitismus werde häufig dazugezählt (10). Was es jedoch definitiv nicht gebe, ist Rassismus gegen weiße Menschen, denn „dazu müssten wir in der Geschichte zurückreisen und die Machtverhältnisse umkehren, weiße Menschen unterdrücken, sie ihrer Subjektivität berauben und an ihrer persönlichen und kollektiven Entwicklung hindern.“ (10) Weißsein bezieht sich dabei nicht einfach auf die Hautfarbe eines Menschen, sondern ist als eine sozialhistorisch bedingte, normstiftende Denkfigur zu betrachten, die vielfach unbewusst wirkt und unsichtbar bleibt. Charles W. Mills prägte dafür den Begriff der „Farbenblindheit“. Er konstatierte, dass auch derjenige von dieser Welt profitiere, der sie als weißer Mensch ablehne, denn es handele sich um eine „social construction, a set of positions in a global structure, for which race will be an assigned category that influences the socialization one receives, the life-world, in which one moves, the experiences one has, the worldview one develops – in short, in an eminently recognizable and philosophically respectable phrase, one’s being and consciousness.”[4]

Hinzu kommt, dass Rassismus oft mit weiteren Formen der Ungleichbehandlung, etwa aufgrund von Geschlecht, Klasse oder Begehren, verflochten ist, wofür Kimberlé Crenshaw den Begriff Intersektionalität geprägt hat: „So sind Schwarze Frauen* etwa sowohl von Rassismus als auch von Sexismus betroffen, die zusammenwirken und eine spezifische Form der Mehrfachdiskriminierung hervorbringen“ (11). In diesem Zusammenhang legt Kelly auch ihre eigene Perspektive als „Schwarze heterosexuelle cis Frau“ offen, „die ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland verortet, Schul- und Wissenschaftssysteme mit allen strukturellen Herausforderungen durchlaufen hat und nicht nur am eigenen Leib Rassismus und Sexismus erlebt und überlebt hat, sondern auch dazu geforscht und gelehrt hat“.[5] (11) Gerade die Tatsache, dass Kelly als Schwarze Frau zu Anti/Rassismus (und Sexismus) forscht und lehrt, ist keine Selbstverständlichkeit. Wie sehr auch Schwarze Akademiker*innen Ressentiments, rassistischen Angriffen und Falschbehauptungen ausgesetzt sind, zeigte Anfang des Jahres der Fall der Professorin Maisha-Maureen Auma, die sich in einem Interview mit dem Tagesspiegel zum strukturellen Rassismus an deutschen Hochschulen und zur Unterrepräsentanz Schwarzer Akademiker*innen geäußert hatte und daraufhin zahlreichen Beschimpfungen, unter anderem seitens der AfD-Fraktion im Landtag von Sachsen-Anhalt, ausgesetzt war.  Solchen Attacken ist – wie es in einer der vielen Solidaritätserklärungen mit Maisha-Maureen Auma heißt – nicht zuletzt durch konkrete hochschulpolitische Maßnahmen zu begegnen, „sowohl für eine akademische Förderung rassistisch marginalisierter Wissenschaftler*innen als auch für ihren Schutz vor rassistisch geprägten Angriffen.“[6]

Koloniale Kontinuitäten

Im Kapitel „Rassismus und Geschichte“ zeichnet Kelly die komplexen Verbindungen von Rassismus und Kolonialismus bzw. einer von rassistischen Vorstellungen geprägten, bis in die Gegenwart hineinreichenden „Kolonialität“ (Grosfoguel 2008) nach, die „Körperbilder, Wissen und Wissensproduktion sowie die Machtstrukturen unserer Gesellschaft“ beeinflusst – und definiert, „wer oder was ‚deutsch‘ ist.“ (15) Sie kritisiert eine Wissenskultur, die Vielfalt nicht als Bereicherung begreift und deshalb auf Gegenentwürfe zum weißen Eurozentrismus verzichtet (vgl. 47); sie wirft Schlaglichter auf den Umgang mit dem deutschen Kolonialismus und seinen Folgen, geht auf die soziale Realität Schwarzer Menschen im deutschen Kaiserreich ein, denen ihr Deutschsein aberkannt wurde, eben weil sie nicht weiß oder nicht weiß genug waren, und spannt von hier aus einen Bogen bis zu den pogromartigen Ausschreitungen in Chemnitz 2018. Der gewaltsame Tod Daniel Hilligs konnte durch das Verschweigen seiner Identität als Schwarzer Deutscher in der medialen Berichterstattung von der rechten Szene als Mord an einem weißen Deutschen instrumentalisiert und so als Beleg für einen vermeintlichen Rassismus gegen weiße Menschen missbraucht werden (24f.).

Kelly geht auch auf die marginale bzw. verzerrte Perspektivierung deutscher bzw. europäischer Kolonialgeschichte in den Lehrplänen der Schulen ein, auf die unzureichende Auseinandersetzung mit der zweifelhaften Herkunft von Objekten im Berliner Humboldt Forum, auf die Ignoranz gegenüber Initiativen wie dem Komitee für ein afrikanisches Denkmal in Berlin (KADIB), das seit fünfzehn Jahren erfolglos eine Gedenkstätte für die Schwarzen Opfer des Kolonialismus, des Nationalsozialismus und der rassistischen Gewalt der Nachkriegszeit fordert, und kontrastiert diese exemplarischen Versäumnisse mit den neokolonialen Freihandelsabkommen, mit der Abhängigkeit von der so genannten Entwicklungshilfe, mit den gigantischen Profiten durch Waffenexporte und dem massenhaften Sterben von Afrikaner*innen beim Überqueren des Mittelmeers (17).

In pointierten Exkursen zeigt Kelly auf, wie tief rassistisches Denken in der deutschen (Geistes-)Geschichte verankert ist und welchen Anteil akademische Disziplinen wie Anthropologie, Eugenik, Sexualwissenschaft und Philosophie an der Theoretisierung und Materialisierung von ‚Rasse‘ als biologischer Kategorie hatten.

Über die Rolle der Aufklärung, insbesondere die Immanuel Kants, ist in der öffentlichen Debatte viel gerungen und gestritten worden. Kelly positioniert sich hier eindeutig. Auch wenn sich Kant ab Mitte der 1790er Jahre von seinen frühen Schriften distanziert habe, so sei er doch maßgeblich an der Konstruktion und Verbreitung rassifizierender Unterscheidungen beteiligt gewesen – wie später unter anderem auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Mediziner wie Rudolf Virchow und Franz Joseph Gall. Die mit Kant in Verbindung gebrachte Forderung nach Menschenrechten als bedeutender Schritt auf dem Weg zu einer humanen Gesellschaft sei insofern fragwürdig, als sie weiße Menschen als Rechteinhaber*innen privilegiert und Schwarze Menschen von diesen Rechten ausschließt –  und das, obgleich Kant, wie die Herausgeber des interdisziplinären Sammelbands Auf den Spuren von Anton Wilhelm Amo schreiben, die Schriften des Schwarzen Aufklärers Anton Wilhelm Amo kannte, der lange vor ihm die Universalität der menschlichen Vernunft proklamiert und Menschenrechte für ausnahmslos alle Menschen gefordert hatte (vgl. Kelly 20f.).[7]

Arbeit am Bedeutungswandel

Es mag zunächst irritierend und befremdlich anmuten, dass Kelly im Einklang mit allen Schwarzen Communities, wie sie schreibt (33), den Vorstoß der Grünen, das Wort „Rasse“ aus dem Grundgesetz zu streichen, ablehnt – schließlich besteht kein Zweifel darüber, dass es so etwas wie unterschiedliche Menschenrassen nicht gibt und jede Einteilung, ja der Begriff „Rasse“ an sich rassistisch ist. Folglich hat er im Grundgesetz nichts verloren. Das sehe die Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland (ISD) laut Kelly genauso; sie moniert allerdings, dass die Debatte ausschließlich von weißen Expert*innen geführt wurde. Entscheidend für die Ablehnung sei jedoch ein inhaltlicher Widerspruch: ein gesellschaftlich notwendiger, im angloamerikanischen Raum längst vollzogener racial turn: ein Bedeutungswandel weg von der (pseudo-)biologischen Lesart der Kategorie „Rasse“ hin zur Sichtbarmachung der sozialen Dimension von race im Sinne einer agency, also der „Fähigkeit, für sich selbst einstehen und sprechen zu können“ (34).

In Deutschland sei diese Wende, wie Kelly darlegt, in den 1980er Jahren durch die US-amerikanische Gastprofessorin Audre Lorde angestoßen worden, die damals längere Zeit in Westberlin lebte und lehrte. Zeichen der einsetzenden ‚rassischen Wende‘ waren unter anderem die Ablösung rassistischer Fremdbezeichnungen durch Selbstbezeichnungen wie Schwarze Deutsche und Afrodeutsche, die Tatsache, dass subjektive Erzählungen Schwarzer deutscher Geschichte an die Stelle von Opfernarrativen traten sowie die Durchführung rassismuskritischer und antirassistischer Workshops und Tagungen, „die die politische Landschaft langsam veränderten.“ (36)

Der racial turn, so Kelly weiter, sei gegenwärtig voll im Gange und müsse „zwingend vollzogen werden.“ (36) Er ist jedoch untrennbar mit der Bedeutungsgeschichte und dem historischen Kontext von ‚Rasse‘ verbunden. Die Streichung des Wortes aus dem Grundgesetz käme einem radikalen Eingriff in die Geschichte gleich, die es doch gerade zu diskursivieren gilt. „Denn aufgrund der Langlebigkeit des Rassismus hat die biologische Kategorie ‚Rasse‘ eine soziale Realität hervorgebracht, die auch in Deutschland über die Jahrhunderte hinweg gewachsen und zum Grundmoment Schwarzer deutscher Geschichte geworden ist“ (34). Die (kritische) Bezugnahme auf den Begriff ‚Rasse‘ ist für die anhaltende Problematisierung und Anerkennung der daraus resultierenden sozialen Realität und ihrer Genese entscheidend. Angesichts der untrennbar mit dem ‚Rasse‘-Begriff verbundenen Kämpfe, die Schwarze Menschen in Deutschland seit der Kolonialisierung um die Sichtbarmachung ihrer Geschichte führen, sei es schlicht kontraproduktiv, das Wort aus dem Grundgesetz zu streichen.

Eine politische Aufgabe sieht Kelly folglich darin, „die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung von Race als sozialer Kategorie zu lenken und nicht auf die veraltete biologische Lesart von ‚Rasse‘.“ (35) Infolge des dadurch motivierten racial turn könnten tradierte Gegensätze wie „weiße Vorherrschaft/rassistische Unterdrückung, Macht/Ohnmacht, Zugänge/Ausschlüsse etc. sichtbar gemacht und ihre strukturellen Auswirkungen auf gesellschaftliche Prozesse erkannt werden.“ Diese Identifizierung sei wichtig, um solche „Oppositionen infrage zu stellen sowie das damit einhergehende Wissen zu dekonstruieren und kritisch zu ergänzen.“ (35) Gerade weil das (Allgemein-)Wissen weißer Deutscher über Schwarze Menschen teils noch aus der Kolonialzeit stammt, dürfe der ‚Rasse‘-Begriff nicht ersetzt werden. Vielmehr müsse „seine Bedeutungsgeschichte als Angelpunkt der notwendigen gesellschaftlichen Veränderung stehen bleib[en], damit seine soziale Dimension im Kampf gegen Rassismus anerkannt und dementsprechend gestärkt wird.“ (37) Rassismus verschwinde nicht durch die Streichung eines Wortes – und der Gedanke, es durch das Wort „rassistisch“ zu ersetzen, bedeute eine unzutreffende Verkürzung, die die Debatte insgesamt kennzeichne. Kelly, die sich der Widersprüchlichkeit des Festhaltens am ‚Rasse‘-Begriff selbstverständlich bewusst ist, argumentiert differenziert und geht auch auf die juristische Dimension des Problems ein: Als Rechtsbegriff sei er wichtig, um antidiskriminierungsrechtlich gegen Anti-Schwarzen Rassismus vorgehen zu können, da „der juristische Rassebegriff Menschen nicht in biologische ‚Rassen‘ einordnet, wie  viele der Kritiker:innen meinen, sondern im Gegenteil Menschen davor schützt, nach biologischen ‚Rassen‘ kategorisiert zu werden.“ (41)

Kellys abschließendes Fazit zum Vorstoß, den ‚Rasse‘-Begriff aus dem Grundgesetz zu streichen, ist eindeutig: „Nur indem wir eine Wissenskultur schaffen, die Gegenentwürfe zum weißen Eurozentrismus bietet, können Anti-Schwarzer Rassismus im Speziellen und Diskriminierungen im Allgemeinen nachhaltig abgeschafft werden. Allerdings kommen die Antirassismusforschung und auch der (bisher) rechtlich festgeschriebene Schutz vor Rassismus im Grundgesetz ohne die Verwendung des Rassebegriffs nur schwer aus. Streng genommen kann ohne „Rasse“ als Endprodukt des Rassismus gar nicht über strukturellen Rassismus gesprochen werden. Das einzig Produktive an dieser Debatte ist, dass sie erlaubt, detailliert auf die Strukturen des Rassismus zu blicken.“ (47) Und so verfährt Kelly in den folgenden Kapiteln mit besonderem Fokus auf das Bildungs- und Wissenschaftssystem, auf Sprachstrukturen und ihre wirklichkeitskonstituierende Funktion sowie auf die Polizei. Auch hier sei es im Sinne des empowerment wichtig, dass die von Rassismus betroffenen Personen selbst über ihre Erfahrungen sprechen, ein Ansatz, der in Berlin 2003 zur Gründung der Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP) geführt hat (vgl. 89). Kelly schreibt über Racial Profiling – die visuell motivierte, grundlose Verdächtigung von Schwarzen Menschen und People of Color – und über rassistische Polizeigewalt bis hin zum bis heute nicht aufgeklärten Mord an Oury Jalloh 2005 auf einem Dessauer Polizeirevier. Dass „es […] der Wahrheitsfindung nicht zuträglich [ist], wenn die Polizei gegen sich selbst Ermittlungen durchführt“ (95), haben die langen Jahre seit Jallohs Tod, in denen an der absurden Selbstmordthese festgehalten und die Schuld der Täter systematisch vertuscht wurde, deutlich gemacht: Die Aufklärung des Falls wurde strukturell verhindert, was wiederum kein Einzelfall ist und wofür der Begriff „Oury-Jalloh-Komplex“ geprägt wurde. Dies zeige, so Kelly weiter, dass der auf die Schwarzen Kämpfe gegen Versklavung zurückgehende Slogan „Defund the Police!“ auch in Deutschland seine Berechtigung habe (96), wobei es nicht nur um weitreichende Reformen der Polizei als Institution gehe, „sondern insgesamt um die Neuordnung der Gesellschaft.“ (96) Die Fülle der rassistischen Vorfälle bei der Polizei gibt dieser Forderung recht. Und dass neben Kellys Streitschrift, die sich auf eine Vielzahl von Fakten und Quellen stützt sowie weiterführende Literaturempfehlungen enthält, allein in den letzten drei Jahren Bücher mit einer ähnlichen Ausrichtung erschienen sind – etwa Deutschland Schwarz Weiß: Der alltägliche Rassismus von Noah Sow (2018), Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten von Alice Hasters (2019) und Der weiße Fleck: Eine Anleitung zu antirassistischem Denken von Mohamed Amjahid (2021) – macht Hoffnung.

Kelly schließt ihre Analyse mit einigen Überlegungen dazu, was praktisch gegen Rassismus getan werden könne: „Ich glaube, dass es wichtig ist, dass jede Person bei sich selbst anfängt: Wo sind deine Privilegien? In welcher Form hast du selbst den Rassismus internalisiert? Überprüfe deine eigenen Sehgewohnheiten, Denkmuster und Handlungsmechanismen. Nur indem wir bei uns selbst anfangen und lernen, unangenehme Dinge anzusprechen – und dazu gehört auch, ‚Rasse‘ und die dazugehörige Geschichte als wichtigen Teil deutscher Geschichte anzuerkennen –, werden wir es schaffen, das dritte Jahrtausend zu einem besseren Zeitalter zu machen – für alle!“

Kellys Buch ist eine Aufforderung, sich mit den eigenen – oft unbewussten – Vorurteilen auseinanderzusetzen, mit dem Alltagsrassismus in der eigenen Umgebung und mit gesellschaftlich-struktureller Ungleichbehandlung von Menschen aufgrund ihres Äußeren, ihrer Hautfarbe, Kultur, Herkunft oder Weltanschauung.

Auch wenn die Leser*in nicht jede ihrer Thesen teilen muss und die Argumentation an manchen Stellen hätte differenzierter sein können, so ist diese Streitschrift doch eine wichtige und dringend notwendige Intervention in die gesellschaftlichen Rassismusdebatten. Sie regt dazu an, über die strukturellen Dimensionen von Rassismus und seine weitreichenden Ursachen und Implikationen nachzudenken und sie zu verstehen. Kellys Buch macht deutlich, dass diese Auseinandersetzung eine sowohl individuelle als auch gesellschaftliche Aufgabe ist. Nur wenn man sich dieser Aufgabe annimmt, lassen sich Veränderungen bewirken.

 

Anmerkungen

[1] Die Kursivierung des Begriffes weiß verdeutlicht, dass es sich dabei keineswegs um eine ‚objektive‘ Kennzeichnung handelt, sondern um eine machtvolle, privilegierte Stellung. In einer ausführlichen Fußnote argumentiert die Autorin, dass „[d]er Begriff „weiß“ […] eine historisch unmarkierte Position [bezeichnet], die mit Privilegien ausgestattet ist und die unsichtbar herrschende Norm in Deutschland darstellt. Durch die Benennung dieser Position werden die rassistischen Strukturen und Machtverhältnisse der Gesellschaft sichtbar. Im Gegensatz zu „Schwarz“ wird der Begriff im Schriftbild kursiv gesetzt, da es sich um keine Selbstbezeichnung handelt (Piesche / Arndt 2011).“ (107) „Schwarz“ wiederum wird groß geschrieben, um zu verdeutlichen, dass es sich hier um einen politischen Begriff handelt, der keine Hautfarbe bezeichnet, sondern auf Diskriminierungserfahrungen Schwarzer Menschen verweist.

[2] David Theo Goldberg: Why “Black Lives Matter”. Because All Lives Don’t Matter in America. Online unter: https://www.huffpost.com/entry/why-black-lives-matter_b_8191424 (Zugriff: 03.09.2021).

[3] Diese Forderung ist, wie Natasha A. Kelly selbst darlegt, nicht neu (11), sondern lässt sich auf den Beginn der zweiten Welle der Schwarzen Bewegung in Deutschland Mitte der 1980er Jahre zurückführen. Solange sie allerdings nicht gehört wird, muss sie wieder und wieder mit Nachdruck vorgetragen und begründet werden.

[4] Charles W. Mills: Preface. In: Ders.: Blackness Visible: Essays on philosophy and race. New York 1998, S. 11 – 20, hier S. 15. Hervorhebung im Original. Denn es handele sich um eine „soziale Konstruktion, eine Reihe von Positionen in einer globalen Struktur, auf die sich race als Kategorie bezieht, die die eigene Sozialisierung betrifft, die Lebenswelt, in der man sich bewegt, die Erfahrungen, die man macht, die Weltanschauung, die man entwickelt – kurz: in einer eminent wiedererkennbaren und philosophisch respektablen Formulierung, die das eigene Sein und Bewusstsein beeinflusst.“ (Ü.d.A.)

[5] Cis bzw. cisgeschlechtlich ist eine Bezeichnung für Menschen, deren (soziale) Geschlechtsidentität mit dem biologischen Geschlecht übereinstimmt, das ihnen bei ihrer Geburt zugeschrieben wurde.

[6] Stellungnahme des ZtG zu den rassistischen Angriffen auf Prof. Maisha-Maureen Auma. Online unter: https://www.gender.hu-berlin.de/de/diverses/2021/stellungnahme_auma (Zugriff: 13.12.2021).

[7] Vgl. Stefan Knauß / Louis Wolfradt / Tim Hofmann / Jens Eberhard: Anton Wilhelm Amo und die interkulturelle Philosophie. Einführende Überlegungen. In: Dies. (Hrsg.): Auf den Spuren von Anton Wilhelm Amo. Philosophie und der Ruf nach Interkulturalität. Bielefeld 2021, S. 9‑22, hier S. 16.

Dr. Astrid Hackel ist Referentin für Forschung und Bildung an der Humanistischen Akademie Berlin-Brandenburg. Sie studierte Literatur- und Theaterwissenschaft sowie Museumsmanagement und -kommunikation in Berlin und Toulouse und war Mitglied im Graduiertenkolleg „Geschlecht als Wissenskategorie“ sowie im DFG-Forschungsnetzwerk „Aktionskunst jenseits des Eisernen Vorhangs“.

Die Rezension ist auch als zitierfähiges PDF verfügbar.

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