Humanismus in, Mitgliedschaft out? Moderne Formen der Zugehörigkeit

Sahand Babali | unsplash

 

Humanismus in, Mitgliedschaft out? Moderne Formen der Zugehörigkeit

Ein Kommentar aus Sicht des Humanistischen Verbandes Berlin-Brandenburg KdöR

Am Ende der Lektüre dieses Buches ist man geneigt, den Titel zu korrigieren: Sollte besser „… Mitgliedschaft out!“ auf dem Cover stehen? Humanist*innen haben einen Orientierungspunkt. Das ist der Mensch. Diesem Menschen scheinen die lebensweltlichen Aspekte von Mitgliedschaft unangenehm geworden zu sein. Der Befund zieht sich explizit oder implizit durch alle Beiträge im vorliegenden Buch. Sein Verdienst ist unter anderem, die Realität von „Mitgliedschaft out“ einmal umfassend zum Ausdruck zu bringen. Bisher war die Frage nach der Mitgliederzahl des Humanistischen Verbands immer geeignet, kleine Verunsicherungen auszulösen: Welche Bedeutung hat der Verband in Berlin und Brandenburg, wenn er kein nennenswertes Wachstum der Beitritte verzeichnet? Mögen die Menschen hier keine Humanist*innen? Seine Mitglieder und Freund*innen von dieser Unsicherheit zu entlasten, gehört zu den Aufgaben, denen der HVD-BB sich stellen sollte. Einen Schritt in diese Richtung zeigt schon beispielhaft die realitätsgerechte und zugleich pragmatische Formulierung in seiner Satzung von 2023, die auch an mehreren Stellen im Buch zur Sprache kommt. Unter §4 Nr.10 heißt es:„Die Zugehörigkeit zur Humanistischen Weltanschauung setzt nach unserem Selbstverständnis nicht die formale Mitgliedschaft in unserem oder einem anderen humanistischen Verband voraus. An unseren weltanschaulichen Aktivitäten können alle teilnehmen, die unsere Lebenseinstellung und unser Weltbild grundsätzlich teilen. Als Angehörige des Verbandes behandeln wir daher auch alle Personen, die regelmäßig an unseren weltanschaulichen Angeboten teilnehmen, ohne Mitglied des Verbandes zu sein.

Angehörigkeit und Bekenntnis

Zugehörig oder angehörig zu sein, bedeutet hier erstmal: etwas zu teilen, wobei die Zu- oder Angehörigen und der HVD-BB trotzdem noch zueinander finden müssen. In dieser Hinsicht ist das Kapitel „Humanistische Zugehörigkeit in multiplen Spannungsfeldern“ im Beitrag von Thilo Rother und Leoni Wohlfart von besonderer Bedeutung. Denn dort, wo Spannungen auftreten, wird das Zueinanderfinden bekanntlich erschwert. Und für den HVD stellt sich die Frage, ob er hier etwas zur Lösung beitragen kann. Tatsächlich tut er das schon in einigen Praxisfeldern. Dazu später mehr. Zunächst von vorn: Im Buch heißt es auf S. 53f: „Für viele Humanist:innen resultiert … aus dem Ideal der Selbstbestimmung eine nichtmissionarische Haltung. Diese Haltung läuft dem Ziel, als gesellschaftlich relevanter Akteur wahrgenommen zu werden, entgegen.

Immer wieder scheint eine gefühlsmäßig nachvollziehbare Bekenntnisscheu durch, wenn man Menschen konkret danach fragt: Wer sich weltanschaulich festlegt, macht sich angreifbar, schließt andere möglicherweise aus, stellt sie ungewollt in Frage oder stört sie unter Umständen, weil diese Anderen jetzt anfangen zu überlegen, ob und warum sie eigentlich anders sind. Hier zeigt die Untersuchung das Dilemma, in dem viele Humanist*innen stecken: Sie haben humanistische Überzeugungen, aber sie möchten nicht missionieren und niemanden ausschließen. Damit verweigern sie anderen Menschen möglicherweise Informationen, die diese gut gebrauchen könnten. Außenstehende finden eher zufällig zum Verband. Rother und Wohlfart schildern dazu passend das Konversionsnarrativ vom „nach Hause kommen“ (S.40), das lautet: Als die Interviewpartner*innen erstmals auf den Humanismus stießen, haben sie sich darin mit ihren bestehenden Überzeugungen wiedergefunden. An der Stelle ist meines Erachtens jedoch Vorsicht angebracht, denn dieses Erleben hat gesellschaftliche Voraussetzungen, die in einem Ethos liegen, das nicht vom Himmel fällt. Eher wurden hier Voraussetzungen aufgebaut – durch Erziehung und Sozialisation, nicht zuletzt durch den HVD-BB selbst.

Eigene Überzeugungen im humanistischen Ethos wiederfinden

Auf eine dieser Voraussetzungen möchte ich kurz den Blick lenken. Sie fügt der vorliegenden qualitativen Untersuchung einen quantitativen Aspekt hinzu: Es ist die weltanschauliche Bildung, in Form des Humanistischen Lebenskundeunterrichts. Und dabei komme ich zurück auf das, was der HVD-BB schon für das Zueinanderfinden tut.

Beim Eintritt in die Berliner Grundschule müssen Eltern mit ihren Kindern unausweichlich eine weltanschauliche Entscheidung treffen. Zur Auswahl stehen Humanistische Lebenskunde, konfessioneller Religionsunterricht oder Hortbetreuung. Hier stellt sich nicht die Frage, ob man eine Mitgliedschaft anstrebt, sondern welche existenziellen Grundannahmen das pädagogische Verhältnis leiten sollen, in das ein Kind gestellt wird. Humanistische Lebenskunde ist dabei das meistgewählte Fach: mit über 72.000 Schüler*innen, die Woche für Woche den Unterricht besuchen.

Gleichzeitig sehen wir an dieser Stelle, wie der HVD-BB den Eltern und Kindern ein klar ausformuliertes Bekenntnis vorlegt und ihnen das Angebot macht, sich genau dafür zu entscheiden. Dies geschieht mit dem Informationsteil auf dem Anmeldeformular zum Unterricht und ist in aller Deutlichkeit ausgebaut im pädagogischen Leitbild, dem Rahmenlehrplan und dem preisgekrönten Schulbuch zur Humanistischen Lebenskunde. Den Tendenzstellenträger*innen, wie es im Fachjargon heißt, also den Lebenskundelehrer*innen ist damit eine Last von den Schultern genommen. Wenn sie sich auf offizielle Darstellungen beziehen, können sie sich ein Stück individueller weltanschaulicher Profilierung – manchmal auch persönlicher Rechtfertigungen – ersparen. Vor allem aber lässt sich an den Anmeldezahlen ablesen: Wenn, wie hier, ganze Familien mit einem humanistischen Standpunkt konfrontiert werden, löst das viel Zuspruch aus.

Vor dem Hintergrund der Untersuchungsergebnisse von Rother und Wohlfart folgt für den HVD-BB daraus zweierlei. Erstens ist es gut, eigene Angebote genau dort zu organisieren, wo es Angebote in religiöser Trägerschaft bereits gibt – nicht um mit den Kirchen in Konkurrenz zu treten, sondern um denjenigen Resonanz und Geborgenheit zu ermöglichen, die religiöse Hintergrundüberzeugungen nicht oder nicht mehr teilen. Neben dem Weltanschauungsunterricht können dies Schwangerschaftskonfliktberatung, Hospizarbeit, Lebensfeiern oder Humanistische Beratung (äquivalent zur Seelsorge) sein. Zweitens sollte der Verband an diesen Stellen sein weltliches Profil deutlich formulieren und medial präsentieren. Seine Mitarbeiter*innen sollten jederzeit auf ausformulierte Materialien zurückgreifen können, d.h. nie in die Situation kommen, die humanistische Weltanschauung aus subjektiver Sicht propagieren zu müssen – wenngleich nichts dagegen spricht, das trotzdem zu tun.

Der Nutzen einer solchen Objektivierung weltanschaulicher Grundlagen reicht sogar noch viel weiter. In einer gesellschaftlichen Situation, die vom Schwinden eines gemeinsamen Ethos geprägt ist, sind gerade humanistische Standpunkte in weiten Teilen unserer Gesellschaft anschlussfähig; sie haben das Potential, Orientierung zu geben und eine ethische Bindungskraft zu entfalten, die den Kirchen gerade verloren geht. Aufklärung und Humanismus sind glaubwürdigere Motive unserer offenen demokratischen Kultur geworden als der Rückgriff auf einen letztinstanzlichen Willen Gottes.

Bedürfnisse des demokratischen Rechtsstaats

Hinzu kommt, dass der Staat weiß, woran er ist, wenn er nicht der Vielstimmigkeit einer Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft die Werte ablauschen muss, für die sie steht, sondern auf ein weitgehend versachlichtes Bekenntnis zurückgreifen kann. Dies zu leisten ist Sache des HVD-BB – oder wie Horst Junginger schreibt (S.67): „Organisationen sind dazu da, dem Organisationsziel seine Beliebigkeit zu nehmen. Sie … entkoppeln es von den individuellen Wünschen der Mitglieder“, bzw. der loser assoziierten Freund*innen. Gleichzeitig stellt diese Objektivierung den HVD-BB vor der Aufgabe, seine Grundannahmen vor der Erstarrung zu bewahren, indem er den weltanschaulichen Humanismus im Diskurs mit seinen Mitgliedern und Freund*innen weiterentwickelt.

Doch bleiben wir noch einen Moment beim Staat. Der Bund und die Länder sehen sich im vorliegenden Buch der Kritik ausgesetzt, an überkommenen Kategorien festzuhalten, wenn sie die Voraussetzungen zur Verleihung von Körperschaftsrechten prüfen. Sicher bleibt es eine längerfristige politische Aufgabe säkularer Verbände, das derzeit noch maßgebliche Bundesverwaltungsgerichtsurteil aufzuweichen, das lautet: „Da die Körperschaft des öffentlichen Rechts ein Personenverband ist, kommt dieser Rechtsstatus nur für Religionsgemeinschaften in Betracht, die mitgliedschaftlich verfasst sind. Es müssen daher bestimmte, innergemeinschaftliche Regeln bestehen, nach denen festgelegt ist, wer Mitglied der Religionsgemeinschaft ist. Dabei muss eine personengenaue Zurechenbarkeit gegeben sein.[1]

Das vorliegende Buch ist ein Meilenstein auf dem Weg, dieses Urteil zu hinterfragen. Gleichzeitig ist klar, dass eine gelockerte Sicht auf Mitgliedschaft die Frage nach dem Bekenntnis zu einem religiösen oder weltanschaulichen Konsens verschärfen würde.

Fazit

Das vorliegende Buch führt zu einer Befreiung von der „Problemtrance beim Thema Mitglieder“, wie Katrin Raczynski (S.125) es genannt hat – sehen wir darin aber keinen Grund zum Laissez-faire in Sachen Zugehörigkeit, sondern eine große und wichtige Aufgabe für alle Freund*innen des Humanismus, die unserer Gesellschaft eine humanistische und das heißt freiheitliche, gerechte und demokratische Prägung geben wollen, deren Bezugspunkt der Mensch als Teil der Natur ist. Das passiert nicht von selbst, sondern Kultur braucht ein wahrnehmbares, spürbares Selbstverständnis. Nur wenn Humanismus sich in gelebter Überzeugung zeigt, wird er gesellschaftlich und politisch anerkannt. Deshalb endet dieser Kommentar mit der Aufforderung: Macht Euch als Humanist*innen sichtbar!

Sven Thale ist Prorektor Weltanschauung an der Humanistischen Hochschule Berlin und Bundesbeauftragter des Humanistischen Verbands Deutschlands für Seelsorge in Institutionen.

 

Anmerkungen

[1] Vgl. https://bravors.brandenburg.de/verwaltungsvorschriften/koerperschaftsrechte_2017 (Zugriff: 15.04.2024).

 

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