Irina Spiegel: Kant zum 300. Geburtstag

Kant zum 300. Geburtstag

„Kritik der Urteilskraft“: Politische Schönheit (Arendt) und Koloniale Vernunft (Spivak)

Immanuel Kant, der die Epoche der Aufklärung wie kaum ein anderer im deutschsprachigen Raum prägte, hat am 22. April 2024 seinen 300. Geburtstag. In diesem Jubiläumsjahr sind einige neue Bücher über Kant und sein Werk erschienen. Darunter sind auch einige überraschende Neubetrachtungen der kantischen Philosophie und ihres Stellenwerts in der Zeit der Aufklärung, die in der Sonderausgabe des Philosophie Magazins „Kant“[1] gut zusammengefasst worden sind. Demnach entdecke Omri Boehm bei Kant anarchistische Züge (ebd., S. 18), Lea Ypi sehe in Kants Universalismus Anschlusspunkte für Marx’ Kapitalismuskritik (ebd., S. 70), und Manon Garcia versucht mit Kant sogar, guten Sex zu begründen, der v.a. auf Einvernehmlichkeit beruhe (ebd., S. 75). Diese und andere Interpretationen werden stark vor dem Hintergrund der kantischen Moralphilosophie formuliert. Fast alle Beiträge der Sonderausgabe weisen diese Tendenz auf, mit einer Ausnahme: Slavoj Zizek. Er interessiert sich weniger für die kantische Moralität und mehr für seine dynamischen Antinomien, die er in Paradoxien reformuliert. So gibt es nach Zizek in Kants Rechtsphilosophie einen Widerspruch zwischen einer (revolutionären) Gründung einer neuen Rechtsordnung und der Rechtsordnung selbst; der Gründungsakt einer neuen Rechtsordnung setzt einen Rechtsbruch, d. h. ein Verbrechen, voraus. (ebd., S. 9) Diese Paradoxie ist, seiner Meinung nach, Kant selbst nicht unbewusst geblieben. An solchen Stellen zeigt sich, dass Kants Werk viel komplexer und paradoxer ist, als seine Moralphilosophie und ihre modernen Interpret*innen suggerieren.

Es ist vermutlich dem Zeitgeist bzw. den gegenwärtigen Krisen geschuldet, dass in den Neuerscheinungen wie auch in den gegenwärtigen öffentlichen Beiträgen Kants Moralphilosophie dominiert. Dabei hat eine eigenwillige Kantianerin namens Hannah Arendt Kants Moralphilosophie mit guten Argumenten kritisiert.[2] Sie sagt z.B.: „[D]er Begriff »Freiheitsgesetz« [ist] ein Widerspruch in sich“ (ebd., S. 39). Und sie geht auf die faktische Dichotomie zwischen Sollen und Wollen in Kants Moralphilosophie ein: „Wenn wir die Widersprüche beiseitelassen und uns nur an das halten, was Kant sagen wollte, dann hat er offenbar an einen guten Willen als den Willen gedacht, der »Ja, ich will« antwortet, wenn ihm gesagt wird: »Du sollst«. Und um diese Beziehung zwischen den zwei menschlichen Vermögen […], die eindeutig nicht gleichzusetzen sind und von denen eindeutig nicht das eine automatisch das andere bestimmt, zu beschreiben, hat er die Form des Imperativs gewählt und den Begriff des Gehorsams sozusagen durch die Hintertür eingeführt.“ (ebd., S. 42) Auf die kantische Gehorsamspflicht hat sich dann auch allen Ernstes Adolf Eichmann im Jerusalemer Gericht bezogen.

Arendt hat Kants Moralphilosophie nicht viel abgewinnen können und sich stattdessen auf seine dritte Kritik – „Kritik der Urteilskraft“ – konzentriert, um diese für ihre politische Theorie fruchtbar zu machen. Begreift Arendt Kants Ästhetik also als politisch? Wie das? Im Folgenden wird erörtert, warum vor allem die ästhetische Urteilskraft das Vermögen des politischen Denkens und Handelns sein kann, und viel weniger Kants Moralphilosophie.

Mit der „Kritik der Urteilskraft“ wollte Kant eine Brücke zwischen Natur und Freiheit konstruieren, und zwar u. a mittels der ästhetischen Kategorien des Schönen und Erhabenen. In der oben schon genannten Sonderausgabe zu „Kant“ (S. 98 – 108) wird gebührend auf die Urteilskraft eingegangen, v.a. durch Jacques Rancière (S. 12), Ottfried Höffe (S. 98), Timm Lewerenz (S. 102). Die drei Philosophen neigen jedoch dazu, auch in Kants Ästhetik Moralität und das Gute zu suchen. Das tut Hannah Arendt nicht. Sie interpretiert das Urteilsvermögen mit einer starken Ausrichtung auf das politische Handeln, was m. E. viel überzeugender ist. Wie macht sie das?

Elemente politischer Schönheit (Arendt): Aktionskunst

Immanuel Kant hat die Urteilskraft als ein selbständiges, ästhetisches Denkvermögen in der Philosophie etabliert. In seiner dritten Kritik hat er Begriffe entwickelt, die bis heute Maßstäbe setzen. Hannah Arendt knüpft an Kants Errungenschaften auf diesem Gebiet an, wobei sie einige Modifikationen vornimmt. So avanciert bei ihr die Urteilskraft zum wichtigsten Denkvermögen des politisch handelnden Menschen.[3] Sie löst also die Urteilskraft aus der rein ästhetischen Domäne heraus, in der Kant jene noch analysierte, und verbindet sie direkt mit dem politischen Handeln, ohne allerdings die Beziehung zum Ästhetischen komplett zu kappen. Dies ist gar nicht so sehr überraschend heutzutage, wenn man sich etwa die Entwicklung der Aktionskunst anschaut.

Was sind die wesentlichen Elemente der kantischen Ästhetik, die Arendt für das politische Urteilen und Handeln fruchtbar macht?

Es ist zunächst einmal das Geschmacksurteil. Die paradigmatische Funktion, die Kant dem Geschmack für die Analyse der Urteilskraft zugesteht, ist nicht willkürlich. Geschmacksurteile sind die konkretesten und privatesten Urteile, weil der Geschmack der direkteste menschliche Sinn ist. Über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten. Für die Geschmackserlebnisse lassen sich meistens keine adäquaten Worte oder Begriffe finden. Zwar müssen solche äußerst subjektiven Urteile stets von einem Gegenstand oder Ereignis veranlasst werden, doch ihren eigentlichen Bezugspunkt finden sie nicht am ästhetischen Objekt, sondern im Subjekt selbst. Kant bezeichnet diesen Sachverhalt als das „freie Spiel der Vorstellungskräfte“ oder „das Erkenntnisvermögen bei einer Vorstellung“.[4] Der Urteilende erfährt es in der Weise eines besonderen und subjektiven Lust- oder Unlustgefühls. Daran knüpft auch die etwas paradoxe Idee an, dass die Geschmacksbeurteilung zwar ohne einen konkreten Zweck geschieht, dennoch aber in Bezug auf eine „regulative Idee“ der Zweckmäßigkeit, demnach alle Elemente einer ästhetischen Wahrnehmung wechselseitig zweckmäßig verbunden sind. Hinzu kommt, dass wir uns beim Urteilen vorstellen, dass alle Menschen so oder ähnlich in derselben Wahrnehmung urteilen würden. Somit stellt sich Kant das Geschmacksurteil als ein „a priori subjektives“ Urteil vor.[5]  Dieser Moment der Urteilskraft ermöglicht, dass wir uns über den Geschmack dann doch streiten können, wenn wir zum Beispiel ein Theaterstück oder einen Film beurteilen oder kritisieren.

Kant unterscheidet aus systematischen Gründen zwischen der bestimmenden und reflektierenden Urteilskraft.[6] Während die bestimmende Urteilskraft einen besonderen Einzelfall unter eine Regel oder einen Begriff subsumiert (da diese bereits vorhanden sind), wird die reflektierende Urteilskraft zunächst mit reinen Einzelfällen konfrontiert, zu welchen es noch kein Allgemeines (Begriff/Regel/Gesetz) gibt oder sogar gar nicht geben kann. Während also die auf Erkenntnis abzielende bestimmende Urteilskraft nach den vorgegebenen Schemata und Begriffen vorgeht, muss die reflektierende Urteilskraft die einzelnen und äußerst vielfältigen Wahrnehmungen zunächst differenzieren und dann als differenzierte verknüpfen. Sie verfährt also nicht logisch, sondern assoziativ, analogisch oder poetisch, und sie muss dabei über die Grenzen des Bekannten (Begrifflichen) hinausgehen. Das ist stets ein Wagnis und erfordert daher Mut.

Dazu folgendes Beispiel: Wir verfügen über ein kognitives Schema eines Würfels: ein dreidimensionales Objekt, Sechsflächner, 12 gleich lange Kanten und 8 Ecken, in denen jeweils drei Seitenflächen zusammentreffen. Wenn ich einen Würfel sehe, kann ich aufgrund dieser vorgegebenen kognitiven Regel i. d. R. bestimmen, ob es sich um einen Würfel handelt oder nicht. Die Subsumtion unter die Regel verläuft automatisch. Hier ermöglicht die Urteilskraft erst die Erkenntnis, dass es sich um einen Würfel handelt. Aber wie können wir darüber urteilen, ob z.B. die Betonblöcke neben Höckes Garten[7] schön sind, wo uns doch für die allgemeine Schönheit die festen Schemata fehlen? Wie kann man diese künstlerische Aktion überhaupt adäquat beurteilen? Die Urteilskraft muss hier anders als beim bloßen Erkennen verfahren, und es kann und wird daraus keine objektive Erkenntnis werden. Man muss diese Aktion des Zentrums für politische Schönheit erstmals als etwas ganz Besonderes wahrnehmen und als solches mehrmals hin und her reflektieren: Diese Aktion, die zwischen einem politischen und künstlerischen Handeln pendelt, könnte man zum Beispiel als besonders gelungenes Aktionskunststück beurteilen, weil sie die menschenfeindliche AfD-Gesinnung räumlich darstellt; sie ist als menschenfeindliche einfach nicht mehr zu übersehen. Sie steht direkt und betonartig vor Augen, in einer Assoziationskette mit dem Holocaust-Mahnmal Berlin. Oder man könnte diese Aktionskunst auch als nicht sehr gelungen beurteilen, weil sie vielleicht dann doch zu plakativ ist.[8] Es bleibt stets ein subjektives Urteil, jedoch nicht komplett subjektiv. Und genau diese Fähigkeit der reflektierenden Urteilskraft interessiert Hannah Arend, sie bezeichnet das, was mittels solcher Fähigkeit entsteht, als „Exemplar“: „[Das] Exemplar ist und bleibt ein Besonderes, das gerade in seiner Besonderheit die Allgemeinheit, die sonst nicht definiert werden konnte, enthüllt.“[9] Wenn ein solches Urteil sich in der Beurteilung anderer Personen bewähre, dann könne es nicht mehr rein subjektiv sein. Solche reflexiven Urteile sind also weder objektiv noch universell gültig. Die spezifische Gültigkeit reflexiver Urteile muss nach Arendt als „exemplarische Gültigkeit“ vorgestellt werden.[10]

Beim reflektierenden Urteilen meldet sich zunächst nicht der Verstand, sondern das Gefühl der Lust oder Unlust, oder wie Arendt sagt: des Gefallens oder Missfallens. (Zum Beispiel: Die Aktion des Zentrums für politischen Schönheit gefällt mir sehr.) Die Ereignisse in der Lebenswelt werden spontan mit Hilfe dieser Lust-Unlust-Unterscheidung differenziert. Wir spüren, wie wir uns entlang des Gefallens oder Missfallens in der Welt ausrichten. Die reflektierende Urteilskraft gibt den Subjekten dadurch zuallererst eine Grundorientierung in der Welt, insbesondere dann, wenn es für neuartige Phänomene noch keine Begriffe gibt. Das gilt sowohl in Bezug auf die Phänomene des Schönen bzw. Hässlichen im künstlerischen Bereich und in der Naturwahrnehmung (Kant) als auch in Bezug auf ein mutiges und gerechtes Handeln im politischen Raum (Arendt). Wenn man feststellt, dass eine bestimmte Tat gerecht und mutig ist, so meint man damit nicht, dass alle oder viele Taten dieser Art gerecht und mutig seien. Es ist zunächst ein subjektives und stark kontextabhängiges Urteil.

Dennoch ist dieses subjektive Urteil nach Kant und Arendt nicht beliebig oder bloß subjektiv. Das je subjektive Urteil kann für andere Menschen eine exemplarische Gültigkeit erlangen, weil alle Menschen über den sog. „sensus communis“ verfügen. Die anderen können meinem Urteil zustimmen (z.B., dass die Aktionen der „Letzten Generation“ mutig sind), und die Antizipation der Urteile und Kritik anderer macht letztendlich diese subjektiven Urteile etwas allgemeiner. Dies ist der Boden, auf dem sich die reflektierende Urteilskraft auf die exemplarische Allgemeingültigkeit hin entwickelt.

Es bleibt noch unklar, was dieser ominöse sensus communis eigentlich ist. Er ist für Kant und Arendt nicht nur ein Sinn neben den anderen fünf Sinnen, sondern zugleich der Sinn, welcher die Menschen erst zu Gemeinschaftswesen (zoon politikon) macht. Der sensus communis versetzt überhaupt erst die Menschen in die Lage, eigene Wahrnehmungen anderen mitteilen zu können und wiederum ihre Wahrnehmungen zu verstehen, ohne sich je von ihrem eigenen subjektiven Ursprung (dem Subjekt selbst) völlig lösen zu können. Wie ist es möglich? Nach Kant und Arendt spielt hier die Einbildungskraft die Schlüsselrolle, also Phantasieren und Kreativität. Die Einbildungskraft richtet sich nicht nur auf die Gegenstände und Ereignisse in der Welt, sondern auch auf die mentalen Zustände anderer Menschen, wenn sie sich die Vorstellungen und Urteile anderer Menschen vergegenwärtigt oder antizipiert.[11] Arendt bezeichnet diesen Moment zusammen mit Kant als „erweiterte Denkungsart“.[12]

Durch den Gemeinsinn können Menschen erst einen Bezug zum Denken und Fühlen anderer Subjekte, überhaupt erst eine Beziehung zu Anderen herstellen. Dabei projiziert das Subjekt nicht einfach den eigenen Geschmack auf die Anderen, sondern es zieht von vornherein ihre Perspektive (ihre möglichen Zustimmungen oder Ablehnungen) in seine Beurteilung mit ein. Eine mögliche exemplarische Gültigkeit solcher Urteile entspringt einer hinreichenden diskursiven Abstimmung mit den Standpunkten anderer Subjekte. Für Arendts politische Theorie ist dieser Moment essentiell: Das Urteil wird umso exemplarischer und unparteiischer, je intensiver diese Abstimmung mit anderen ausgefallen ist.[13]

Die hier skizzierte Konzeption der reflektierenden Urteilskraft überträgt Arendt in den Bereich des politischen Denkens und macht sie konstitutiv für das gemeinsame Handeln im öffentlichen Raum der „res publica“. Arendt knüpft ihre Begründung der Öffentlichkeit, der öffentlichen Kritik und Beratschlagung an diese Interpretation des ersten Teils Kants „Kritik der Urteilskraft“. Für sie ist die Öffentlichkeit das Hauptfeld der nun politisch agierenden Urteilskraft, die insofern bereits von vornherein politisch ist, als dass sie auf die Öffentlichkeit, d. h. auf die Beurteilung anderer hin ausgerichtet ist. Arendt bringt es so auf den Punkt: „Im Geschmack ist der Egoismus überwunden, d.h. wir beachten die anderen, ihre Meinungen, Gefühle usw. Wir müssen unsere speziellen subjektiven Bedingungen um anderer willen überwinden. […] Das ist notwendig, weil ich ein Mensch bin und nicht außerhalb der Gesellschaft von Menschen leben kann. Ich urteile als Mitglied dieser Gesellschaft und nicht als Mitglied einer übersinnlichen [intelligiblen] Welt […]“.[14]

Vor diesem kantischen Hintergrund konzipiert Hannah Arendt also den politischen Raum völlig neu. Dieser Raum umfasst das choreographierte Handeln vieler, die sich teilweise von ihren eigenen Interessen distanzieren und so zusammen mit den anderen sich um die unparteiischen Allgemeininteressen kümmern können, z.B. die Fragen der sozialen Gerechtigkeit oder der Erhaltung der Welt. Das Politische ist damit ein direktes Aufeinander-Beziehen und ein durch kritische Urteilskraft qualifiziertes gemeinsames Handeln im öffentlichen Raum. Es lässt sich zugespitzt sagen: Ohne die Urteilskraft der Bürger*innen kann es keine Politik geben – Politik im arendtschen Sinne. Sich organisieren, eine Agenda formulieren und Protestaktionen oder Bürger*innen-Räte durchführen. Dies sind allesamt genuin politische Aktivitäten, die im gemeinsamen Handeln urteilsfähiger Bürger*innen politische Macht und Schönheit erzeugen können, die Lust machen, gesellschaftliche Probleme anzugehen, die alle betreffen.

Im so verstandenen politischen Raum begegnen sich die Menschen als sehr verschieden und gleichzeitig als absolut Gleiche. Gleich sind sie in Bezug auf die gemeinsamen Handlungsziele und auf die gleichen Rechte und die gleiche Würde. Als sehr verschiedene beziehen sie sich aufeinander insofern, als dass jeder seine eigene subjektive Perspektive mitbringt. Auf diese Weise umfasst der öffentliche Raum des Politischen, d. h. des reflektierten Handelns, sowohl die Pluralität als auch die Egalität. Diese zwei Seiten kann die reflektierende Urteilskraft mühelos assoziieren und so wirksame politische Aktionen erst initiieren. Nach Arendt sind solche Aktionen z. B. die koordinierten Protestakte bzw. Akte des zivilen Ungehorsams oder die der revolutionären Ereignisse – insbesondere angesichts zunehmender Ungerechtigkeiten und in den autoritären Regimen angesichts der Zunahme an Unrecht. Arendt hat also Kants Kritik der Urteilskraft so umgemodelt, dass eine neue Vorstellung von Politik entstanden ist, eine Vorstellung, die mit Kunst und Kreativität mehr zu tun hat, als man vor Arendt dachte. In Bezug auf diese Konzeption des politischen Urteilens und Handelns ist die Real- oder Tagespolitik mehr ein Verwalten als Gestalten. 

„Kritik der postkolonialen Vernunft“ (Spivak): Rassismus

Ob Kant mit Arendts Interpretation und Modifizierung der Urteilskraft einverstanden wäre, kann und darf bezweifelt werden. Bei all seinen Errungenschaften, vor allem seiner Begründung des moralischen Universalismus und des Völkerrechts, war und bleibt Kant ein Kind seiner Zeit. Dies zeigt insbesondere der aktuelle Diskurs über die Frage, ob Kant ein Rassist gewesen ist. Die Literaturwissenschaftlerin Gayatri C. Spivak zeigt in ihrem Buch „Kritik der postkolonialen Vernunft“,[15] dass Kant ein mehr oder weniger unterschwelliger Rassist war – mit dem Zusatz allerdings, dass jeder mehr oder weniger ein Rassist war und ist.[16] Insbesondere im 2. Teil der Kritik der Urteilskraft ist Kants Rassismus grundsätzlicher Natur, so Spivak. Er ist dort ein fester Bestandteil seiner philosophischen Systematik und wiegt daher schwerer als Kants bloße Reproduktion rassistischer Klischees seiner Zeit, v.a. in seiner „Anthropologie“. Nach Spivak musste Kant, um seine Theorie der teleologischen Urteilskraft zu entwickeln, „aus der Gesamtheit der Menschen eine Gruppe [der sog. „Wilden“] ausgrenzen […].“ (ebd., S. 84)

Wie ist dies zu verstehen? Kant geht in der „Kritik der Urteilskraft“ der Frage nach, „ob das Telos der Welt für den Menschen gemacht sei. Zu sagen, dass das Ziel der Welt auf den Menschen ausgerichtet sei, entspricht einem teleologischen Urteil. Die Antinomie besteht für Kant nun in einem Problem: Wenn man die gesamte Menschheit betrachtet, gibt es aus einer Perspektive Menschen, die es schwierig machen, die Idee des Welttelos zu bejahen, weil diese nicht die moralischen Qualitäten eines vollentwickelten Menschen aufweisen. […] Damit lässt sich jedoch die große Rede von „dem Menschen“ nicht vereinbaren, denn sie setzt voraus, dass die wahren Menschen die Europäer sind.“ (S. 85) Spivak relativiert oder entschuldigt Kants Rassismus nicht, der in seiner Zeit wohl „normal“ war. Sie sieht einfach den Widerspruch zwischen seinem Universalismus und seiner Teleologie. Zizek hat nun mal Recht: Kant ist weniger stringent und viel paradoxer als bislang gedacht.

Dieser Selbstwiderspruch Kants, den Spivak treffend analysiert hatte, ist ein hässlicher Fehler seiner Teleologie. Es ist merkwürdig, dass ihm innerhalb eines Werkes dieser Fehler passiert, wenn man bedenkt, dass er im 1. Teil die kritische Urteilskraft begründet, die er im Anschluss nicht anzuwenden gewillt ist und somit seiner eigenen Teleologie auf den Leim geht. Das passiert offenbar den besten Denker*innen der Welt.[17]

Für Spivak können wir auf Kant dennoch nicht verzichten, vor allem auf seinen moralischen Universalismus, auf den Arendt wiederum gerne verzichtete. Für Arendt ist die politische Urteilskraft das wichtigste Denkvermögen unserer Zeit. Die Entdeckung dieses Vermögens ist für sie das, was Kant in die Aktualität rettet (neben seiner visionären Begründung des Völkerrechts und der Friedensverträge in der Schrift „Zum ewigen Frieden“), und nicht seine Moralphilosophie. Das steht in Kontrast zu Spivaks Kant-Interpretation. Trotz seiner Paradoxie zischen Rassismus und Universalismus besteht die Autorin der „Kritik der postkolonialen Vernunft“ darauf, weiterhin auf Kant zu setzen. Warum? Weil wir nach Spivak den moralischen Universalismus brauchen, „um Konzepte wie Demokratie und Ethik überhaupt denken zu können. Letztendlich müssen wir verstehen, dass der Universalismus nicht real ist, und wir ihn trotzdem voraussetzen müssen, um uns ethisch zu verhalten. Es handelt sich um notwendige methodologisch-politische Annahmen. Sie sind keine konkreten und wahren Beschreibungen. […] Der Universalismus ist eine Notwendigkeit, aber er ist nicht richtig.“ (ebd., S. 86) Arendt würde das kritisieren, und auf die urteilstheoretische Idee einer (politischen und ästhetischen) Intersubjektivität verweisen, die diesen widersprüchlichen Universalismus – zumindest teilweise – überwindet.

Es zeigt sich, dass diese zwei starken Denkerinnen und viele, die noch folgen werden, Immanuel Kant auf solche Weise produktiv kritisieren, uminterpretieren und historisch kontextualisieren, dass er und sein Denken in dieser oder jener Orientierung oder je aktualisierten Interpretation auch weitere Jahrhunderte präsent und vielleicht prägend bleiben.

 Anmerkungen                                                       

[1] Sonderausgabe Philosophie Magazin, Nr. 28, Winter 2024, S. 84.

[2] Hannah Arendt: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, Piper, 2006.

[3] Hannah Arendt: Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie. (Übs.) Ursula Ludz. Piper: München 1985.

[4] Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. AA V 217-218. Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften: Berlin 1900ff.

[5] Ebd.: Analytik des Schönen. AA V 203 ff.

[6] Ebd.: Einleitung. AA V 179.

[7] https://politicalbeauty.de/holocaust-mahnmal-bornhagen.html [abgerufen am 20.03.2025].

[8] Um nur zwei Kritiken hier zu nennen: »Gut gemeint, aber schlecht gemacht!« (MDR); »Der Staat gegen die Kunst: Das gab es in Deutschland in dieser Form wohl noch nie!« (Süddeutsche Zeitung). Zitiert nach: https://politicalbeauty.de/holocaust-mahnmal-bornhagen.html [abgerufen am 24.03.2025].

[9] Arendt: A. a. O. (siehe Anm. 1). S. 102.

[10] Ebd.: S. 110.

[11] Arendt: A. a. O. (siehe Anm. 1). S. 104f.

[12] Arendt: A. a. O. (siehe Anm. 1). S. 95.

[13] Arendt: A. a. O. (siehe Anm. 1). S. 60.

[14] Hannah Arendt: Denken ohne Geländer, Piper, München 2006, S. 54.

[15] Gayatri C. Spivak: Kritik der postkolonialen Vernunft: Hin zu einer Geschichte der verrinnenden Gegenwart, Kohlhammer, 2013.

[16] Sonderausgabe Philosophie Magazin, Nr. 28, 2024: „Unterschwelliger Rassismus ist das, was die Welt am Laufen hält. […] Ich denke, jeder war und ist mehr oder weniger ein Rassist. Aber es gab nur einen Kant und einen Marx. Warum sollte man sich also die Mühe machen, über ihren Rassismus zu diskutieren? Diese großen Denker einfach als Rassisten abzustempeln und nichts von ihnen zu lernen, ist nutzlos.“ (S. 84).

[17] Auch Hannah Arendt hat sich in den ‚Rassenfragen‘ etwas verrannt, im Aufsatz

„Reflections on Little Rock“, der 1995 in der Zeitschrift „Dissent“ veröffentlicht wurde.

 

Der Aufsatz ist auch als zitierfähiges PDF verfügbar.

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