Zu Freiverantwortlichkeit und Suizidbegleitung psychisch/psychiatrisch Erkrankter

Zu Freiverantwortlichkeit und Suizidbegleitung psychisch/psychiatrisch Erkrankter

Ich möchte aus Sicht einer Psychologischen Einzelfallhelferin, die über 23 Jahre für den Sozialpsychiatrischen Dienst in Berlin freiberuflich tätig war, einige Gedanken darlegen, die sich insbesondere auf die Aspekte der Freiverantwortlichkeit in der Entscheidung zum Freitod/assistierten Suizid, wie sie im Urteil vom Bundesverfassungsgericht von Februar 2020 benannt worden sind, beziehen.

In meiner Arbeit hatte ich es mit einer Klientel verschiedenster Diagnosen zu tun (Depression, Zwangserkrankung, generalisierte Angststörung, soziale Phobie, paranoide Schizophrenie, bipolare Störung, schizoaffektive Störung, Borderline-Persönlichkeitsstörung, histrionische/narzisstische Persönlichkeitsstörung, Suchterkrankung, Asperger-Autismus, Somatisierungsstörung, sowie einen Fall von beginnender Demenz), und dies z.T. über 10 Wochenstunden pro Patient, oft konstant über viele Jahre. In Abhängigkeit vom Krankheitsbild und der psychopathologischen Ausprägung der Symptomatiken stand das Thema Suizid streckenweise im Fokus meiner psychotherapeutischen, sowie suizidpräventiven Bemühungen.

Verkomplizierung der Debatte

Es ist eines der Gebote, neben der grundlegenden autonomen Handlungsfreiheit, den Schutz des jeweiligen Lebens im Blick zu behalten. Dies kommt einer schwierigen Gratwanderung gleich, wenn man bedenkt, dass die vom BVerfG 2020 genannten Kriterien zur Freiverantwortlichkeit, sowie der von den Patienten empfundene Leidensdruck, einer objektiven Messung Dritter nicht zugänglich sind.

Leider beobachte ich in der Diskussion um den assistierten Suizid noch immer von Ideologie und Glauben bestimmte, paternalistische Bestrebungen. Auch scheint mir die Diskussion um die „Freiverantwortlichkeit“ zunehmend abstrakt und philosophietheoretisch abgehoben, bei völligem Bezugsverlust zur Alltagsrealität tatsächlichen Leidens und begründeter Verzweiflung der betroffenen Menschen, die ein Suizidbegehren anmelden.

Mir ist bewusst, dass die Begriffe „freie Willensbildung“ bzw. „Willensfreiheit“ als Aspekte des Begriffs der „Freiverantwortlichkeit“ komplexer Natur sind. Es bestehen zahlreiche, Jahrhunderte zurückreichende, philosophische Versuche, diese Begriffe, aufgrund der unzähligen Determinanten, die einen Willen begründen, klar fassen zu wollen. Daher ist „Freiverantwortlichkeit“ schwer eindeutig definierbar.

Freiverantwortlichkeit bei psychisch Kranken

Psychiatrische Erkrankungen (im Zentrum steht dabei besonders die Depression) gerieten in den letzten Jahren, nicht zuletzt aufgrund des Publikmachens durch viel Prominenz, zunehmend in den Fokus der Öffentlichkeit, um darüber zu informieren, dass sie jeden Menschen treffen können.

Depressionen werden u.a. als Hirnstoffwechselstörung begriffen, bei denen ein Ungleichgewicht der Botenstoffe (Serotonin, Dopamin, Noradrenalin usw.) vorherrscht, und welche daher gut mittels Psychopharmaka beeinflussbar, wenn nicht sogar heilbar sind, in einigen Fällen aber zu pharmakologischen Therapieresistenzen führen, und damit die Patienten in dauerhaftes Leiden zwingen.

Pharmafirmen begründen die in Studien bewiesene Wirksamkeit ihrer Medikamente mit genau diesem Argument, nämlich einer maßgeblichen Beteiligung neurophysiologischer Prozesse im Gehirn, so dass insbesondere schwere Depressionen als dann überwiegend körperliche Erkrankung, ebenso wie neurologische, neurodegenerative oder andere, zu einem hohen Prozentsatz biologisch erklärbare, körperliche Krankheiten (Beispiele: Parkinson, MS, ALS, Krebs, aber auch demenzielle Erkrankungen) betrachtet werden können. Trotzdem werden psychische/psychiatrische Erkrankungen anders eingestuft als vermeintlich klar definierte physische Erkrankungen.

Jede Krankheit ist jedoch individuell, und zugleich ein komplexes und ganzheitlich zu betrachtendes Phänomen. Sie spielt sich in einem Menschen ab, der mit ihr leben muss, und im chronischen Geschehen, oft über Jahre oder Jahrzehnte, mit aufwändigen Therapien und oft auch prekären finanziellen Lagen belastet ist.

Bei den zum Freitod entschiedenen Patienten geht es wesentlich nicht mehr um Therapien, lebensverlängernde Maßnahmen, in vielen Fällen auch nicht (mehr) um palliativmedizinische Angebote, sondern es stellen sich ganz existenzielle Fragen: Wie halte ich diesen Zustand noch weiter aus; wie soll ich es schaffen, den Tag bis zum Abend zu bewältigen usw.; und der Patient weiß seine (oftmals einzige) Antwort, nämlich: dass es unmöglich ist, sich weiter zu quälen, jeden noch folgenden Tag im Schmerz (auch seelischen Schmerz) zu verbringen; und dennoch macht er weiter, jeden einzelnen Tag, weil er sich aus eigener Kraft nicht anders helfen kann.

Ein Leiden ist entweder aushaltbar, beeinflussbar oder unerträglich. Wer entscheidet darüber, wenn nicht der betroffene Patient selbst? Er allein ist es, der in seiner Krankheits-‚Haut‘ steckt. Wie soll ein Außenstehender die Sicht des Patienten einnehmen? Wie ist dies einem Arzt/Neurologen/Psychiater, der den Patienten einmal im Quartal für 10 Minuten sieht, möglich? Wenn der Patient sagt, er liege 30 Stunden am Stück im Bett, verschreibt der behandelnde Nervenarzt gewöhnlich ein weiteres antriebssteigerndes Psychopharmakon. Doch der Patient entwickelt darunter möglicherweise stark beeinträchtigende restless-legs-Beschwerden, oder gar extrapyramidalmotorische Symptome, die irreversibel bestehen bleiben können. Letztere äußern sich in unwillkürlichen Bewegungen der Extremitäten, manchmal auch der Gesichtsmuskeln. Das ist auffällig, stigmatisierend und schambehaftet, so dass sich manche Patienten zwingen, die Unruhe, insbesondere in den Beinen zu unterdrücken. Nicht alle Psychiater erkennen daher diese Nebenwirkung sofort, auch weil der Patient von sich aus nicht darauf hinweist.

Als Psychologische Einzelfallhelferin war es mir möglich, durch die intensive Begleitung des Patienten, sehr direkt seine oftmals latente Lebensmüdigkeit anzusprechen, zu respektieren, zu reflektieren, und somit zu verhindern, dass er seinen Sterbewunsch tatsächlich realisieren musste.

Doch weiß ich, dass jeder Helfer an seine Grenzen gelangen kann, nämlich dann, wenn alle Möglichkeiten ausgeschöpft wurden, und der Patient sich selbst resigniert aufgegeben hat.

Die Patienten kranken u.a. auch an der Gesellschaft, die, so fortschrittlich sie sein mag, mit immer weiterem Wachstum, höherer Geschwindigkeit, undurchschaubarer und kaum noch händelbarer Technisierung das menschliche Gehirn so stark überfordert, dass es quasi ‚zusammenbricht‘. Leistungs- und Erwartungsdruck und, bezogen auf den betrachteten Patientenkreis, bereits einfachste alltägliche Anforderungen, können riesige Stresssituationen bedeuten, unter denen der Patient sich nicht mehr in der Lage sieht, bei allereinfachsten Tätigkeiten zu funktionieren. Er muss Hilfe in Anspruch nehmen, die Scham hervorruft, und von der er selbst am besten weiß, dass sie nichts mehr bewirken kann. Leiden ist in der Leistungsgesellschaft nicht vorgesehen. Jammern und Klagen wird als Selbstbemitleidung abgewertet. Der Patient weiß das. Er will so nicht sein, und trotzdem kann er nicht anders sein. Oder er will überhaupt nicht mehr sein. Es bleibt ihm nur, sich maximal zurückzuziehen. Und auch das wird ihm kaum erlaubt. Denn er muss ja weitermachen, er muss zum Arzt, er muss zu Ämtern, er muss ‚sich zusammenreißen‘, obwohl in der Fachwelt jeder weiß, dass ein ‚Sich-Zusammenreißen‘ eher krankheitsverstärkende Konsequenzen mit sich bringt. Diesem in einer Abwärtsspirale verlaufenden Prozess einen würdigen Endzeitpunkt durch freibestimmtes humanes Sterben mit fachlich kompetenter Unterstützung zu setzen, wird ihm nicht gestattet.

Ich habe meine Patienten, außerhalb psychotischer Episoden, fast ausnahmslos klar, bodenständig, selbstreflektiert, verantwortungsbewusst, im Denken eigenständig, kritikfähig und offen, in einigen Fällen auch intellektuell herausfordernd, und vor allem kompetent erlebt, was ihre eigene Erkrankung, Behandlungsoptionen und ihr pharmakologisches Knowhow betrifft. Ich habe in keinem einzigen Fall beobachtet, dass ein Patient über Monate/Jahre konstant wahnhaft, und daher durchgehend krankheitsbedingt eingeengt im Denken war, selbst wenn die Diagnose „paranoide Schizophrenie“ vorlag. Immer wechselten sich verschiedene Phasen ab, und fast durchgängig war unser gemeinsamer Umgang ein ganz selbstverständlicher, so wie ich ihn mit jedem anderen Menschen auch pflege. Im Laufe der vielen Jahre werden Patienten zum Spezialisten ihrer selbst, zum Experten ihrer eigenen Lebens- und Krankheitsgeschichte. Und oftmals erschien es mir fast absurd, dass ich – als Außenperson – dem noch irgendetwas hinzufügen sollte. Auch ist es für mich klar, dass selbstverständlich z.B. ein paranoid schizophrener oder auch ein dementer Patient, wie alle anderen Menschen, seine Persönlichkeit und damit Würde besitzt, die es zu achten gilt. Denn immer gibt es, außerhalb akuter Krankheitsphasen (bei Demenz die prädemenzielle Zeitspanne), ein immanentes stabiles Selbst, welches zu Selbstbestimmung in der Lage ist, und möglicherweise eben auch, bei klarer geistiger Funktionstätigkeit, ernsthafte (langjährig überlegte) Suizidwünsche äußert, oder im Falle einer Demenz, vielleicht sogar schriftlich vorab festgelegt hat. Ergänzend dazu möchte ich noch anführen, dass ein Erleben im Wahn, in Episoden, über Jahre und Jahrzehnte, höchst leidvoll sein kann, und es einem Außenstehenden nicht zukommen kann, dieses Leiden als weniger wert zu beurteilen (und diesem Menschen das Recht auf den Freitod zu verwehren), als das Leiden eines z.B. an Krebs sterbenden Menschen, welcher dieses Recht eindeutig für sich in Anspruch nehmen darf, obwohl dessen Leiden vielleicht ‚nur‘ 6 Monate angedauert hat.

Auch ist es so, und das deckt sich mit der Erfahrung von Sterbehelfern und Sterbehilfevereinen, dass wirklich sterbewillige Menschen, einen enormen Aufwand für die Recherche betreiben. Wenn dann der Entschluss, Sterbehilfe anzunehmen, mit Bedenken aller Konsequenzen in ihnen zur Reife gelangt ist, wenden sie sich an die Helfer.

Ein anderer Gedanke meinerseits betrifft die Palliativmedizin, welche bisher fast ausschließlich den an zum Tode führenden Krankheiten leidenden Patienten vorbehalten ist. Sie soll einen „Mantel um den Menschen“ legen, damit er weniger leiden muss. Sogar die palliative, und schließlich terminale Sedierung ist in Deutschland legal. Psychiatrisch Kranke, im Verlauf chronisch und therapieresistent, profitieren nicht von einer „Mantel“-Lösung. Sie müssen im Leiden verbleiben, wenn ihnen die freiverantwortliche Urteilsfähigkeit von außen abgesprochen wird. Bekämen sie eine „psychische Schmerzskala“, würden sie vielleicht, von den Stufen 1 bis 10, die Zahl 8 ankreuzen – eine Einordnung, welche jeden Schmerz- und Palliativmediziner bei einem unter chronischen Schmerzen Leidenden Alarm schlagen ließe.

Wir müssen uns fragen, welches Stigma weiterhin auf psychisch kranken Menschen liegt. Wer zieht die Grenze zwischen psychischen Erkrankungen und psychischer Gesundheit? Gibt es überhaupt eine solche Grenze? Psychosomatik und Psychoneuroimmunologie lehren uns, dass es auch zwischen körperlichen und geistigen Erkrankungen keine scharfe Grenze gibt. Schemata, wie sie Diagnosemanuale bieten, sind für die Praxis eine Orientierungshilfe, aber sie erlauben nicht, diagnoseabhängig, Urteile über den Wert des Menschen und seine Freiheitsrechte abzuleiten, und damit eine besonders vulnerable Patientengruppe zu diskriminieren.

Eine Nichtgleichbehandlung psychisch Erkrankter und/oder Behinderter schließt unser Grundgesetz § 3/Abschnitt 3 eindeutig aus. Eine Andersbehandlung, auch in der Suizidhilfe, hätte verheerende Folgen. Es besteht die Gefahr, dass in Zukunft Menschen von Suizidassistenz ausgeschlossen werden, die z.B. jemals eine psychotische Episode hatten, oder über einen längeren Zeitraum Psychopharmaka verordnet bekamen. Abgesehen davon, dass es zum jetzigen Zeitpunkt praktisch so gut wie keine etablierte Suizidpräventionsberatung gibt, werden psychisch Leidende sich möglicherweise nirgends mehr offenbaren, und ehrlich über ihr existenzielles Leiden inklusive ihrer Suizidgedanken sprechen, weil sie befürchten müssen, als ‚nicht-freiverantwortlich‘ erklärt zu werden, so wie sie auch mit einer Einweisung in die Psychiatrie rechnen müssen, wenn sie akute Suizidabsichten äußern. Auch Ärzten würde erschwert sein, sich bereitzuerklären, mit ihrer Kompetenz und den notwendigen Medikamenten psychisch Erkrankten beim Suizid zu helfen, wenn sie Strafermittlungsverfahren befürchten müssen.

Kontroversen in der psychiatrischen Facharztdiskussion

Psychiatrisch Erkrankte können nicht automatisch als nicht-freiverantwortlich eingestuft werden. Das betonen Vertreter der DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V.), gleichzeitig aber grenzt die Fachvereinigung diese Patientengruppe undifferenziert-verallgemeinernd von der Inanspruchnahme eines assistierten Suizids aus, oder will diese mit sehr hohen Hürden belegen.

Es wird – bei psychiatrischen Patienten – wieder im Unterschied zu körperlich Kranken – vorausgesetzt, dass sie alle Therapieoptionen ausgeschöpft haben müssen, um das Recht auf Suizidhilfe gewissermaßen dadurch zu erwerben. Zum einen missachtet man hierbei, dass auch psychiatrisch Erkrankte das Recht haben, Behandlungen abzubrechen und auch abzulehnen (z.B. Elektrokrampftherapie, oder die neueren, eher experimentellen Therapien mit Ketamin oder Psilocybin). Zum anderen wird gesagt, dass ein Patient, der um alle Therapieoptionen weiß, sie aber ausschlägt, und an seinem Suizidwunsch festhält, nicht freiverantwortlich sein könne, weil er starr und eingeengt im Denken, allein auf sein Sterbenwollen fixiert sei. Der dritte Widerspruch besteht darin, dass ein Festhalten am Suizidwunsch pathologisch bedingt sei, obwohl gerade Dauerhaftigkeit und innere Festigkeit zwei entscheidende Kriterien der Freiverantwortlichkeit sind. Und noch ein vierter Gedanke: Hat ein Patient schon mehrere Suizidversuche hinter sich, dann sollte man davon ausgehen, dass ein erneutes Suizidbegehren ein sehr ernstzunehmendes Signal ist.

Aus meinen zahlreichen Gesprächen mit meinen Patienten kann ich sicher sagen, dass mit einem vereinfachten Zugang zu einer humanen Lösung der Suizidassistenz zumindest einige harte Suizide, die sie sich oft genug ausgemalt haben, vermieden werden könnten. Dass in Statistiken vorgewiesen wird, dass die Zahl der einsamen und oft auch gewaltsamen Suizide, in Ländern, in denen Suizidassistenz legalisiert wurde, nicht zurückgeht, mag u.a. daran liegen, dass auch dort die Hürden für psychisch/psychiatrisch Kranke so hoch gesetzt sind, dass es den Betroffenen unmöglich ist, einen human begleiteten Freitod zu erhalten. Es erscheint rätselhaft, wie man etwas als „statistisch untermauert“ deklarieren kann, was in der Praxis bisher – auch in der Schweiz und den Benelux-Staaten – nicht klar durch scharf differenzierende ursachenbezogene Studien belegt wurde. Hört man den Betroffenen offen und nicht wertend zu, erfährt man, welch grausame Methoden sie erwägen, die sie als ‚sicherste‘ Lösung für sich ansehen. Gerade psychiatrisch belastete Patienten wissen nicht, an wen sie sich wenden können. Es gab und gibt für psychisch Kranke keinen anderen Ausweg, wenn der Sterbewunsch nicht mehr volatil, sondern ab einem bestimmten Punkt manifest geworden ist.

Zwei Fallbeispiele

Aktuell laufen strafrechtliche Verfahren mit drohenden mehrjährigen Gefängnisstrafen gegen zwei in der Suizidhilfe in Deutschland bekannte Ärzte: Den Psychiater und Neurologen Dr. Johann Friedrich Spittler, und den Allgemeinmediziner und Internisten Dr. Christoph Turowski.

Da es keine definierte Basis gibt, auf die man sich zur Feststellung der Freiverantwortlichkeit beziehen könnte, kann man sowohl Spittler, dessen Revisionsverfahren, nach Verurteilung in erster Instanz, beantragt ist, als auch Turowski, dessen Urteil heute, am 08.04.2024, erwartet wird, im Grunde nicht in die Verantwortung nehmen, gegen das Rechtskonstrukt der Freiverantwortlichkeit bei den von ihnen in den Tod begleiteten Suizidwilligen verstoßen zu haben.

Ich setze die Vorgeschichten hier voraus:

Der Patient Oliver H. (im ersten Fall) wurde zum Zeitpunkt der ausführlichen Untersuchung und Begutachtung sowie zum Zeitpunkt der Suizidbegleitung als voll freiverantwortlich von Spittler begutachtet. Ein – nach seinem Tode – bestellter forensischer Gutachter bescheinigte jedoch dem Patienten (zu beiden Zeitpunkten) einen akuten manifesten Wahn, allein aus dem Vorliegen der Krankenakten, welche auch – wiederum nicht zum Zeitpunkt der durch Spittler vorgenommenen Begutachtung – erstellt worden waren. Ich hebe weiter unten noch einmal hervor, welch enorme Bedeutung die persönliche Beziehungsaufnahme, das direkte Erleben des Patienten in der Vier-Augen-Situation hat. Hinzu kommt in diesem Fall die Akzeptanz der Mutter des Oliver H., die, sicher schweren Herzens, aber in vollem Bewusstsein die Entscheidung ihres Sohnes akzeptierte, und bei der Suizidbegleitung auch zugegen war.

Ein weiteres eindrückliches Beispiel ist der Fall der Patientin Isabell R., einer depressiven, aber offensichtlich hochfunktionalen Frau, die imstande war, sowohl ihre Freunde als auch die psychiatrischen Fachärzte (in der Klinik!) ganz bewusst zu täuschen, um ihren akribisch geplanten zweiten Suizidversuch, diesmal nicht scheiternd, in die Tat umsetzen zu können. Hochfunktionalität bedeutet eben gerade nicht, dass sich die Patientin nach außen depressiv zeigt, sondern – im Gegenteil – lebenszugewandt und zuversichtlich. Frau R. blieb bis zuletzt gesellschafts- und funktionsfähig, aber eben unter einem enormen (letzten) Kraftaufwand. Hätte Turowski ihr nicht geholfen, hätte sie sich erhängt, was sie ihm glaubhaft versicherte. Gerade dass sie noch von Zukunftsplänen sprach und gegenüber Freunden und Ärzten äußerte, keine akuten Suizidgedanken mehr zu haben, zeugt von ihrer frei-willensfähigen Entscheidungsmacht, denn sie war gezwungen, klug abzuwägen, wie sie sich verhalten muss, um aus der Klinik wieder entlassen werden zu können, was ihr letztlich ermöglichte, ihren Suizidwunsch zu realisieren.

Lösungsansätze

Es ist mir ein besonderes Anliegen, die Zahl der harten grausamen Suizide (endlich!) zu verringern. Der wichtigste Punkt dabei ist und bleibt die Suizidprävention! Ohne Leuchtschriftwerbung für den Suizid zu machen, müssten aber die Möglichkeiten humaner Suizidbegleitung offiziell bekannt gemacht werden und potentielle Helfer bekannt sein. So wie die Kontaktdaten der Telefonseelsorge oder der Krisenintervention überall erscheinen, sollte auch der Zugang zu niedrigschwelligen, nicht-obligatorischen und ergebnisoffenen Suizidpräventionsberatungsstellen für die Öffentlichkeit leicht auffindbar sein.

Die klare Grenzziehung zur „Tötung auf Verlangen“ („aktive Sterbehilfe“) bleibt unbestritten. Einer aus meiner Sicht irrationalen Angst vor einem „Dammbruch“ in eine solche Richtung kann man mit dem klaren Festhalten am § 216 Strafgesetzbuch begegnen, auch wenn man sich auf Diskussionen über die „aktive Sterbehilfe“ einstellen muss.

Nach dem derzeitigen methodologischen Stand ist das Kriterium der „Freiverantwortlichkeit“ nicht objektivierbar, was es notwendig macht, der Bedeutung der subjektiven Komponente des zur Selbstbestimmung fähigen Menschen stärkere Beachtung zukommen zu lassen. Das bedarf insbesondere, dass man als „Dritter“ von der eigenen Positionierung, seinem eigenen Bewertungssystem absieht und sich ganz auf den Betroffenen einlässt und ihn in seinem Leidensdruck, vielleicht auch Lebensüberdruss, zu verstehen versucht. Es gibt aus meiner Sicht nur den Weg über die persönliche Beziehungsaufnahme, das bedingungslose Sich-Hineinversetzen in die Situation des Patienten. Ärzte, Kranken- und Pflegepersonal, Psychologen, Psychotherapeuten, und alle weiteren (auch im sozialen Bereich tätigen) Helfer, auch der Gesetzgeber, sind aufgefordert, von ihrer äußeren Sicht zu einer auf Augenhöhe mit dem Patienten geführten Beziehung zu gelangen.

Vielleicht müssen wir auch akzeptieren, dass wir niemals genau wissen können, wie es in dem betreffenden Patienten wirklich aussieht. Ist die Willensäußerung zur Beendigung des Lebens in der Tat dauerhaft, innerlich gefestigt, mit allen Konsequenzen bedacht, und frei von äußerer Einflussnahme, muss der Wille des Patienten (auch eine im psychiatrischen Kontext – subjektiv – begründete Therapieablehnung) respektiert werden.

Vereinfachen ließe sich die Feststellung der im genannten Sinne gefassten freien Willensäußerung zum Beispiel durch einen Zusatz, welchen der Betroffene in seiner Patientenverfügung festlegt: eine konkret formulierte Vorstellung, wie er, unter den von ihm selbst angegebenen Bedingungen, sein Lebensende gestalten will. Würde ein solcher Zusatz in der Patientenverfügung z.B. alle drei Jahre von ihm unter Beisein eines Dritten und dessen Bezeugung des „klaren Verstandes“ des Betroffenen aktualisiert, wären fast alle der genannten Kriterien zur Freiverantwortlichkeit, die das BVerfG im Urteil vom Februar 2020 fordert, auch bezogen auf eine später eintretende demenzielle Erkrankung, erfüllt.

Damit wäre automatisch auch eine „Wartezeit“, speziell bei psychisch/psychiatrischen Krankheiten, zugrunde gelegt, wenn die klassische Patientenverfügung (oder ihre letzte Aktualisierung) bzw. eine spezielle Freitodverfügung beispielsweise mindestens 3 Monate vor dem beabsichtigten Suizid verfasst wurde.

In diesem hier vorgestellten Vorschlag wäre ein Schutz vor Affekthandlung und Missbrauch – und damit ein Lebensschutz – gesetzt. Jeder kann aktiv entscheiden, ob er überhaupt eine Patientenverfügung verfasst und einen solchen Zusatz anbringt. Er muss sich selbstaktiv über einen längeren Zeitraum mit der Thematik auseinandersetzen, und kann – im Gegenzug – damit rechnen, am Ende seines Lebens nicht mit seinem eventuellen Sterbewunsch alleingelassen zu werden. Ich halte das für eine weitaus größere Absicherung als alle Bemühungen, einen eindeutig definierten Freiverantwortlichkeitsbegriff zu finden.

Und selbstverständlich würde weiterhin während des Verfahrens der Patient mehrfach befragt, ob er noch immer und konsequent wünscht, dass er sein Leben, durch diese eine letzte Aktion, die er selbst ausführt, beenden möchte.

Bis eine für alle Beteiligten sichere Regelung gefunden ist (wobei ich die Frage in den Raum stellen möchte, ob eine solche tatsächlich wirklich notwendig ist), genügt es meines Erachtens, dass bei psychiatrischen Erkrankungen ein Facharzt für Psychiatrie/Neurologie – in persönlicher Begegnung mit dem Suizidenten – das zum Zeitpunkt der Begutachtung und zum Zeitpunkt des Vollzugs akute psychische Geschehen fachkompetent einschätzt, und zwar: ob ein das Denken beeinträchtigender Wahn oder eine spontan-impulsive Affekthandlung vorliegt oder nicht.

Zwei weitere wesentliche Aspekte betreffen die möglichst einheitliche Regelung der Landesärztekammern, sowie die vereinfachte Bereitstellung der Medikamente, speziell von Natrium-Pentobarbital, damit eine humane und vor allem straffreie Begleitung zum Freitod stattfinden kann.

Nicht zuletzt sollte jeder der Beteiligten sich fragen, wie er selbst mit einer schweren Erkrankung umgehen würde. Viele Ärzte, auch Palliativmediziner, beantworten diese Frage für sich selbst schweigend oder in großer Gelassenheit, weil sie naturgemäß über die Kenntnis und nötigen Mittel verfügen, um sich im Notfall selbst helfen zu können. Sie befinden sich damit in einer privilegierten Situation im Vergleich zur breiten Bevölkerung, und bedienen damit ein Recht, welches sie sich zwar selbst zugestehen, aber sehr vielen verzweifelten Menschen leider nicht.

Jedwede äußere Beurteilung birgt die Gefahr von Abwertung Andersdenkender/Andersfühlender/Anderslebender; und dies steht im Widerspruch zur Wahrung der Menschenwürde im Sinne unserer Verfassung. Der bei allem primär maßgebliche Gesichtspunkt der Würde des Menschen darf niemals einer Hierarchisierung oder Werteeinstufung, z.B. bezüglich einer Gewichtung zwischen körperlichen und psychischen/psychiatrischen Erkrankungen, unterliegen.

„Freiverantwortlichkeit“ – so sehe ich mein persönliches Fazit – kann daher nicht das alles-entscheidende Kriterium sein. Ausdrücklich möchte ich noch einmal die Wichtigkeit folgender Aspekte betonen:

  • Leidensintensität (Unerträglichkeit/Unaushaltbarkeit)
  • Schmerzqualität (psychisch/physisch)
  • Lebensbeeinträchtigung/Ausmaß der Behinderungen
  • Leidensdauer
  • die eigene Einschätzung des Patienten, was für ihn persönlich ein lebenswertes Leben ausmacht
  • Lebensmüdigkeit/Bilanz
  • Stärke, Sicherheit und Dauerhaftigkeit des Sterbewunsches
  • Überlegtheit und Verständnis aller Konsequenzen

Ich halte es für geboten, einen Perspektivwechsel anzustreben, welcher die Innensicht des Sterbewilligen vorrangig beachtet, und sich von der alleinigen Bewertung durch einen oder mehrere Dritte abkehrt. Eine so verstandene, dann stärker liberalisierte Sterbehilfe, die der Würde jedes Menschen gerecht wird, führte weg von paternalistischem Denken, hin zu einem ideologiefreien, humanen Weltbild.

Dies beziehe ich auf jeden Menschen, unabhängig von Alter und Art der Krankheit, aber ausdrücklich auch auf Patienten mit psychisch/psychiatrischen Erkrankungen. Sie sind keine Menschen zweiter Klasse, denen man ein eigenes Urteil über ihr eigenes Leben und Sterben absprechen kann.

Dr. phil. Elke Lemke ist Diplom-Psychologin.

Dieser Beitrag ist auch als zitierfähiges PDF verfügbar.

Immer auf dem Laufenden bleiben? UNSER NEWSLETTER

Ein Kommentar

  1. Ich teile nicht jeden Satz in diesem Artikel. Und doch ist er der bislang beste Artikel, den ich zu dem Thema gelesen habe (und das waren einige)!

    Als Amicus Curie-Stellungnahme für den BGH und das BVerfG unverzichtbar!

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert


The reCAPTCHA verification period has expired. Please reload the page.