Seiten: 88 Seiten
ISBN: 978-3-8394-6635-3
Rezensentin: Lea Watzinger
Das handliche Büchlein geht vom Offensichtlichen aus: multiplen globalen Krisen (Umweltzerstörung, ökonomische Ungleichheit und Wirtschaftskrisen, Kriege, Migrationsbewegungen, globale Gesundheitsgefahren…), die eine intellektuelle, politische und individuelle Reaktion verlangen, um eine weitere Katastrophe zu vermeiden (S. 11). All diese Krisen erfordern deutliche normative Orientierungen und Antworten, stellen sie doch den Menschen im 21. Jahrhundert und einige seiner Selbstgewissheiten radikal in Frage. Als ein wesentliches Problem erkennen die Autor:innen (schade, dass diese selbst nicht gendern) die Entkopplung wirtschaftlicher und technischer Entwicklungen von Fragen nach Werten, gutem Leben und gesellschaftlichem Wohlergehen. Dafür machen sie eine umfassende neoliberale Ideologie verantwortlich, die selbst wiederum die „Ablehnung großer Erzählungen“ (S. 41) und Narrative zum Inhalt habe, was Gegenerzählungen zum neoliberalen homo oeconomicus und damit Vorstellungen von Gemeinwohl und Sozialität erschwere (S. 41ff.). Auf die multiplen Weltkrisen wie auch intellektuellen Vakua sollten nun die Geisteswissenschaften mit neuen Ideen für eine „dringend notwendige Umgestaltung unseres Lebensstils“ (S.7) reagieren. So wird das Anliegen des Hamburger New Institute formuliert, an dem die Autor:innen Markus Gabriel, Christoph Horn, Anna Katsman, Wilhelm Krull, Anna Luisa Lippold, Corine Pelluchon und Ingo Venzke in verschiedenen Funktionen tätig waren oder noch sind und an dem auch das vorliegende Plädoyer für zukunftsorientierte Geisteswissenschaften entstanden ist. Gemeinsam formulieren und sondieren sie nicht weniger als Stellenwert und Rolle der Geisteswissenschaften im 21. Jahrhundert und legen damit einen Diskussionsbeitrag mit politischem und gestaltendem Anspruch vor, der zwar mit einer Stimme spricht, doch verschiedene kluge Köpfe vereint. Dabei handelt es sich weniger um eine im eigentlichen Sinne (rein) wissenschaftliche Arbeit als eher – wie der Titel andeutet – um ein normatives Plädoyer für Geisteswissenschaften im Dienste eines politischen Programms der Ökologie, Nachhaltigkeit, Gleichheit, Freiheit, Demokratie und des Pluralismus. Entsprechend werden die Überlegungen eingebettet in einen weltweiten geisteswissenschaftlichen Diskurs mit Fokus auf gesellschaftliche und politische (und historische) Fragestellungen.
Inhaltlicher Überblick
Das Plädoyer verbindet eine thesenhafte Zeitdiagnose multipler globaler wie nationaler Krisen mit dem Anspruch grundlegender gesellschaftlicher und individueller Verhaltensänderungen. In sieben thesenhaften Kapiteln werden die gegenwärtigen Krisen, der Inhalt und die Funktionsweise geisteswissenschaftlicher Arbeit und Organisation sowie Forderungen nach geistigen, gesellschaftlichen und politischen Maßnahmen miteinander verwoben. Für den Umgang mit den gegenwärtigen Herausforderungen haben laut den Autor:innen die Geisteswissenschaften enormes Potential, da sie genuin menschliche Fähigkeiten und Bedürfnisse nach Sinn, Sozialität und Kontextualisierung des Daseins ansprechen und den Umgang mit Komplexität und Widersprüchlichkeit gewohnt sind. Dafür bringen sie jahrtausendealte und stetig aktualisierte Expertise in der Reflexion des Bestehenden, der Entwicklung von Visionen und der Formulierung des Wünschenswerten mit.
Die spezifische Wissensposition der Geisteswissenschaften (Kap. 2, S. 16) ist, dass der Mensch als wertgeleitetes, nach Erkenntnis strebendes und reflexionsfähiges Wesen im Mittelpunkt technischer und gesellschaftlicher Entwicklungen steht. Dabei verorten die Autor:innen die Geisteswissenschaften zwischen Tugendentwicklung und der Frage nach dem Guten, in einem breiten Spektrum epistemischer Standards sowie einem Pluralismus der Methoden und Ausgangsannahmen, wie sie in mehreren Unterkapiteln ausführen. Um das volle Potential entfalten und nutzen zu können, schlagen die Autor:innen auch eine Neugestaltung und -organisation geisteswissenschaftlicher Forschung auf institutioneller Ebene vor (Kap. 5, S. 52f.), um Heterogenität in gewinnbringende Vielfalt zu verwandeln und Kreativität für neue Denkanstöße zu fördern. Dafür sehen sie einen Kulturwandel hin zu einer „high trust culture of creativity“ (S. 56) und zu einer gemeinsamen Verantwortung als notwendig an. Um dies zu verwirklichen, sei neben einer angemessenen Finanzierung auch die institutionelle Verankerung von interdisziplinärer Ausbildung und Zusammenarbeit sowie eine Offenheit im Umgang mit Forschungsergebnissen erforderlich. Den Autor:innen schweben multiperspektivische und integrierte Ansätze vor, um die bisherige Isolierung der geisteswissenschaftlichen Fachbereiche zu überwinden. Die Autor:innen wenden sich dezidiert gegen eine Instrumentalisierung der Geisteswissenschaften (S. 54) im Sinne einer konkreten Problemlösung, fordern jedoch ein, dass diese „Denkanstöße für neue Wege […] geben“ sowie „unbequeme Tatsachen […] benennen“ (S. 55) sollten.
Die Zukunft der Geisteswissenschaften und eine Lösung der skizzierten Großkrisen sehen die Autor:innen in einer Neuen Aufklärung (Kap. 6, S. 57), mit der sie die Forderung verbinden, Theorie und Praxis zu kombinieren und geisteswissenschaftliche Methoden und Kompetenzen auf die drängenden Fragen von globaler Bedeutung auszurichten. So sollen problematische Denkweisen, Wertvorstellungen und Praktiken überwunden und damit Zukunft und Gesellschaften gestaltbar werden. (S. 57) Der Aufklärungsbegriff bleibt dabei in einem ersten Schritt den klassischen, westlich-aufklärerischen Grundprinzipien wie Autonomie, Freiheit, Gleichheit und Rationalität verpflichtet. Gleichzeitig nehmen die Autor:innen für ihren Begriff der Neuen Aufklärung in Anspruch, einen Ausweg aus der postmodernen Kritik und den „Irrationalitäten“ (S. 60) von Gewaltexzessen, Unterwerfung und Zerstörung zu bieten, an denen die klassische Aufklärung in der Geschichte Europas auch beteiligt gewesen sei. So soll die Neue Aufklärung einen inklusiven Begriff darstellen, der auf einer relationalen Dimension des menschlichen Wesens und einem dezidierten Humanismus gründet. (S. 64) Die Neue Aufklärung soll alle Fehler der klassischen Aufklärung und des westlichen Rationalismus nicht wiederholen, sondern im Gegenteil sich der blinden Flecken und eingeschränkten Perspektiven bewusst sein, um mit Differenz (Derrida) und Selbstkritik in einen echten Dialog mit anderen Ausdrucksformen, Kulturen und Sprachen zu treten. (S. 64f.)
Als nächste Schritte (Kap. 7, S. 65) und Forschungsbereiche für die so skizzierten Geistes- (und Sozial-)Wissenschaften der Neuen Aufklärung animieren die Autor:innen dazu, in sektor- und disziplinenübergreifenden Forschungsverbünden neue Visionen des Guten zu entwickeln, Andersartigkeit willkommen zu heißen, nicht-ökologisches Verhalten kollektiv wie individuell zu überwinden, Gesundheitsvorsorge und -versorgung wieder zu einer öffentlichen Aufgabe zu machen sowie technologische Entwicklungen in Einklang mit Wertvorstellungen zu bringen. Dazu müssen die Geisteswissenschaften nach dieser Lesart im Zentrum der Entwicklungen stehen und nicht als bloße Begleitforschung fungieren, doch auch ihre integrative Funktion (re-)aktivieren, anstatt in zu engen Fachdiskursen zu verharren. Eine modernisierte und an die Anforderungen einer sich erneuernden und verbessernden Gesellschaft angepasste forschungsinstitutionelle Wissenschaftsorganisation solle (geisteswissenschaftliche) Methoden und Denkweisen hervorbringen, die das öffentliche Interesse wieder zu einem starken Begriff und Ziel gesellschaftlichen Strebens machen.
Auswertung
Die Geisteswissenschaften müssen aus mindestens zwei Richtungen Gefahr wittern, die auch beide im Plädoyer anklingen: einerseits durch ein ökonomistisch verkürztes, neoliberales Welt- und Menschenbild, das jedoch wirkmächtig bis in das Denken und Handeln Einzelner vorgedrungen ist – andererseits durch den Vorwurf einer westlichen Vorherrschaft, deren grundlegende Konzepte und Narrative blind geworden sind für ihre eigenen Prinzipien der Gleichheit und Freiheit. Dies stellen die Autor:innen nachvollziehbar dar. Zugleich weist der Band auch Schwächen auf: Die Geisteswissenschaften stehen zwar im Untertitel, doch bleibt ein wenig unklar, welche Fächer und Zugänge damit genau gemeint sind und wie sich die im Plädoyer gestellten Forderungen auf die verschiedenen Fragestellungen und Erkenntnisinteressen auswirken. Dass zudem manchmal von den Geistes- und Sozialwissenschaften und manchmal nur von den Geisteswissenschaften die Rede ist, schafft eher Verwirrung als Klarheit. Mitunter legen die Autor:innen einen Fokus auf diejenigen Geistes- (und Sozial-)Wissenschaften, die naheliegend aktualisierbar sind, da sie sich auf Gesellschaft, Technologie und Politik beziehen, so wie die zahlreichen Disziplinen und Ansätze der sogenannten ELSI-Forschung (ethical, legal, social impact). Unter Umständen hätten Beispiele aus periphereren, kleineren Fächern dem Buch gut getan (gerade auch mit Blick auf nicht-geisteswissenschaftliche Leser:innen). So drängt sich ein wenig die Vermutung auf, dass es den Autor:innen bei der Beschwörung der Geisteswissenschaften und ihrer integrativen Kraft vorrangig um solche Fachbereiche geht, die als anschlussfähig gelten an technik- und naturwissenschaftliche Diskurse. Das wäre allerdings schade, würde ihr Plädoyer dann doch trennen anstatt zu verbinden – in vermeintlich zukunftsorientierte und scheinbar in der Vergangenheit verbleibende Geisteswissenschaften.
Aus Sicht einer Geisteswissenschafterin aus dem Bereich der politischen Philosophie mit Interesse für die Digitale Transformation die Positionen verständlich, teilweise sogar selbstverständlich. Doch für nicht-geisteswissenschaftliche Leser:innen, denen man die Größe und den Wert der Geisteswissenschaften, der Reflexion und des nicht unmittelbaren ökonomischen Nutzens immer wieder erklären und veranschaulichen muss (z.B. Politiker:innen, Techniker:innen, Wissenschaftsmanager:innen), könnte der Stil etwas abstrakt und selbstvergessen sein. Der thesenhafte Duktus verharrt mitunter in einem autopoietischen Stadium; ob sich auf diese Weise der Diskurs mit Politik, Gesellschaft und Industrie gestalten lässt, bleibt fraglich. Es ergibt sich somit das Paradox, dass Geisteswissenschaftler:innen versuchen, mit geisteswissenschaftlichen Methoden und Begriffen ihre Relevanz zu erklären, wobei doch gerade diese Methoden kritisiert werden und bei ihren Kritiker:innen den Vorwurf selbstreferentieller Systeme ohne Mehrwert hervorbringen könnten.
Den Autor:innen gelingt es sicherlich, mit diesem Plädoyer einen Diskussionsbeitrag innerhalb der Geisteswissenschaften wie auch im öffentlichen Diskurs zu leisten und für tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen einzutreten. Aus ihren Setzungen und Forderungen ergeben sich einige Spannungsfelder, deren theoretische wie praktische Ausbuchstabierung noch ansteht: z.B. zwischen geisteswissenschaftlicher epistemischer Eigenständigkeit und Unterscheidung im Vergleich zu Natur- und Technikwissenschaften und der geforderten Neuausrichtung auf und Anpassung an neue Herausforderungen. Auch ergibt sich eine Spannung aus Autonomie als zentralem aufklärerischem Pfeiler und der angestrebten radikalen Änderung des kollektiven wie individuellen Verhaltens nicht nur der Forschenden, sondern der Gesellschaft(en) im Ganzen. Damit hängt die Spannung zusammen, die sich aus dem Festhalten an den Klassiker:innen der westlichen Aufklärung und Moderne bei gleichzeitiger Öffnung für andere Denktraditionen und Autor:innen ergibt. Und nicht zuletzt das Spannungsfeld zwischen einer Weltvorstellung, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt und einem gleichzeitigen Zielen auf Ökologie und Nachhaltigkeit. Ob, wie und zu welchem Preis dies alles gelingen kann, hätte womöglich etwas konkretisiert und damit greifbarer gemacht werden können, um Konsequenzen für Individuen, Forschende und Gesellschaften abzuschätzen. So wirkt die Neue Aufklärung ein bisschen wie das selten einlösbare Versprechen, alles auf einmal haben zu können: eine gute, gerechte, nachhaltige Welt und eine Fokussierung auf den Menschen.
Abschließend lässt sich über diesen Aufschlag der New Institute-Autor:innen festhalten, dass eine Lenkung des öffentlichen Interesses auf Geisteswissenschaften und -wissenschaftler:innen, wie es mit diesem insgesamt konzise formulierten, optisch ansprechenden und (digital) frei verfügbaren Heft geleistet wird, eine wichtige und zeitgemäße Intervention darstellt. Eine Auflösung von Disziplingrenzen und eine Betonung der verbindenden Fragestellungen und Erkenntnisinteressen sind die Grundlage multi-, trans-, und interdisziplinärer zukunftsweisender Wissenschaft. Dabei explizit outside the box des gegenwärtig dominanten, neoliberal-ökonomistisch angetriebenen Denkraums zu denken, ist spannend und hoffentlich mit Erfolg belohnt.
Dr. Lea Watzinger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Koordinatorin am IDea_Lab – das interdisziplinäre digitale Labor der Universität Graz
Die Rezension ist auch als zitierfähiges PDF verfügbar.
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