Florian Greiner: Die Entdeckung des Sterbens

Autor: Florian Greiner
Titel: Die Entdeckung des Sterbens
Verlag: De Gruyter Oldenburg 2023
Seiten: 676 Seiten
Preis: 79,95 €
ISBN: 978-3-11-079799-2
Rezensent: Horst Groschopp

 

 

 

Die Entdeckung des Sterbens

Es ist ein dickes Buch, leichter zu handhaben für Leute mit guten Augen. Um die Publikation trotz eines absatzsparenden Satzspiegels von 11,5 mal 19,5 cm unter 700 Seiten zu halten, entschloss sich nämlich der Verlag zu einer 9-Punkt-Schriftgröße mit Durchschuss für den Text und bei den über 3.100 Fußnoten zu einer noch kleineren Type. Das ist schon sehr anstrengend, auch wenn hilfreiche optische Unterstützungen in Form entsprechender Brillengläser zur Verfügung stehen.

Was die rein editorische Beschränkung in den Größenmaßen der Schrift allerdings als Publikation bietet, ist nicht mehr und nicht weniger als ein (inhaltlich gesehen) gut lesbares Kompendium zur Kultur des Sterbens zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Umgang mit COVID 19. Beschrieben werden die objektiven Umstände und subjektiven Verhaltensweisen, die Hilfsorganisationen und kulturellen Bewegungen, die individuellen Wertvorstellungen und gesellschaftlichen wie politischen Eingriffe mit ihren widersprüchlichen Folgen, die theoretischen Begleitungen und künstlerischen Abbildungen – und zahlreiche erhellende Anekdoten zu den weiblichen wie männlichen Protagonisten auf den Bühnen des Lebens, die sich mit Sterben beschäftigen, den entsprechenden Wissenschaften und Glaubensvorstellungen, wobei die spannendsten Geschichten diejenigen sind, in denen an Wissenschaftliches geglaubt wird, das sich dann aber als zeithistorisch wohlbegründete, aber dennoch erfundene ‚Ausdenkung‘ herausstellt, wie etwa die These von der Verdrängung des Todes in der Moderne, dessen „Tabuisierung“. (Vgl. S. 65 ff. die Kritik an den Schriften von Philippe Ariès)

„Als Arbeitsdefinition für den Zweck dieser Studie wird ‚Sterben‘ als die Phase des Übergangs zum Tod bestimmt, womit konkret der Zeitraum am Ende des Lebens gemeint ist, in dem ein Schwerkranker keine Aussicht auf Heilung mehr hat.“ (S. 6) Wie sehr sich hier die Sichtweisen betroffener Personen von denen beobachtender unterscheiden, verdeutlicht Greiner sehr anschaulich anhand des Sterbens von Elisabeth Kübler-Ross, der wohl bedeutendsten Sterbeforscherin des 20. Jahrhunderts, die anders stirbt als sie gelehrt hat.

Ohne digitale Datenspeicherung hätte dieses hervorragende Buch wohl nie entstehen können, wobei es trotz der gesammelten und gespeicherten Fülle an Fakten eben immer noch der ordnenden Übersicht des Autors bedarf, den Stoff zu bündeln, sich und die Leserschaft von Wiederholungen zu schützen, und weder die Literatur- (die Liste umfasst mehr als sechzig Seiten) noch die Internetquellen über die Maße zu beanspruchen. Davor schützt den Autor Dokumentenanalyse samt gepflegter Quellenkritik.

Greiner arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte Heidelberg. Zugleich unterrichtet er als Privatdozent am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Augsburg. Eines seiner Forschungsthemen breitet das vorliegende Buch aus, die Kultur-, Medizin- und Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts bezogen auf das Thema Sterben. Es wird deutlich, dass immer mehr Wissenschaften außerhalb der Medizin hier forschend tätig werden, so die Soziologie, Anthropologie, Ethnologie, Ethik, Philosophie, Theologie sowie die Literatur- und die Rechtswissenschaften.

Der Autor legt seine detaillierten Archivstudien offen. Dazu zählen zahlreiche Privat- und Organisationsarchive, darunter auch das des Humanistischen Verbandes Deutschlands (HVD), wo ihn meine ehemalige Kollegin Sabine Schermele, der er (wie vielen anderen) ausdrücklich dankt (S. 586), 2018 einführte in eine damals ungeordnete Galerie (Handapparat) von Folien, VHS-Kassetten, Presseausschnittsammlungen usw. (vgl. S. 592) Dass dies alles noch da ist, konnte inzwischen eruiert werden und es wird sicher dermaleinst im HVD-Archiv Platz finden. In diesem Zusammenhang hat Greiner auch die Medizinethikerin Gita Neumann interviewt und verweist auf sie. (vgl. besonders S. 335)

Der Untertitel des Buches konkretisiert den Raum seines Gegenstandes: „Das menschliche Lebensende in beiden deutschen Staaten nach 1945“. Es ist für einen ostdeutsch sozialisierten Kulturwissenschaftler wohltuend, dass der Autor hier nicht nur etwas verspricht, sondern es auch hält und einen sachlichen Vergleich der deutsch-deutschen Ent- und Verwicklungen liefert und dabei manche Vorurteile widerlegt und Verurteilungen geraderückt, die beiderseits geschehen und nach dem Beitritt der DDR zum Geltungsgebiet des Grundgesetzes aufgewärmt wurden, gerade im Verteilungskampf akademischer Stellen. Besonders gefreut hat den Rezensenten die mehrfache Würdigung des Medizinethikers Uwe Körner. Hier hat der oben erwähnte HVD 1996 bis zur Jahrtausendwende in seinem Dortmunder „Humanitas“-Verlag verdienstvollerweise an die vierzig Hefte seiner „Berliner Medizinethischen Schriften“ als „Beiträge zu ethischen und rechtlichen Fragen der Medizin“ gedruckt.

Greiner zeigt, wie sehr das Sterben nach 1945 zum Gegenstand religiöser, politischer und ökonomischer Deutungskämpfe wurde. Er belegt an vielen Vorgängen seine Hauptthese, die auch im Buchtitel zum Ausdruck kommt, nämlich die „Entdeckung des Sterbens“. Die permanente Todesnähe in zwei Weltkriegen mit ihren Bombenabwürfen auf die Zivilbevölkerung und durch mehrere Epidemien führte zur Zufälligkeit und Altersunabhängigkeit des Sterbens. „Der Massentod hinterließ … kollektive Traumatisierungen und sorgte wesentlich dafür, dass sich nach 1945 der Wunsch nach Normalität, gerade auch mit Blick auf das Lebensende, zu einem zentralen erfahrungsgeschichtlichen Merkmal entwickelte.“ (S. 59) Der „natürliche Tod“ konnte in Deutschland und weiten Teilen Europas zu einem Thema werden.

Kirchen, Pharmaindustrie, Gesundheitspolitik, Medizin, Sozialwissenschaften, Massenmedien und neue zivilgesellschaftliche Organisationen wie die Hospiz- und Sterbehilfebewegung stritten über das Lebensende. Greiner gibt Einblick in deren Geschichte und Ambitionen, etwa denen der „Deutschen Gesellschaft für humanes Sterben“ (DGHS), der „Deutschen AIDS-Hilfe“ (DAH) und weiterer Verbände, inklusive diverser Skandale (z.B. Atrott) und deren massenmediale Vermarktung.

Der Autor zeigt Abhängigkeiten auf, etwa zwischen Entwicklungen in der Schulmedizin, der „Apparate-Medizin“, der Kritik daran und den Beiträgen bestimmter Fernsehsendungen wie der Schwarzwaldklinik zum öffentlichen Bewusstsein und den dort sich ändernden Wertvorstellungen, zwischen Altenpflege, Krankenhausseelsorge, Patientenverfügungen, Sterbebegleitung und Sterbehilfe. Er versteht es, Tendenzen in diesen Bereichen zu verbinden mit unmittelbar damit zusammenhängenden Fragen der Todfeststellung (Hirntod), der Organtransplantation und der Palliativmedizin. „Sind Sterbekultur und menschliche ‚Sterbewelten‘ immer Konstrukte, so ist das Lebensende ein Seismograf für sich wandelnde normative Konventionen, für politische Entwicklungen, kulturelle Sinngebung oder soziale Probleme.“ (S. 3) – Aus dem Thema folgerten angrenzende, die der Autor kursorisch streift, die aber engverflochten sind – die Trauer-, Friedhofs- und Bestattungskultur.

Da Greiner juristische und administrative Veränderungen in seinem Themenbereich untersucht, kann er nicht nur Widersprüche herausarbeiten, sondern auf objektive Hemmschwellen verweisen, wie auf diese: „Jedoch darf nicht übersehen werden, dass die bis heute in Deutschland spürbare Trennung von Hospizbewegung und Palliativmedizin eine Folge der unterschiedlichen ministeriellen Förderung durch BMA (Pflegeversicherung) beziehungsweise BMG (Krankenversicherung) in den konstitutiven Jahren nach 1990 ist. Während in anderen Ländern ‚palliativ care‘ und Hospizidee aufgrund der letztlich identischen inhaltlichen Ansätze stets Hand in Hand gehen, hemmte – wie die Ärzte Zeitung 1995 konstatierte – das ‚Konkurrenzgerangel zwischen den selbstständig organisierten Hospizen und den Palliativstationen, die in Krankenhäusern integriert sind‘, wenigsten punktuell die Entwicklung einer modernen Sterbebegleitung im wiedervereinigten Deutschland.“ (S. 561)

Noch in einer anderen Hinsicht formuliert Florian Greiner eine klare Position – in der Frage einer „gendergerechten“ Sprache in der Wissenschaft, die in der Sicht des Rezensenten durch Sternchen, Unterstriche usw. zur teilweisen Unlesbarkeit solcher Texte führen und Sachaussagen eher verunklaren als zur Aufhellung geschlechtsspezifischer Unterschiede beitragen. „In diesem Buch wird das generische Maskulinum verwendet. Dies hat nicht nur darstellerische Gründe, sondern auch sachliche: In einigen empirischen Beispielen ist bei Funktionsgruppen (wie z.B. an einem Kongress teilnehmenden Wissenschaftlern) unklar und nicht eindeutig zu belegen, ob sich darunter Frauen und Männer befunden haben (auch weil in den historischen Quellen keine gendergerechte Sprache benutzt wird). Das generische Maskulinum sichert in diesem Sinne die Einheitlichkeit und Exaktheit der Angaben. Geschlechterhistorische Spezifika werden indes immer wieder in den jeweiligen Kapiteln diskutiert.“ (S. 2, FN 6)

Die aktuellen Problemlagen bei Sterbethemen aus ihrer nahezu siebzigjährigen Geschichte besser zu verstehen und aus deutsch-deutschen Unterschieden wie Gemeinsamkeiten zu lernen, dazu hat Florian Greiner Wesentliches beigetragen. Die Leserschaft wird sogar in die Situation gebracht, das Buch als Nachschlagewerk benutzen zu können. Auch an Sprüchen ist das Werk reich, so wird jedes Kapitel mit einer durchaus nicht immer todernst gemeinten Weisheit begonnen. So setzt das Kapitel 11 über „gutes Sterben“ mit dem berühmt gewordenen Hinweis des Freiburger Bundesligatrainers Christian Streich ein: „Wir müssen nicht gewinnen. Was wir müssen, ist sterben.“

Die Rezension ist auch als zitierfähiges PDF verfügbar.

Immer auf dem Laufenden bleiben? UNSER NEWSLETTER

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert


The reCAPTCHA verification period has expired. Please reload the page.